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Sechstes Kapitel

Fritz Kleesand kam zu Hause glimpflich davon. Es waren viele Gäste in der Schenkstube, und man hatte nicht Zeit für ihn, nahm es auch nicht so tragisch. Er sollte sich ja bald noch mehr auf dem Wasser versuchen. Anton aber hatte das Glück, daß seine Mutter grade beim Krämer Behrens war. Und da war am Sonnabendabend der Laden immer voll, und man mußte lange warten, tats auch gern, denn es gab immer etwas zu klönen. Was gab es da für Geschichten. Die meisten wußte immer die Cyriaks. So hatte Anton nur mit Lene Lerch zu tun, die freilich Augen machte, als sie den nassen Jungen sah.

»Sag nichts,« beschwor er sie. »Mutter braucht' es gar nicht erst zu wissen.«

»Das muß ich aber doch,« meinte sie.

»Dann verhau ich dich, Deern, daß du nicht mehr grade stehen kannst.«

Diese Drohung wirkte. Lene Lerch fürchtete seine Fäuste, obgleich sie einen Kopf größer war als er. So steckte sie Antons nasses Zeug weg und gedachte es heimlich zum Trocknen aufzuhängen. Aber Mutter Krautsch hatte die Geschichte schon beim Krämer erfahren. Die Befriedigung über den glücklichen Ausgang war größer als ihr Zorn. Sie schalt, aber ihre Vorwürfe waren zärtlich. »Ins Wasser fallen kann jeder mal,« erklärte Anton.

Hugo Winsemann hatte mehr Sorge um den Schreck gehabt, den er seiner Mutter einflößen würde, als Furcht vor Schelte oder Strafe. Es hätte dann sein müssen, daß sein Vater grade etwas angetrunken wäre, was in der letzten Zeit ja manchmal vorgekommen war, besonders am Wochenschluß. Und heute war ja Sonnabend.

Zitternd und frierend schlich er die halbdunkle Treppe hinauf und wunderte sich, die Etagentür zur Wohnung nicht einmal fest ins Schloß gedrückt zu finden. Er hörte Frau Maus Stimme im Wohnzimmer und stand still und horchte. Und jetzt weinte seine Mutter.

Arno Winsemann war bei Kleesands vor die Tür gesetzt worden. Nicht unsanft, aber Herr Kleesand hatte ihn doch eigenhändig am Arm hinausgeleitet. Der Rum hatte Arno Winsemann wieder begeistert, und er war den Gästen mit seinen hochtrabenden Reden lästig geworden. Erst hatten sie ihren Jux daran gehabt, wie gewöhnlich, als er von seinem verkannten Genie faselte. »Das Schicksal, meine Herren, das Schicksal. Es zermalmt die Edlen und hebt die Lumpe auf seine Schulter.«

»Dat sünd wi woll? Wat?« grinste Hein Türk. »De Rumbuddel is all manchen sin Schicksal wesen.«

Auf solche Reden hin konnte Arno Winsemann sich als beleidigten Apoll aufspielen, und dann nahm Herr Kleesand ihn sachte am Arm und brachte ihn vor die Tür, bevor es zum Streit kam.

Heute hatte Arno Winsemann ein Glas mehr als sonst genossen.

»He is all ümmer n beten rumsüchtig wesen,« stichelte Käpt'n Schellhaas vom Schlepper Neptun. »Und dat kann ok n erhabenen Geist mal von de Föt bringen.«

Der erhabene Geist aber war im Rausch rücklings die Treppe zu seiner Wohnung heruntergefallen und lag nun mit zerschlagenem Kopf auf seinem harten Bett.

Das war Hugo Winsemanns Empfang zu Hause, als er naß aus der Elbe kam, zitternd am ganzen Körper und innerlich zerschlagen von den Kränkungen, die er seines Vaters wegen erlitten hatte. Er schämte sich seines Vaters. Aber die Angst um ihn gewann doch die Oberhand, und als er seine Mutter weinen sah, brach auch sein ganzer Jammer, seine Wut und Scham in einen Strom von Tränen aus.

Frau Mau brachte ihn zu Bett, beruhigte die ganz verzagte Mutter und kochte ihm Kamillentee. Aber er fing an zu fiebern, wurde sehr krank, und als er außer Gefahr war, lag Arno Winsemann schon draußen in Ohlsdorf.

