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Neuntes Kapitel

So fing nun die Liebe wieder an, ihre Angelruten auszulegen und die geköderten Fischlein zu ihrer Freude und Unterhaltung zappeln zu lassen. Hugo Winsemann hing ja schon lange an ihrer Schnur, fühlte sich aber ganz wohl in dem neuen Element und plätscherte lustig darin herum, obwohl die schadenfrohe Liebe dann und wann die Schnur ein wenig anzog und ihn ihre Widerhaken spüren ließ. Schmerzlich war das schon. Aber die gefangenen Fischlein der Liebe wissen ja auch hieraus eine besondere Wonne herauszukosten.

Nun hatte auch Anton seinen Haken verschluckt und zappelte unter wohligen Schmerzen am Schnürchen. Er schwamm bisher in einem stillen Gewässer gleichmütig umher, jetzt fühlte er sich von einer unsichtbaren Macht gezogen, die ihm einigen Spielraum ließ, aber ihn von Zeit zu Zeit mit einem Ruck immer wieder an dieselbe Stelle zurückriß.

Anders saß Lene Lerch am Haken. Sie hatte heftig nach dem Köder geschnappt und der Haken saß tief und fest. Auch war die Zeit eines ersten wohligen Wehgefühls längst bei ihr vorüber. Sie hatte große Schmerzen zu erdulden, und unter ihrem heftigen Zerren riß die Schnur. Der Liebe entfloh ein Fischlein. Aber die Liebe sagte: Schwimm nur hin, meinen Haken hast du im Leibe, du kennst mich jetzt.

Mariechen Mau schwamm noch um den Köder herum, beschnupperte ihn und wußte nicht recht, ob sie zuschnappen sollte. Er lockte sie wohl und bewog sie, sich von jenem anderen Köder, der ihr nun schon solange vorgehalten wurde, noch energischer abzuwenden.

Hugos Liebeswerben hatte ihn keinen Schritt weiter gebracht, aber dennoch gab er die Hoffnung nicht auf. Er machte Verse und überwand sich, sie Mariechen in die Hand zu spielen. Erst mit dem Schein der Unabsichtlichkeit, dann so, daß sie es merkte, als direkte Werbung. Aber Mariechen war trotz der Leseabende eine prosaische Natur geblieben, der mit Schwärmerei und Überschwang nicht beizukommen war. Doch war sie eine prosaische Natur nur im Gegensatz zu dem poetischen Hugo, in Wirklichkeit hatte sie Gemüt genug, das Leben nicht nur verstandesgemäß und berechnend zu nehmen. Sie genoß mit Bewußtsein den Frieden und die Harmonie des beschränkten Lebens, das sie mit ihrer alten Mutter führte, und war bedacht, der kleinen Wohnung eine anheimelnde Sauberkeit und Ordnung und einen gelegentlichen Schmuck von Blumen und Handarbeiten zu verleihen. Und wenn sie fleißig ihr Bügeleisen führte, war es nicht nur die Freude am Verdienen, sondern auch die Genugtuung, ein gutes sauberes Stück Arbeit zur Zufriedenheit der Kunden geleistet zu haben. Auch war sie wohl liebebedürftig und liebehegend, doch war es eben nicht Hugo, dem sie mehr als ein geschwisterliches Teil von ihrem Herzen zuwenden konnte, und was das Empfangen anbetraf, so war sie ganz ohne Eitelkeit, so daß ihr eine Liebe, die sie nicht in gleicher Weise erwidern konnte, nur lästig und keineswegs unterhaltend und schmeichelhaft war.

Eine besondere Zuneigung hatte sie für Christian gefaßt. Hier spielte aber das Mitleid mit, das sie mit dem Schwindsüchtigen empfand, wofür er ihr schon lange galt. Gleich am ersten Leseabend war er ihr durch seine stillere, feinere Art sympathisch geworden. Und es war, ihr nicht entgangen, daß der arme Junge ihre fürsorgliche Aufmerksamkeit mit mehr als bloßer Dankbarkeit belohnte, aber sie merkte auch, daß er seine stille Neigung zu beherrschen suchte. Freilich deutete sie diese Resignation falsch, wenn sie meinte, Christian wisse um seine Krankheit und verzichte auf ein Glück, das nur für Gesunde reife und schöne Früchte tragen könnte.

