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Siebentes Kapitel

Mit schönen, heiteren Oktobertagen begannen die Herbstferien. Nachts war es schon recht kalt und ein früher Frost hatte die noch in reicher Blüte stehenden Dahlien vorzeitig vernichtet. Aber härtere Blumen leuchteten um so farbenfroher in dieser hellen Sonne, die sich nun schon tagelang ohne Schleier zeigte und sich selbst der bunten Pracht, die sich dort unten auf der Erde immer leuchtender ausbreitete, zu freuen schien. In der Stadt sahen die Bäume an den Promenaden und in den sonst noch immer sorglich gepflegten Anlagen freilich schon recht trübselig aus, ihr schönes Kleid war ihnen abgefallen und lag schmutzig zu ihren Füßen. Aber vor den Toren und in den ländlichen Vororten trugen sie ihr buntestes Herbstgewand, und es gab Liebhaber, die sie darin schöner fanden, als in ihrem Sommerkleid, ja gar als in ihrer duftigsten Frühlingsgarderobe.

Herr Heinrich hatte, von diesen schönen Tagen gelockt, den Plan gefaßt, seine Kenntnis der Umgegend zum Besten seiner neuen jungen Freunde etwas aufzufrischen. Er hatte schon kürzere Touren mit ihnen unternommen und dabei einige Erfahrungen gesammelt. Die kleine Schar war inzwischen auf zweiundzwanzig Teilnehmer angewachsen. Diese einheitlich zu leiten, ohne zu bevormunden, erheischte Liebe zur Sache und zu den einzelnen jungen Seelen, aus welcher Liebe allein der Takt, der hier nötig war, hervorgehen konnte. Als Neuling in diesem Beruf eines Spiel- und Wanderleiters war er mit einem schönen und jugendlichen Eifer bei der Sache. Größere Tages- und Nachtwanderungen sollten auch von Zeit zu Zeit unternommen werden. Dazu gehörte ein kundiger Führer, der alles bis ins kleinste vorbereiten konnte. Er hatte seine alten Wanderbücher und Karten studiert und war voller Pläne für den Sommer. Da ließ es ihn nun nicht, an diesen schönen Ferientagen einige Vorstudien zu machen.

Auf einer solchen Studienfahrt hatte sich ihm Pastor Collasius als Begleiter angeboten, und er hatte ihn mit Freuden angenommen. Die beiden Männer hatten sich bald in ihrer gemeinsamen Tätigkeit, in ihrem Ringen um ein hohes wichtiges Ziel ernster sozialer Arbeit gefunden und schätzen gelernt, ja es entspann sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen ihnen, das beide als ein Glück empfanden. Sie waren beide unverheiratet. Collasius hatte seine junge Frau früh verloren, an einer langen, quälenden Krankheit, und hatte, noch immer von dieser Erinnerung gepeinigt und seiner eigenen Gesundheit nicht ganz sicher, jeden Gedanken an eine zweite Heirat aufgegeben. Herr Heinrich war Junggeselle von Beruf, wie er scherzend sagte, und er hatte in seinen Erinnerungen nichts als eine begrabene Jugendliebe aufzuweisen. Wer hat das nicht? fragte er. Und erstickte damit gleich alles Bedauern, das man ihm etwa entgegenbringen könnte. Was aber in beiden Männern lebte, war die Liebe zur Jugend, zu den Kindern, die ihnen versagt waren. Und das war freilich ein Umstand, der an Herrn Heinrichs zur Schau getragenem Gleichmut, mit dem er sein eheloses Dasein ertrug, wieder zweifeln lassen konnte.

»Ja,« sagte er einmal zu Collasius, als zufällig die Rede darauf kam. »Das sind so Sachen. Ich hätte nichts dagegen, glücklich verheiratet zu sein. Aber Sie sehen, es geht auch so ganz gut.«

