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Elftes Kapitel

Mit dem ersten Gast, der nach Eintreffen des Unglücksbriefes die Kleesandsche Wirtschaft verließ – es war der alte Jollenführer Kienruß – trat die Geschichte von Fritz Kleesands »elendigem« Tod auf die Straße. Einmal draußen, war sie bald überall.

Die Maibüsche vor Kleesands Tür glitzerten ordentlich im hellen Sonnenschein, und die Fensterscheiben der Schenke blitzten und funkelten. Aber die Leute, die da ein- und ausgingen, hatten stille, nachdenkliche Gesichter, wenn nicht einmal ein Unwissender lachend und mit einem lauten Pfingstgruß über die Schwelle trat, um alsbald so still zu werden wie die andern.

Alle Malbüsche waren schon von den Türen verschwunden, da standen die vor Kleesands Tür noch immer, raschelten mit dem dürren Laub und ließen die Zweige hängen.

Niemand dachte daran, sie hier wegzunehmen. Die Gäste wunderten sich wohl, sie noch immer anzutreffen, aber es war ihnen nicht der Mühe wert, den Mund darum aufzutun, und die Wirtsleute selbst kamen aus ihrer Trauer und aus ihrer Tür nicht heraus.

Eines Morgens waren aber auch diese vertrockneten Birkchen verschwunden, und unter den Leuten, die bei Kleesands ein- und ausgingen, sah man wieder lachende Gesichter, ja, es war nur vierzehn Tage später, als Vorübergehende sich nach heftigen Scheltworten umsahen und den alten Kleesand bemerkten, der eigenhändig einen betrunkenen Tommy an die Luft setzte.

»Oll Swin!« sagte der alte Kleesand und spuckte aus. Und als Hein Claasen, der grade vorüberging, ihn verständnisvoll anlachte, lachte er ebenso wieder.

In diesen Tagen, wo andere schon nicht mehr davon sprachen, erfuhr Lene Lerch erst Fritzens Tod. Mutter Krautsch hatte Sorge getragen, daß er ihr wenigstens so lange verheimlicht würde, bis das Kind da sei. Aber sie hatte es Lenens Wirtsleuten gegenüber nur bei allgemeinen Gründen bewenden lassen: Lene hätte ihn ja auch gekannt, und es könnte sie vielleicht doch erschrecken. Besser wäre besser.

Die guten Leute, ein altes Schneiderehepaar, dachten wirklich nichts Arges. Die Frau wußte Beispiele, wie da und da eine schlimme Nachricht, ein geringer Schreck, einer Schwangeren Schaden gebracht hätte, oder dem Kind, das dann fehlerhaft oder mit wunderbaren Malen gezeichnet zur Welt gekommen sei. Da sie Lenen, ihres stillen gleichmäßigen Betragens wegen, freundlich gesonnen waren, taten sie das ihre, sie zu schonen. Aber da mußte der Zufall einen früheren Gesellen des kleinen, einst zurückgekommenen, sich jetzt aber auf seine alten Tage ohne Gesellen auskömmlich durchschlagenden Meisters in dessen Wohnung führen. Diese harmlose, gutmütige Seele, die von Zeit zu Zeit mal bei ihrem ehemaligen Brotherren einguckte, mußte arglos, nicht wissend was sie damit anrichtete, von Fritz Kleesands Tod sprechen, so daß Lene, die grade über den Korridor ging, alles hörte. Da war sie mit einem dumpfen Schreckruf gegen die Wand getaumelt und dann langsam zu Boden gesunken, wo sie in halber Ohnmacht von den Schneidersleuten aufgefunden wurde.

Jetzt hatte Mutter Krautsch, die man sogleich benachrichtigte, die guten Leute nicht länger im Unklaren lassen wollen, und der Tote bekam von diesen, die er gar nicht gekannt, noch strafende Worte ins ferne Grab nachgerufen.

Lene aber, die die Unglücksnachricht auf ein kurzes Krankenlager geworfen hatte, genas in ihrem schwachen Zustand eines frühen Kindes, eines kleinen häßlichen Geschöpfes, auf das ihr erster Blick nicht ohne Schreck fiel.