Wenn Christian, der wirklich eine sanfte Neigung für Mariechen im Herzen trug, diese scheu verschloß, so war es das Gefühl seiner äußeren Mängel, seines Hinkens und seiner hohen Schulter, was ihm jeden Gedanken an ein Liebesglück als töricht empfinden ließ. Er hatte wohl gehört und gelesen, daß Frauen an der Häßlichkeit ihres Erwählten oft keinen Anstoß nehmen, anders wie die Männer, denen die wenigstens vermeintliche Wohlgestalt der Geliebten ein Bedürfnis ist. Aber ein häßliches Gesicht wog leicht gegen seine körperlichen Mängel. Welches Mädchen würde mit einem hinkenden und buckligen Bräutigam sich zeigen wollen.

Hätte er gewußt, daß Mariechen sich manchmal die Frage vorgelegt, ob sie ihn, dessen zarte und kindliche Gefühle ihr so lieb waren, trotz seines Leibes würde heiraten können, und daß sie die Frage mit einem tapferen Ja zu seinen Gunsten entschieden hätte, so wäre ein unendliches Glücksgefühl in das verbaute Gehäuse seiner zarten Seele eingezogen und hätte ihn von seiner schmerzlichen Verachtung dieser seiner armseligen Wohnung befreit. Aber Mariechens Ja hatte noch ein Wenn. »Ja, das alles würde dich nicht stören,« sagte sie sich, »wenn du ihn eben so liebtest, auf die rechte Weise. Aber du bist ihm eben nur herzlich gut,« und so konnte sie von diesem Ja nichts verlauten lassen. Ach, selbst mit diesem Wenn hätte es Christian sehr glücklich gemacht.

Jetzt, nach der Domwanderung, legte sich Mariechen auch diese Frage nicht mehr vor. Denn neben Hugos und Christians Bild stand jetzt Antons oft vor ihren Augen und nahm einen breiten Platz ein. Und wenn sie einmal wieder wie damals in der Stille ihres Kämmerleins die Arme dehnte und den Kopf voll heißer Gedanken in die Kissen oder ihre feinen Lippen leidenschaftlich auf die weiche Fülle ihres runden Armes drückte, zogen ihre Wünsche und Sehnsüchte nach etwas Starkem und Stolzem, dem sie sich so recht anvertrauen konnte, und nicht nach etwas Schwachem und Zartem, das sie wie ein Kind seine Puppe zu hegen und zu pflegen hätte.

Und doch, im tiefsten Grund war es auch wieder das. Ihr junger Körper war schon seit ein paar Jahren reif zur Mutterschaft, und es war vielleicht ihre fürsorgliche und zärtliche Freundschaft für Christian schon mütterlich.

Nun war noch zum Jahreswechsel eine Glückwunschkarte von Anton aus Kiel eingetroffen, eine schlichte Karte ohne jedes Bild, das zu einer Deutung herausgefordert hatte, wenn man nicht der Farbe, einem blassen Rosa, Bedeutung beilegen wollte. »Herzliche Glückwünsche zum neuen Jahr.« Weiter stand nichts darauf. Der Golddruck hob sich hübsch von dem rosa Karton ab. Natürlich hatte Anton seinen Namen hinzugefügt: Anton Krautsch, II. Werftdivision Kiel.

Aber auch Hugo hatte eine Karte von ihm bekommen, freilich nur eine weiße. Mariechen konnte ihm aber doch aufgeben, in ihrem Namen mit zu danken. Das war Hugo gerade recht, denn er hatte das Nelkensträußchen noch nicht vergessen, und die rosa Farbe von Mariechens Karte gefiel ihm auch nicht. Sollte diese Karte ein Annäherungsversuch von Antons Seite sein, so würde er den Wink schon verstehen, den sie ihm gab, indem sie nicht selbst dankte.

Ach, er ahnte nicht, daß diese kleine Unterlassungssünde – wenigstens empfand die Schuldige es als solche – Mariechens Gedanken nur noch mehr auf Anton lenkte.

»Was wird er von dir denken?« sagte sie sich. »Er wird denken, daß er dir nicht gefallen hat, und das ist doch nicht der Fall. Du hast seine Nelken noch immer unter deinem bißchen Erinnerungskram im Kasten liegen. Und so denkt er falsch von dir.«

Aber solche Gedanken dachte sie nicht völlig zu Ende. Sie brach manchmal mit einem hellen Auflachen ab und ließ das Klare in einem unklaren Nebel vager Empfindungen und Träumereien untergehen.