Heute, an dem herrlichen Oktobertag, standen sie zusammen auf dem Bollwerk der »alten Liebe« in Kuxhaven und ließen sich von dem bunten reizvollen Schauspiel, das sich ihnen unerwartet bot, festhalten, auf die Gefahr hin, ihre beabsichtigte Wanderung um eine Stunde kürzen zu müssen. Am Bollwerk lag die »Moltke« und sollte in einer halben Stunde ihre Reise über den Ozean antreten. Auf dem Deck des gewaltigen Dampfers wimmelte es von Auswanderern, die sich hier wie eine Herde eingepferchter Schafe auf einen Haufen drängten, dort durcheinander zappelten wie ein aufs Trockene geworfener Fang Fische. Es war Kaffeezeit, und unaufhörlich drängten sich die wunderlichsten Gestalten auf der Treppe, die nach unten führte, um sich mühsam mit allerlei gefüllten Gefäßen und Brot und Kringeln wieder hinaufzuarbeiten und stehend oder hockend in den seltsamsten, oft unbequemsten Stellungen ihren Imbiß zu verzehren. Es waren meistens polnische und galizische und russische Juden, die einen großen Lärm machten, lachten und schwatzten, als ob ihnen der nahe Abschied von dem heimischen Festland nicht schwer würde. Sie waren ja auch alle schon durch weite Meilen von ihrer eigentlichen Heimat getrennt, waren schon in der Fremde. Aber der Ozean lag doch noch zwischen ihnen und der unbekannten neuen Heimat, das große Wasser, vor dem es gewiß manchem im Herzen gegraut hatte, als es hieß, auf nach Amerika! und noch graute, wenn der Gedanke sich von der Gegenwart, die sie jetzt so ganz in Anspruch nahm, löste und in die Zukunft vorwagte. Alle diese schmutzigen, schmierigen, schmatzenden und schwatzenden Leute, mit den heftigen, aufgeregten Gebärden, wovon unterhielten sie sich? Was war der Inhalt dieses Stimmengewirrs, das von dem großen Schiff her ans Land kam, wie eine immer gleichmäßig plätschernde Welle? Sprachen sie von dem, was sie zurückließen, oder von dem, was sie erwarteten? Lebten ihre ärmlichen Dörfer, ihre kleinen schmutzigen Hütten an den unergründlichen Wegen noch in ihren Unterhaltungen, oder richteten sich schon die goldenen Paläste auf, die die Zukunft ihnen vorzauberte?

Goldene Paläste? Ach, nur etwas mehr Brot, nur etwas mehr Friede, nur etwas mehr Feuer auf dem Herd, etwas weniger Regen durchs Dach und weniger Wind durch die Sparren. Tägliches Brot und warme Kleidung für sich, und die Sicherheit, daß auch ihre Kinder das künftig nicht entbehren würden. Das wollten sie.

Warum sprachen Collasius und Herr Heinrich so wenig miteinander und sahen mit ernsten, fast traurigen Blicken diesem Schauspiel zu? Weil alles dieses in ihren Seelen lebendig wurde beim Anblick der Not des Lebens, die da an Bord des großen Ozeanpflügers ihre bunten Lumpen zeigte.

Jetzt riefen die Glockensignale, daß es Zeit sei zum Einschiffen der Kajütenpassagiere. Die lange Reihe der Stewards kam an Land, die Reisenden in Empfang zu nehmen und an Bord zu führen, die mit Koffern und Kisten und guten Kleidern und vollen Portemonnaies reisen konnten. Abschiedsszenen lenkten die Aufmerksamkeit auf sich; Küsse, Tränen, Taschentuchwinken. Nachzügler hasteten herbei, zur Eile getrieben. Es wurde Zeit, daß das stolze Schiff sich in Bewegung setzte, denn schon warteten draußen auf der Reede zwei große Schwesterschiffe, daß die »Moltke« ihnen Platz mache. Die »Deutschland« und die »Prätoria«. Diese war zuerst in Sicht gekommen, hatte aber zum Verdruß ihrer Passagiere die »Deutschland« vorbei lassen müssen, denn diese zeigte die Postflagge, und die Post geht allen vor. Wieviel Briefe von Glück und Glanz, wieviel Briefe von Not und Elend bargen sich in ihren Postsäcken? Wie viele Hoffnungen und wie viele Enttäuschungen? Wie viele Liebe und wieviel Haß? Wieviel Gewinn, wieviel Verlust?

Jetzt setzte sich die »Moltke« langsam in Bewegung. Die Schiffskapelle an Bord stimmte an »Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus«, und langsam, in einem großen Bogen, verließ das stolze Schiff den heimatlichen Hafen.

Die beiden Männer wandten sich zum Gehen, während die meisten Zuschauer das Ausbooten der beiden angekommenen Dampfer abwarten zu wollen schienen. Viele erwarteten Freunde und Verwandte von drüben und gerieten in eine freudige Aufregung, als die »Moltke« endlich den Platz räumte.

