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Dreizehntes Kapitel

Dem schönen, heiteren Frühling dieses Jahres war ein schöner goldener Sommer gefolgt, der bis in einen sonnigen Herbst hineindauern zu wollen schien. Es war ein unendlich mildes Absterben der Natur, voller Verheißung auf schönes Wiederaufstehen nach einem kurzen Winterschlaf.

Einen Tag vor Christians Tod kam Anton zurück. Er hatte nach der großen Reise einen längeren Urlaub bekommen und kam mit vollem Herzen und vollem Kopf. Von Christians Erkrankung erfuhr er gleich am ersten Tag, als er Umfrage nach allen Bekannten hielt. Aber so leid es ihm tat, er fand doch nur ein kurzes Wort des Bedauerns. Es war aber auch zu viel, was ihn außer seinen eigenen Interessen in Anspruch nahm. Da war vor allem das Kind. Die ganze unglückliche Geschichte Lenens erfuhr er eigentlich jetzt erst. Daß ihre Sache mit Fritz Kleesand so weit gediehen war, hatte er nicht geahnt. Er schalt auf Fritz in ehrlichem Zorn, aber Lene verwies es ihm.

»Lat em sin Ruh. Dat is nu, as bat is. Ick will da nir mehr von hören.«

»Wat n lütt possierlich Deern,« sagte Anton und nahm Hellachen auf den Schoß. Er wurde ganz rot dabei und ging sehr behutsam mit der Kleinen um.

»Mama,« sagte er zu Lene, halb ungläubig, halb belustigt.

Er hörte die Erzählung seiner Mutter von Frau Melittas strengem Betragen an, als ob ihm eine sehr harmlose gleichgültige Geschichte erzählt würde, und sagte auch zu den Befürchtungen hinsichtlich der alten Kleesands nicht viel. Seine Gedanken weilten bei Mariechen Mau, und Lene und ihr Kind hatten diesen Gedanken eine besondere Färbung gegeben.

Es war ihm wie ein Wunder: Lene hat n Kind. Das is Lene ihr Kind. Sie war ihm mit einemmal eine ganz andere, interessante Persönlichkeit geworden, gegen die er sich freundlicher, höflicher und sorgfältiger zu benehmen hätte als bisher. Von der moralischen Seite der Sache in Frau Melittas Sinn wurde er gar nicht berührt. Er sagte mit einem naiven Lachen: »Mama« zu Lene und fand Hellachen »n klein nüdlich Ding, n lütt possierlich Deern.«

Mutter Krautsch ließ ihren Anton den ersten Tag kaum aus der Sofaecke heraus. Wenn ihr die Zunge lahm war von vielem Erzählen, mußte er heran. Er mußte alles immer wieder von vorn erzählen. Sie wollte alles wissen. Lene saß dabei und spürte jedesmal einen Stich, wenn von Fritz Kleesand die Rede war. Sie hing trotz allem noch an ihm.

Wie bei Hellachens Taufe, so stand auch jetzt ein großer Topfkuchen auf dem Tisch. Mutter Krautsch hatte ja vorher gewußt, daß die »Hertha« wieder da sei und ihr Junge kommen würde. Er hatte gleich gekabelt: »Komme Freitag.« In solchen Situationen war Topfkuchen immer ihr erster Gedanke.

Am zweiten Tag, als sie wieder vor den Resten dieses Topfkuchens saßen, kam die Nachricht von Christians Tod.

»De arme Minsch. Ick hew em ja gornich so recht kennt, aber er is ja woll man ümmer n büschen schwach gewesen. Is doch ne häßliche Krankheit, die alte Schwindsucht.«

Anton gedachte des blassen, stillen, schüchternen Freundes und war voll ehrlichen Mitgefühls.

»Nun mußt du wohl mit folgen,« meinte Mutter Krautsch.