Da kam eines Tages, es war schon heiterster Frühling geworden, ein recht dickleibiger Brief aus Kiel, dessen Adresse eine unbekannte Handschrift zeigte, über deren Urheber sie aber doch keinen Augenblick im Zweifel war. Hatte sie doch in Kiel keine weitere Bekanntschaft.

Daß man einen Brief mit solchem Herzklopfen empfangen konnte, hatte sie bisher nicht für möglich gehalten. Anrede und Unterschrift mit einem hastigen Blick vorwegnehmend, konnte sie sich zu einem weiteren Lesen aus Furcht, dabei überrascht zu werden, nicht gleich entschließen. Das Glück hatte gewollt, daß sie allein zu Hause war, als der Briefträger, ein seltener Gast bei ihnen, den Brief durch die Türspalte schob. Aber die Mutter war nur auf Einkauf in der Nachbarschaft und konnte jeden Augenblick zurückkommen. So schob sie den Brief in die Tasche und hob die Lektüre für die Einsamkeit ihrer nächtlichen Schlafkammer auf, wo sie dann beim Schein der Küchenlampe, auf dem Bettrand sitzend, mit brennenden Backen Antons große Schriftzüge entzifferte.

Liebes Fräulein Mau!

Da Sie mich auf meine Neujahrskarte durch Hugo haben wiedergrüßen lassen, worüber ich mir sehr erfreut habe, kann ich es nicht unterlassen, Ihnen von meinem Befinden und wie es mir sonst geht, Mitteilung zu machen. Es interessiert Ihnen gewiß, zu erfahren, daß ich nächstens mit S. M. S. Hertha eine große Reise antrete in die chinesischen Gewässer, worauf ich mich natürlich sehr freue und auch mal was Interessantes zu sehen kriege. Wir haben hier einen strammen Dienst, aber wenn man seine Pflicht tut, passiert einem nichts, und es ist woll schön, wenn man sich sagen kann: Du tust deine Pflicht und bist gut angeschrieben.

Meine Mutter wird es ja nu woll betrüben, daß ich so weit weg gehe, aber wenn Sie sie mal sehen, trösten Sie sie man recht und daß ich bald wiederkäme.

Warum ich Ihnen das alles schreibe, kommt mir selbst komisch vor, aber wenn Sie mich nicht hätten grüßen lassen, hätte ich es auch nicht getan. Doch wenn man nicht viel Vergnügen hat, macht man sich welches. Ich denke noch immer daran, wie Sie auf dem Löwen saßen, und ich auf dem anderen. Und solche Weihnachten möcht ich woll mal wieder feiern. Wir werden vier Monate draußen bleiben und dann ist ja bald wieder Heilig Abend. Wenn Sie mal schreiben wollen, würde es mich sehr freuen. Meine Adresse ist einfach: Maschinenmaat Anton Krautsch, S. M. S. Hertha.

Nu hab ich aber woll all viel zuviel geschrieben und schließe darum; indem ich noch recht vielmals grüße, verbleibe ich

Ihr
Anton Krautsch.«

»Warum schreibt er mir das alles? Gelungen,« sagte Mariechen halblaut und sah mit großen Augen und einem leisen Lächeln in die Flamme der kleinen Lampe. Dann suchte sie nochmals den Satz aus seinem Brief heraus, der ihr besonders gefallen hatte: »Ich denke noch immer daran, wie Sie auf dem Löwen saßen und ich auf dem andern. Und solche Weihnachten möcht ich woll mal wieder feiern.«

Sie kleidete sich langsam aus, löschte die Lampe und lag lange wach. Der Brief lag unter ihrem Kopfkissen, und sie wünschte von ihm zu träumen. Und einmal richtete sie sich mit einem jähen Ruck auf, saß dann halb liegend auf die Ellbogen gestützt, die Wange in die Hand geschmiegt, und sah durch den Spalt des dünnen Vorhangs einen freundlichen Stern grüßen.

So saß sie lange, immer den Stern im Auge, aber ihre Gedanken weilten auf der Erde, unruhige Gedanken, die zwischen Vergangenheit und Zukunft wie losgekoppelte Füllen hin und her sprangen.


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