Mutter Krautsch war jetzt froh, daß sie Mitwisser hatte, mit denen sie sich besprechen konnte. Denn, nun das Kind da war, und nach dem Gutachten der Hebamme ein so schwaches Kind nicht war, daß man nicht hoffen durfte, es am Leben zu erhalten, trat die Frage wieder an sie heran, ob man nicht doch noch, wenn auch der Vater nicht mehr auf der Welt sei, den Großvater an diese Wiege führen und ihm das Schicksal des Kindes, das übrigens ein Mädchen war, ans Herz legen sollte. Die Schneidersfrau war eifrig dafür, aber Lene selbst wollte nichts davon wissen, sie wolle schon allein für das Kind sorgen. Diesen löblichen Vorsatz hörte Mutter Krautsch zwar mit einigen Zweifeln und Bedenken an, denn von Lenens Willen und Tatkraft hatte sie bisher noch nicht viel Beweise gehabt. Not bricht freilich Eisen, und mancher wacht erst im Unglück auf und zeigt, was er ist und kann. Doch sagte sie nichts, um die schwache, junge Mutter nicht schon jetzt mit Ausblicken in eine unklare Zukunft zu beunruhigen. Nach ihren Plänen sollte Lene mit dem Kind zu ihr zurückkehren und ihr gemeinsames Leben wieder beginnen. Was sollte auch Lene wohl anfangen? Womit sollte sie ihr Brot verdienen? Sie war nicht geschickt zu irgendeinem Erwerb und würde nur als Dienstmädchen eine Stelle suchen können. Aber Hausarbeit gab es auch bei Mutter Krautsch genug, und das Kind war leicht mit durchgefüttert. Einstweilen mochte Lene nur bei den Schneidersleuten bleiben, bis sie sich genügend gestärkt hatte und alles wieder einen guten und gleichmäßigen Gang gehen konnte.

Lene hatte es gut in ihrem Stübchen. Es hatte zwar nur ein Fenster nach hinten hinaus, aber Licht und Luft hatte genügend Zutritt, und die Luft, war sie auch mit allerlei Speichergerüchen gesättigt, dünkte ihr nicht schlecht. Sie war keine bessere gewöhnt von Mutter Krautschens Keller her. Da roch es nach Kartoffeln, Kohlen, Zwiebeln, Äpfeln, Bier, hier nach Apfelsinen, Sirup, Leder, Fellen und was die Speicher in der Nachbarschaft gerade bargen. Oft aber fegte auch ein reinigender Wind vom Strom her durch Höfe und Gassen.

Die Schneidersleute waren menschenfreundlicher Gesinnung und nahmen beide an Lenens häßlichem kleinen Wiegenkücken ein neugieriges Interesse. Sie waren selbst kinderlos geblieben und erlebten nun in ihren alten Tagen die Leiden und Freuden erster Kindeswochen als neidlose Zuschauer und dienstfertige Teilnehmer unter ihrem Dache. Der Alte stand in Hemdärmeln vor der Wiege und machte mit dem Finger Dideldideldei, wobei ihm das gelbe Zentimeterband um den Hals hing und mit seinen beiden Enden vor den großen erstaunten Kinderaugen hin und her pendelte. Seine Ehehälfte, die allerdings zehn Jahre jünger war als er, trug sich sogar mit dem Kinde, als hätte sie ihr Lebtag kleine Kinder gewartet. Das mütterliche Wesen, allen Frauen angeboren, brach nun mit einer verspäteten Leidenschaft hervor, die Mutter Krautschens Eifersucht erregte.

So war denn auch diese nicht abgeneigt, ihr die Schuld beizumessen, als Lene sich zu ihrer Verwunderung ernsthaft weigerte, zu ihr zurückzukehren. Doch tat sie hierin Unrecht, denn Lene hatte andere Beweggründe. Sie dachte mit Grauen daran, sich wieder den Blicken der Nachbarn auszusetzen und hatte einen Groll, ja Haß auf Frau Ohlsen in den letzten Wochen ihres Wartens und Fürchtens in sich groß werden lassen. Dazu kam, daß sie sich in den Kopf gesetzt hatte, es wisse doch alle Welt, daß Fritz Kleesand der Vater ihres Kindes sei. Er war durch seinen Tod in aller Leute Mund. Gewiß, alle sprachen sie über sie und ihre Sache. Und wenn sie es auch vielleicht mit Mitleid und Bedauern täten, sie schämte und scheute sich.

Hier war sie lange Wochen wie aus der Welt gewesen. Hier war es ihr in dem kleinen Raum, die Wiege neben sich, wie in einer lang entbehrten Heimat gewesen, wie in einem Nest, wo sie nun endlich Unterschlupf gefunden hatte. »Mutter« kam ja täglich und »Mutter« wurde ja mit der Klara ganz gut fertig und »Mutter« konnte doch auch das Kindergeschrei und all die Unruhe im Geschäft nicht brauchen.

So suchte sie Mutter Krautsch zu überreden, bat, tröstete.

»Hev ick dat um di verdeent?« klagte Mutter Krautsch und sprach von Undank. Das machte Lene still, und sie wollte zuletzt nachgeben. Aber da meinte Mutter Krautsch wieder: »Du kannst dich das ja noch überlegen.«

»In n Laden, wo alle kommen,« sagte Lene nachher zur Schneidersfrau, »und dann schreit das Kind mal, und dann sehen sie mich so an, und dann ist man immer auf dem Präsentierteller. Und nebenan wohnen seine Großeltern, und wenn das Kind mal auf die Straße spielt, und sie wissen nicht, daß es sein ist, und das Kind weiß auch nichts davon, daß es sein Großvater ist, nee, das kann ich nicht.«


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