Unter den müßigen Gaffern stand ein kleiner Junge, die Hände in den Hosentaschen, zwei große dunkle Augen auf die draußen liegenden Schiffe richtend. Die Mütze saß ihm ziemlich tief in der Stirn und warf einen breiten Schatten auf das schmale, gelbe Gesicht.

»Ist das nicht Tetje Butt?« rief Herr Heinrich laut aus.

Der Kleine hatte es gehört und drehte sich erschreckt um. Und richtig, es war Tetje Butt. Er riß die Mütze vom Kopf, wurde rot und wandte sich hastig wieder dem Wasser zu. Herr Heinrich aber redete ihn an:

»Nu, Theodor? Keine Arbeit heute?«

Der Junge, der trotz seiner Kleinheit schon vierzehn Jahre alt sein mochte, lachte verlegen.

»Hast du deine Stelle nicht mehr?«

»Ja, die hab ich noch,« antwortete er hastig und nickte.

»Wie kommst du denn hier her?«

»Och, Geburtstag.«

Pastor Collasius sah den Kleinen von der Seite an. Das machte Tetje Butt unsicher. Der Herr Pastor könnte vielleicht wissen, wann er geboren sei. So ein flüchtiger Gedanke an Kirchenbesuch und Taufregister ging durch seinen Kopf.

»Frau Willms ihrer,« sagte er deshalb. »Und nu hab ich frei heut. Mein Vater ist auch hier. Er ist etwas weiter längs gegangen. Er wollt noch nach der Kugelbake.«

»Und warum wolltest du nicht mit?« fragte Herr Heinrich, der wohl merkte, daß Tetje Butt mal wieder alles log.

»Och, da bin ich schon so oft gewesen.« Herr Heinrich tat, als ob er ihn, glaube. Er gab ihm sogar die Hand zum Abschied.

»Am Donnerstag ja kommen, hörst du Theodor? Wir haben was Feines vor.«

Tetje Butts Augen leuchteten einen Augenblick auf, aber ebenso schnell ging wieder ein leiser Zug des Mißtrauens über sein blasses Gesicht. Er gab auch Collasius die Hand zum Abschied und schien recht froh zu sein, als sich die beiden Störer seiner Freiheitsfreude entfernten.

Tetje Butt war der jüngste im Lehrlingsverein, ein gewandter, pfiffiger kleiner Bursche, aber verwahrlost und verlogen.

»Der Bengel treibt sich herum,« sagte Herr Heinrich zu Collasius.

»Ich kenne ihn,« sagte der Pastor. »Kenne auch die Familie. Es ist ein Elend.«

»Aber der Bengel ist doch aus gutem Holz geschnitzt. Man darf ihn nicht fallen lassen.«

»Wer ist Frau Willms, die heut ihren Geburtstag haben soll?«

»Die Konditorei, wissen Sie, auf dem Alten Steinweg. Er ist da Ausläufer seit vier Wochen. Verdient immerhin einiges, wenn auch nicht viel. Er könnte und müßte mehr leisten, aber er ist ein kleiner Vagabund, ohne Stetigkeit und Pflichtgefühl.«

»Woher soll er es auch haben?« entgegnete Collasius. »Kein Boden, wo er festwurzeln kann. Eine von den vielen tausend wurzellosen Pflanzen, die eine Zeitlang ihre kümmerliche Nahrung Gott weiß woher nehmen und dann früh verwelken. – Heimatlose,« setzte er nach einer kleinen Pause hinzu. »Ja, Heimatlose,« sagte Herr Heinrich mit Eifer. »Da sprechen Sie aus, was ich schon oft gedacht. Heimat. Was heißt Heimat? Was heißt für diese unendlich vielen Existenzen Heimat? Ist es der Ort, wo sie geboren sind, das Land, das der Zufall ihnen angewiesen hat, dem sie nichts geben, nichts nützen, das ihnen nichts gibt, nicht nützt? Wo sie umhergeworfen werden, von einem Winkel in den andern? Diese elenden Wohnungen, die den Namen Heimstätte nicht verdienen, die ihnen nicht gehören, woraus sie wöchentlich vertrieben werden können? Kein Besitz, kein Brot, kein Friede, keine Liebe oft, keine Treue. Zur Heimat gehört ein Heim. Wo ist das Heim dieser Ärmsten?«