Das mußte er allerdings wohl und wollte es auch. Aber er hatte sich den ersten Besuch bei Maus so anders gedacht. Sollte das ein böses Anzeichen sein? Allezeit, in Stille und Sturm, in Ruhe und Arbeit, waren seine Gedanken bei Mariechen Mau gewesen, hatte er sich die Stunde ausgemalt, wo er sie wiedersehen würde und ihr – vielleicht – das kam ja auf Mariechen an, wie sie ihn empfing – das alles sagen, was er einmal schon zu Papier gebracht hatte und was er dann wieder zerrissen hatte, weil es ihm zu unbeholfen erschienen war.

Nun, jedenfalls würde er sie sehen, würde sehen, wie sie zu ihm wäre und ob er sich Hoffnungen machen dürfe, und dann hatte er ja drei Wochen Urlaub. In drei Wochen kann man sich aussprechen. Zu der Mutter hatte er nichts von Mariechen Mau und seiner Absicht gesagt. Das war die alte Scheu, die ihn zurückhielt. Auch dachte er sich es nett, sie zu überraschen. Und wenn es fehlschlüge, nun, dann brauchte sie ja erst recht nichts davon zu wissen. Dann war es gut, daß er geschwiegen hatte.

Im Trauerhaus traf er fast alle seine Bekannten an. Da waren außer Maus und Winsemanns »Buchbinders«; Tante Miete als »nächste« Angehörige in schwarzem Kreppschleier, der Alte in langem Gehrock und mit Zylinderhut. Der »Elefant« war da, Wilhelm Kröger, mit dem Anton zuletzt zusammen gearbeitet hatte, und der Schuster, der damals bei der Domwanderung mit dabei war. In eine Ecke des überfüllten Raumes drückte sich auch Tetje Butt, um nichts gewachsen, aber mit einem kleinen Anflug von Bart und sehr sauber gekleidet, den einen schwarzen Glacéhandschuh an, den andern in der Hand haltend. Er reckte wiederholt den Kopf und erhob sich auf den Zehen, als er Anton sah, konnte aber nicht zum Gruß kommen. Auch andere bekannte Gesichter aus dem Volksheimkreis waren da. Hugo sah sehr blaß aus. Seine schwarze Stirnlocke fiel ihm tief ins Gesicht, und er bewegte sich feierlich und nur auf den Zehen.

Alle begrüßten Anton mit einem stummen Händedruck und mit einem geflüsterten: Wieder da?

Mariechen hatte alle Hände voll, denn es wurde Wein und Kuchen gereicht. So kam er gar nicht dazu, sie zu begrüßen. Als sie ihm die kleine Schüssel mit Cakes reichte, geschah es stumm, als hätten sie sich schon begrüßt, oder Anton wäre nie weg gewesen und von so langer Reise zurückgekehrt. Das drückt auf seine Stimmung, obgleich er sich sagte, daß in dieser Stunde dieses Schweigen und dieses wie selbstverständliche Nichtbeachten keine Bedeutung hatte.

Am Fuß der Sarges sah er seinen Kranz liegen. Er war größer als die meisten anderen. Er sah das mit Genugtuung. Es war ein schöner würdiger Kranz.

Der beklemmende Duft von Blumen mischte sich in den Chlor- und Seifengeruch, der beständig dieser kleinen Wohnung anhaftete; allein die hier zusammengedrängt und in gedrückter Stimmung um den Sarg standen, waren gewöhnt, in einer Luft zu leben, die mit den Gerüchen ihres Handwerks durchsetzt war.

Jetzt kamen auch Herr Heinrich und Pastor Collasius, dieser in Amtstracht, und eine tiefe Bewegung ging durch die kleine Trauerversammlung. Diese beiden Männer waren die einzigen, die mit dem Ernst der Stunde ein stilles gütiges Lächeln zu verbinden wußten, wenn sie den Nächststehenden die Hand schüttelten. Auch Anton empfing so ein freundliches Lächeln und kräftigen Händedruck, was er treuherzig erwiderte.

Pastor Collasius stellte sich an das Kopfende des Sarges, sprach ein kurzes Gebet und sagte dann:

»Liebe Trauerversammlung.