Das waren schwere Wochen für Hugos Mutter gewesen. Aber sie fand viel Freundschaft. Frau Mau mit ihrem harten Gesicht und ihrem ständigen Chlorgeruch hatte wenig tröstende Worte, aber zwei schnell zugreifende Hände. Mutter Krautsch und Kleesands zeigten ihre Freude, daß ihre eignen Jungen so gut davongekommen waren, auch durch die Tat. Anton brachte Apfelsinen für Hugo, und Kleesands schickten eine Flasche alten Portwein zur Stärkung, der freilich mehr für einen gesunden Magen war.

Fritz Kleesand war inzwischen mit der »Alaska« in See gegangen. Anton brachte noch einen Gruß von ihm, den Hugo ohne Dank entgegennahm. Nur eine tiefe Röte überflog sein blasses Gesicht, und Anton merkte, daß er ihm mit der Erinnerung an Fritz Kleesand weh getan hatte. So sprach er nicht mehr von ihm, obgleich er noch so vieles von dessen Abreise gerne erzählt hätte; wie er immer nur gelacht, als seine Mutter geweint, und wie wichtig er sich den Tag vorher gemacht, und daß er seinem Vater zuletzt noch eine ganze Hand voll Zigarren aus der besten Kiste stiebitzt hatte. Aber Anton behielt alles das bei sich, weil sein feines Empfinden die Schamröte, die auf dem blassen Gesicht des Kranken aufflammte, mitbrennen fühlte.

Auch die Cyriaks war gekommen und hatte gegen den alten Husten ein geschlagenes Eigelb mit Zucker und Provenceröl angeraten, oder warmen Honig. Und dann hatte sie die Stellung des Bettes gemißbilligt. »Man braucht es ja nicht zu glauben, aber so mit dem Fußende nach der Tür zu – besser ist besser. Das bedeutet n Toten, sagt man. Dann wird man bald da hinaus getragen.«

»Man sagt es ja,« hatte Frau Mau beigepflichtet. »Aber das wird sich wohl gleichbleiben. Bei meinem Willi stand es mit dem Kopfende nach der Tür und er hat auch hinaus gemußt. Lassen Sie das Bett man ruhig so stehn.«

Und es blieb auch so stehn.

Mariechen Mau kam täglich nach Schulschluß, half Frau Winsemann etwas, saß an Hugos Bett und las ihm vor. Sie hatte eine helle Stimme und las mit sehr scharfer Betonung und deutlicher Aussprache jeder Silbe. Hugo hörte sie gerne lesen. Sie saß am Fußende seines Bettes, und er konnte sie unausgesetzt ansehen. Sie war jetzt zehn Jahre alt, mit der rechten Größe für ihr Alter, blond, mit flinken, blauen Augen und einer niedlichen kleinen Stülpnase. Sie war so ganz anders als die Mutter. Nur die hohe, helle Stimme und die schmalen Lippen hatte sie von der.

Wenn Hugo in die Stille seines Krankenzimmers von der Straße herauf diese helle Stimme hörte, wie sie mit anderen Kindern zusammen an warmen lauen Abenden

»Sonne, Mond und Sterne,
ich geh mit meiner Laterne«

sang – ach wie gern wäre er dabei – oder ein lauter Abzählreim von unten heraufklang:

Ele mele mu,
ich und du«

und zuletzt in einem allgemeinen Kreischen unterging, aus dem doch ihre Stimme über alle heraufflog wie eine schmetternde Lerche, dann freute er sich auf die Stunde des nächsten Tages, wo sie wiederkommen und ihm vorlesen würde. Sie las, was ihr von Hugos Büchern in die Finger kam, alles mit demselben Eifer und derselben Korrektheit, fragte alle Augenblicke: noch mehr? und las dann geduldig weiter.

Die Geschichte von der unheimlichen Mühle und den sieben vergifteten Broten hatte sie beendet und begann jetzt Schillers Gedichte zu lesen, von vorne an, der Reihe nach. Sie las gerade in ihrer kindlichen Weise:

»Träum ich? Ist mein Auge trübe?
Nebelts mir ums Angesicht?
Meine Minna geht vorüber?
Meine Minna kennt mich nicht?«

als die Mutter Herrn Heinrich ins Zimmer führte. Der Lehrer war schon ein paarmal gekommen, um sich nach dem Befinden seines Schülers zu erkundigen, aber nie um diese Lesestunde. Er gab Mariechen freundlich die Hand und warf einen Blick ins Buch. Ein leises Lächeln ging über sein Gesicht, und seine gütigen Augen sahen die Kinder abwechselnd fragend an, als wollten sie sagen: na, davon habt ihr wohl nicht allzuviel verstanden. Er hütete sich aber wohl, etwas zu sagen, was die Kleinen irre machen oder verletzen konnte.