»Den Heimatlosen Heimstätten zu bereiten,« sagte Collasius. »Eine große, schwere Aufgabe, lieber Freund. Wir suchen zu einem Teil diese Pflicht zu erfüllen. Die wird viel und lange Arbeit kosten, und vielleicht ist es nur ein Samenausstreuen, dessen Segen wir selbst nicht mehr ernten werden. Aber wie sagt Anzengruber in seinem vortrefflichen »Pfarrer von Kirchfeld«: Die nach uns kommen, die sollen Achtung vor uns bewahren können; die sollen nicht die Wege rings voll Steine finden, die wir ihnen heute schon ebnen können.«

Und nach einem zustimmenden Schweigen seines Gefährten setzte er hinzu: »Das ist auch ein Streiten fürs Evangelium. Manchmal wünschte ich, alle meine Herren Amtsbrüder stiegen von ihren feierlichen Kanzeln und gingen unter das Volk, als fleißige Handwerker in Christi Dienst. Unsere Kirchen stehen leer, und draußen steht das Volk und wartet auf den Heiland.«

»Ja, ja. Aber mir will doch manchmal dünken in diesen Tagen, als sei der Heiland unterwegs. Wer offenen Ohres hinaushorcht und freien Blickes um sich sieht, bekommt doch ein freudiges Gefühl der Gewißheit. Der Tag des Heils will anbrechen. Es sind schon die Morgenglocken, die ihn einleiten.«

»Hier und da eine vereinzelte Glocke,« sagte Collasius, »aber es ist ein Zittern in der Luft. Und es wird ein Brausen werden, wenn erst alle Glocken zusammen ihren Morgengesang anheben.«

Sie machten eine weite Wanderung durch leuchtende Sonne und erquickenden Wind, der sie von der See her anblies. Und als sie sich spät am Abend an der St. Pauli-Landungsbrücke trennten, war es mit dem Gefühl, sich wieder ein gutes Stück näher gekommen zu sein.

Am andern Tage ging Herr Heinrich zu Tetje Butts Eltern. Tetje Butt hieß eigentlich Theodor Krahnstöver. Aber er hatte seiner kleinen Gestalt wegen nun mal den Spitznamen weg und sollte ihn nicht wieder los werden.

Tetje senior machte gerade mal wieder einen heillosen Lärm, als Herr Heinrich eintrat.

»He is werrer mal sprüttendun,« sagte seine Frau. »Ehlers, laten Se den Herrn Lehrer mal sitten.«

Ehlers, ein langer, krank und verlebt aussehender Mensch von vielleicht zwanzig Jahren, der sich in schmutzigen Hemdärmeln, mit offener Brust, auf dem einzigen Stuhl rekelte, der neben einem schmierigen Küchentisch stand, starrte den Eintretenden mit frechen Augen an und erhob sich mürrisch.

»Bleiben Sie nur sitzen,« sagte Herr Heinrich, für den der Stuhl nichts Einladendes hatte. Aber Frau Krahnstöver meinte: »Nee, makens man, gahns man n beten af.« Sie sagte das in einem Ton, der merken ließ, daß die Frau hier das Regiment führte. Sie sah wüst und unordentlich aus, wie die beiden Männer, aber sie hatte doch einen Rest von Schicklichkeitsgefühl. Sie knöpfte ihre schlampige Bluse zu, die ihr lose um den mageren Hals hing, und wischte mit der Schürze den Tisch ab.

Ehlers schlürfte auf seinen vertretenen Latschen in den Nebenraum, wo Tetje Krahnstöver rülpste und gröhlte. »Minsch, holl di doch still,« hörte man Ehlers sagen.

»Sie kommen gewiß wegen den Jung?« fragte Frau Krahnstöver.

»Ja, liebe Frau. Hat er eigentlich seine Stellung noch?«

»Bei Willms? Jawohl, Herr Lehrer, he geiht jeden Morgen hen. Und he is dor ja ok ganz tofreden.«

»So, das freut mich. Gestern war da wohl Geburtstag bei Willms?«

»Bi Willms? Dor hett he mi nix von seggt. Dat is dat jo denn woll wesen.«

»Ich sprach Theodor gestern in Kuxhaven, er hatte einen freien Tag.«

»Kuxhoben? Wo kannt angahn? Wat deiht de Jung in Kuxhoben?«

»Er war ja mit seinem Vater da,« sagte Herr Heinrich.

»Mit sin Vadder? Nee, Herr Lehrer, de is den ganzen Dag nich ut n Hus West. Krahnstöver, büst du in Kuxhoben west?« rief sie.

»Wo-a schall ick wesen sin?« grunzte er nebenan.

»In Kuxhoben, de Herr hett di dor sehn.«

»Nein, nein, das nicht,« fiel Herr Heinrich ein.