Hier ist uns ein stiller und feiner Freund entschlafen, der nicht viel Wesens von sich machte und den Weg, der ihm vorgeschrieben, die Last, die ihm auferlegt, klaglos auf sich nahm. Er hat dreimal aus Heimat und Liebe scheiden müssen, ehe er für immer von hier abberufen wurde. Elternhaus und Elternliebe Hatte er früh lassen müssen. Dann zog er in das Heim seiner Pflegeeltern, denn das waren ihm sein Meister und dessen wackere Hausfrau (hier schluchzte Frau Miele laut auf). Dann zog er hier in dieses letzte irdische Heim und in die Hut einer seltenen Liebe. Wir wollen diese Liebe hier an diesem Sarge nicht demütigen, indem wir sie loben. Aber sie kann uns ein Licht sein auf unserm Weg, ein Wegweiser, wie wir zu einem schönen Ziel kommen, und eine Stärkung ist sie uns, Mut- und Trostspende. Wir wollen einer dem anderen leben. So wird die Erde uns allen schön sein und ein freundlicher Garten.«

Hier wurde der Redner wieder durch ein Schluchzen unterbrochen. Ein hartes dumpfes Aufweinen. Ein paar Augen richteten sich auf Hugo, der sein Taschentuch vor das Gesicht preßte. Mariechen weinte leise in sich hinein.

»Hier aus diesem letzten Heim,« fuhr Collasius fort, »sollen wir ihn nun hinaustragen durch die liebe goldene Herbstsonne nach dem stillen Garten der Ruhe und des Friedens, wo, wie der Dichter sagt:

»Auf allen Gräbern taute still: Genesen.«

Beten wir noch einmal miteinander und nehmen dann Abschied von unserem Freund.«

Mit lauter Stimme sprach Collasius das Vaterunser.

Tetje Butt stand noch immer in seiner Ecke. Tetje Butt weinte. Große Tränen tropften aus seinen hellen Augen über sein rundes Gesicht. Er drehte vor Verlegenheit seinen Hut in der Hand, besah ihn dann mal von außen und dann von innen, wo seine beiden Buchstaben T. K. in Gold glänzten. Es war das erstemal, daß Tetje Butt so eine Feierlichkeit mitmachte. Seine Mutter war damals einfach von »Armen wegen« abgeholt worden, ohne Sang und Klang. Hier war es so feierlich. Und als Pastor Collasius von Heimat und Liebe sprach, hatte er an den alten Keller denken müssen und an seinen Vater, und an seine Schwester und deren Kinder. Er hatte von allen nichts wieder gehört. Und seine zweite Heimat? Ob die bei Peter Witt war? Peter Witt war doch eigentlich recht nett zu ihm.

Jetzt, da alles durcheinanderdrängte und sich die Hand schüttelte und gegenseitig Beileid aussprach – denn wem sollte man es eigentlich aussprechen – Buchbinders waren ja wohl die nächsten dazu, aber die meisten hielten sich an Mau's als die letzten Pfleger – jetzt stand Herr Heinrich plötzlich vor Tetje Butt, gab ihm die Hand und sah ihm mit einem freundlichen Blick gerade in die verweinten Augen. Da ging es wie ein Sonnenschein durch Tetje Butt und er atmete ordentlich auf.

Hugo, als Christians nächster Freund, war natürlich auch Gegenstand großer Teilnahme. Sein tiefes Aufschluchzen während der Rede wurde freilich in seiner tiefsten Ursache falsch gedeutet. Ihm mußte jedes Wort, das von Mariechens seltener Liebe und Aufopferung sprach, wehtun. Ja, da hatte sie ihr Herz hingegeben. Unbegreiflich. Aber sie hatte Christian geliebt. Jetzt war es ihm klar. Wie konnte er nur auf den Gedanken kommen, sie hatte Anton gemocht. Aus allem Weh und aus aller Trauer um den Freund rang sich plötzlich ein leuchtender Hoffnungsstrahl: Es kann noch alles gut werden. Jetzt ist er tot, sie kann ihm nicht ewig nachtrauern, das Leben will sein Recht.