»Junge, mach, daß du wieder herauskommst,« sagte er zu Hugo. »In vier Wochen machen wir unsere Tour in die Heide, die ganze Klasse. Da darfst du nicht fehlen.«

Er setzte sich auf den Rand des Bettes und sprach freundlich und vertraulich mit dem Jungen.

»Machen dir denn die Geschichten Spaß, die deine kleine Freundin dir vorliest?«

»O ja!« und seine Augen leuchteten.

»Und was war denn das Schönste?«

Der Junge besann sich. »Ich weiß nicht,« sagte er. »Ich höre alles gern.«

Der Lehrer lächelte. »Ich will dir mal etwas schicken. Das laß du dir vorlesen, wenn du noch nicht selbst lesen darfst. Aber nicht zu viel auf einmal lesen und überdenke, was du gelesen hast, sonst macht das viele Lesen nur dumm,« sagte er zögernd, denn es fiel ihm ein, wie strafbar viel er selbst als Junge gelesen hatte.

Hugo wurde rot. Dumm wollte er nicht werden. Vielleicht war er es schon? Schien es dem Herrn Lehrer schon zu sein? Sein Ehrgeiz und seine Eitelkeit fühlten einen Stachel. Ja, er wollte nur lesen, was Herr Heinrich ihm schickte. Alles gründlich. Mariechen sollte alles zweimal lesen.

Herr Heinrich hielt Wort, aber es waren keine Dichterwerke, sondern Reisebeschreibungen. Herr Heinrich mochte nichts Gefährliches in der Seele dieses träumenden Jungen wecken wollen. Und so führte Mariechen Maus silbenzählendes Lesen ihn in die Täler und auf die Gipfel der Alpen, in die Schneefelder Sibiriens, oder erzählte ihm von den Mühen und Abenteuern alter Länderentdecker. Und Hugos Wangen glühten höher bei einem Kampf mit den Wölfen der Steppe, als wenn Schillers »Laura, itzt zur Statue entgeistert« am Klavier saß. Mariechen Mau aber las alles mit derselben Andacht und demselben gleichförmigen Tonfall.

Auch der Mutter lieh Herr Heinrich, als er sah, daß sie ohne männliche Stütze war, in den ersten schweren Tagen seinen Beistand. Er hatte wegen der Beerdigung und was es sonst an Laufereien gab, die nötigen Wege für sie gemacht. Dafür hatte die gänzlich niedergeschlagene und sonst so verschüchterte Frau ihm mit offenem Vertrauen gelohnt und ihm ihr Herz ausgeschüttet, ihm von ihren Nöten und Hoffnungen gesprochen. Sie hatte ihre Schubladen geöffnet und ihm einen Einblick in die Hinterlassenschaft ihres Mannes gestattet. Vor allem hatte sie ihm ein Bündel Manuskripte gegeben, mit der Bitte, sie zu prüfen, ob wohl einiges Brauchbares darunter sei. Das wäre ja doch wohl eigentlich sein ganzes Unglück gewesen, dieses alte dumme Dichten. Aber sie verstünde ja nichts davon. Und wenn sie dächte, daß sie ihm vielleicht im Grabe noch unrecht täte, lieber sollte doch Herr Heinrich mal die Sachen durchsehen, ob wirklich nichts daran wäre. Und sie ließ auch durchblicken, daß sie sich andernfalls törichte Hoffnungen mache, noch einiges Kapital da herauszuschlagen.

Herr Heinrich, der den früheren Kollegen selbst als einen zerfahrenen, überspannten, haltlosen Menschen erkannt hatte, versprach sich nicht viel von dieser Prüfung, und war nicht verwundert, daß die teils vergilbten und fleckigen Blätter nichts weiter enthielten, als eine Menge öder, hochtrabender, nachempfundener Reimereien. Nur eines hob sich aus den anderen heraus und ging ihm nah:

»Was ringst du nach den Lorbeern noch
Und ringst dich müd und matt.
Die Kränze sind für andre da,
Für dich grünt kaum ein Blatt.
Dein Stückchen Brot, das hast du ja,
Sei still und iß dich satt.«

Er nahm das Blatt an sich und gab es Frau Winsemann, damit sie es zurücklege und vielleicht einstmals ihrem Sohn als ein Andenken an seinen Vater gäbe. Die anderen Verse aber riet er ihr, ins Feuer zu stecken.

So geschah es. Und Arno Winsemanns Gedichte verbreiteten auf einen Augenblick noch einen trügerischen Schein von Glanz und Wärme um seine weinende Frau.


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