»Mi sehn?« Tetje Krahnstöver stand schon auf der Schwelle. Ein widerlicher Geruch von Branntwein ging von ihm aus. »Mi sehn? De Herr hett mi in Kuxhoben sehn?«

Herr Heinrich setzte ihm die Sache auseinander.

»Min Söhn hett dat seggt? Wo is he? Tetje! Theodor!«

»Tetje is doch bi Willms. Wat gröhlst du denn so?«

»He schall mi bewisen, dat ik in Kuxhoben wesen bin. Bewisen schall he dat. Bewisen.«

Herr Heinrich beruhigte den Trunkenen mühsam und sagte der Mutter seine Meinung, daß Tetje Butt ihn belogen hätte.

»Is he werrer mol utneit? Disse Bengel! Nee, wat hett man doch för Ärger mit sin Kinner. Lat en man na Hus kam.«

»Nein, liebe Frau, sagen Sie ihm nichts und schlagen Sie ihn nicht. Das hat gar keinen Zweck. Schicken Sie ihn nur regelmäßig zu uns. Er wird sich schon bessern. Er ist noch lange nicht schlecht.«

»Is he ok nich. Min Kinner sünd all nich schlecht.«

In diesem Augenblick ertönte das Gequarr eines kleinen Kindes aus dem Nebenraum.

»Herrgott, nu hebbt se mi dat Kind opweckt. Ehlers! Krahnstöver!«

Sie verschwand in dem Nebenraum.

»Su su su. Nu, wat is denn? So, so,« klang ihre grobe aber zärtliche Stimme. Etwas verlegen kam sie wieder zum Vorschein.

»Dat is n Not; min Anna ehr Lütt. Se hett sick dat nu mol opsackt. n Not is dat. Und wi hebbt dat nu op n Hals.«

Herr Heinrich sagte nichts. Sollte der lange Schleef, der Ehlers, der Vater sein? Aber es lagen noch zwei Schlafburschen bei Krahnstöver im Logis. Die Tochter Anna war auf einem Wollspeicher beschäftigt und wohnte auch bei den Eltern. Das waren also sieben Personen in diesen beiden dumpfen Kellerräumen, die nur spärliches Licht von der Straße erhielten.

»Hat Ihr Mann keine Arbeit?« fragte Herr Heinrich.

»Dat Swin? Frogens em mol, wat he woll arbeit. Wenn ick de jungen Lüd nich harr und de Kinner – so n Mann, Herr Lehrer, so n Mann! aber ick hev en nu. He schall mi mol Muck seggn. Rut smiet ick em.«

»Das lassen Sie nur lieber nach, Frau Krahnstöver. Wenn Sie nur Gewalt über ihn haben, kann ja noch alles gut werden.«

Herr Heinrich atmete auf, als er dieser schnapsgeschwängerten Atmosphäre wieder entronnen war. Er war nicht das erstemal in diesem unterirdischen Nest der Armut und des Elends gewesen, das nicht das einzigste in dieser dunklen Querstraße war. Und wieviel ähnliche gab es in diesem Viertel. Nicht immer lagen sie unter der Erde. Oft mußte man auf engen, ausgetretenen, dunklen Stiegen sich mühsam an einem glatten schmierigen Seil zu ihnen hinauftasten, durch enge, lichtlose stinkende Gänge, zu denen niedere, atembeklemmende Tore führten, zu ihnen den Weg suchen.

Theodor Krahnstöver war früher ein stämmiger, kräftiger Hafenarbeiter gewesen. Man sah es der verfallenen, großen Gestalt mit den plumpen Händen noch an. Aber der Schnaps hatte ihn gebrochen. Seine Frau war eine Fischerstochter aus Blankenese, die bessere Tage gesehen hatte. Auch sie war gesund und kräftig gewesen, bis der Mann sie langsam mit in das Elend hinabgezogen hatte.

Tetje Butt hatte von der Gestalt und Kraft der großen Eltern nichts abbekommen, oder der Keim mochte frühzeitig an der schlechten Ernährung, ohne Luft und Licht, umgeben von Roheit und Fuselgeruch elend verkümmert sein. Tetje Butt war nicht der einzige in dieser Straße, der so aufwuchs, nur einer von den vielen, die, nicht nur in diesem Viertel, dem Menschenfreund Kummer und Zorn abnötigten. Aber Tetje Butt hatte Herrn Heinrich. Wen hatten die andern?


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