Und wie Hugo, so glaubte auch Anton, daß Mariechen an Christian gehangen hatte. Wie konnte er auch wissen, von welcher Art die Liebe war, die Mariechen für den armen Leidenden empfunden hatte. Was wußte er überhaupt von Mariechen? Er kannte sie ja nur von der Domwanderung her. Aber so wie er ihre schlanke Gestalt und ihr hübsches Gesichtchen wiedergesehen, war sie ihm wieder begehrenswert erschienen. Einzig sie und keine andere. Ach, wie hatte Collasius' seines Lob seines Mädchens ihm wohlgetan. Und als nun der Sarg geschlossen, die Träger ihn aufhoben und die Treppe hinunterbrachten und die Leidtragenden, die noch das Geleit bis an das Grab geben wollten, sich rüsteten, überkam ihn fast ein Bedauern, daß nun alles zu Ende war.

Aber da trat Mariechen unverhofft zu ihm, gab ihm noch einmal die Hand und sagte, sie fände es furchtbar nett, daß er gekommen sei, wo er doch wohl gerade erst von der Reise daheim wäre. Aber er hätte recht getan. »Christian hielt so viel von Ihnen, Herr Krautsch.«

»Von mir?«

Er wurde ganz rot.

Sie bemerkte das und mochte das leiden.

»Nicht wahr, es ist beinah wie eine Liebeserklärung, wenn einem so was gesagt wird,« sagte sie. »Aber es ist so, er hat immer von Ihnen gesprochen in seiner Krankheit.«

Anton dachte, wie wenig er sich um den stillen Freund gekümmert und machte sich Vorwürfe. Jetzt war es zu spät. Aber es war ihm doch wieder unendlich wohltuend, daß er mit Mariechen zusammen in der Liebe des Verstorbenen gelebt hatte. War das nicht eine schöne Vorbedeutung? Es war ihm, als legte der tote Freund ihre beiden Hände ineinander: Ihr waret mir das Liebste, habt Euch nun auch lieb.

Und jetzt kamen auch Frau Mau und Frau Winsemann und Pastor Collasius und Herr Heinrich. Alle kamen sie noch einmal und begrüßten den Heimgekehrten. Er war mit einemmal Mittelpunkt des Interesses, in den letzten Minuten, wo alles auseinandergehen wollte. Und als sie nun alle gingen, wandte sich Mariechen noch einmal zu ihm.

»Nun müssen Sie aber mal ordentlich kommen, Herr Krautsch, und uns von Ihrer Reise erzählen. Ich habe mich so zu Ihrem letzten Brief gefreut. Aber Wort halten! Ja kommen!«

Anton ging wahrhaftig in einer fröhlichen Stimmung von Christians Sarg hinweg. Er konnte es nicht helfen, er war fröhlich. Tetje Butt hing sich an ihn und fuhr bis zum Meßberg mit. Tetje Butt fragte das Blaue vom Himmel, und Anton war ärgerlich auf Tetje Butt. Seine Gedanken wollten ungestört bei Mariechen Mau verweilen, auch einmal beim toten Christian. Aber Tetje Butt, der sich freute den Fahrgästen zeigen zu können, daß er mit dem großen Mariner auf »Du« und »Du« stand, ließ ihm kaum Ruhe.

»Du Anton, sag mal. Du Anton, hör mal. Du Anton, ist das wahr?«

Und Anton sagte meistens ja und bereicherte Tetje Butts Länder- und Völkerkunde mit sehr merkwürdigen Kapiteln.

Am Meßberg sprang Tetje ab, blieb noch mitten auf dem Fahrdamm stehen und winkte aufgeregt mit der Hand zum Abschied.

Anton sah sich lachend um:

»Immer noch so n lütten Butt. Aber er sieht mal propper aus, und war so n richtigen lütten Sottje früher.«


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