F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Zwölftes Kapitel

I

Endlich traf ich Tatjana Pawlowna zu Hause an! Ich setzte ihr sofort alles auseinander, alles, was das Schriftstück betraf, und alles, was sich jetzt bei uns in der Wohnung zugetragen hatte, bis auf die geringste Kleinigkeit. Obgleich sie selbst diese Ereignisse sehr wohl verstand und aus wenigen Worten hätte ersehen können, um was es sich handelte, nahm meine Darstellung doch, wie ich glaube, etwa zehn Minuten in Anspruch. Ich sprach allein; ich sagte die ganze Wahrheit und schämte mich nicht. Sie saß schweigend und ohne sich zu rühren, steif und gerade wie eine Stricknadel auf ihrem Stuhl; die Lippen hielt sie zusammengepreßt, wandte von mir keinen Blick und hörte gespannt zu. Aber als ich geendet hatte, sprang sie plötzlich vom Stuhl auf, und zwar so heftig, daß ich gleichfalls aufsprang.

»Ach, du Grünschnabel! Also ist dir dieser Brief wirklich in die Tasche eingenäht worden, und das hat die dumme Marja Iwanowna getan! Ach, ihr schändliches Gelichter! Also bist du hierhergekommen, um Herzen zu erobern und die feine Gesellschaft zu besiegen. Du wolltest dich wohl an weiß der Teufel wem dafür rächen, daß du ein illegitimer Sohn bist?«

»Tatjana Pawlowna«, rief ich, »schelten Sie nicht immer! Vielleicht sind gerade Sie mit Ihrem Schelten gleich von Anfang an die Ursache gewesen, daß ich hier so verbittert war. Ja, ich bin ein illegitimer Sohn und wollte mich vielleicht tatsächlich dafür, daß ich ein illegitimer Sohn bin, rächen und vielleicht tatsächlich an weiß der Teufel wem; denn der Teufel selbst wird hierbei den eigentlich Schuldigen nicht herausfinden können; aber vergessen Sie auch nicht, daß ich eine Abmachung mit den Schurken zurückgewiesen und meine Leidenschaften besiegt habe. Ich werde das Schriftstück, schweigend vor sie hinlegen und weggehen, ohne auf ein Wort von ihr zu warten; Sie werden selbst Zeugin sein!«

»Gib her, gib den Brief sofort her, leg den Brief sofort hier auf den Tisch! Aber du lügst vielleicht?«

»Er ist in meine Tasche eingenäht; Marja Iwanowna hat ihn selbst eingenäht, und als ich mir hier einen neuen Rock machen ließ, habe ich ihn aus dem alten herausgenommen und selbst in diesen neuen eingenäht; da ist er jetzt, fühlen Sie her, ich lüge nicht!«

»Gib ihn her, nimm ihn heraus!« rief Tatjana Pawlowna.

»Um keinen Preis, sage ich Ihnen noch einmal; ich werde ihn in Ihrer Gegenwart vor sie hinlegen und weggehen, ohne auf ein Wort von ihr gewartet zu haben; aber sie muß erfahren und mit eigenen Augen sehen, daß ich, ich selbst ihn ihr übergebe, aus freien Stücken, ohne Nötigung und ohne Belohnung.«

»Willst du dich wieder aufspielen? Bist du verliebt, du Milchbart?«

»Sagen Sie mir so viele Grobheiten, wie Sie wollen, meinetwegen, ich habe es verdient, aber ich fühle mich nicht beleidigt. Oh, mag ich ihr auch als ein unreifer Bursche erscheinen, der ihr nachgestellt und eine Verschwörung gegen sie ausgeheckt hat, aber sie soll einsehen, daß ich mich selbst überwunden habe und ihr Glück mir über alles geht! Meinetwegen, Tatjana Pawlowna, meinetwegen! Ich rufe mir zu: Mut und Hoffnung! Wenn dies auch mein erster Schritt auf der Lebensbahn gewesen ist, so ist er doch gut ausgegangen, zu einem edlen Schluß gelangt! Und was ist dabei, daß ich sie liebe«, fuhr ich verzückt mit leuchtenden Augen fort, »ich schäme mich dessen nicht: Mama ist ein Engel des Himmels, und sie ist die Königin der Erde! Wersilow wird zu Mama zurückkehren, und vor ihr brauche ich mich nicht zu schämen; ich habe ja mit angehört, was sie und Wersilow dort miteinander geredet haben; ich stand hinter der Portiere... Oh, wir sind alle drei ›Patienten desselben Irrsinns‹! Wissen Sie, von wem dieser Ausdruck ›Patienten desselben Irrsinns‹ herrührt? Er rührt von ihm her, von Andrej Petrowitsch! Und wissen Sie auch, daß wir hier vielleicht noch mehr als drei Patienten desselben Irrsinns sind? Ich möchte wetten, daß Sie als die vierte an demselben Irrsinn leiden! Wenn Sie wollen, sage ich es geradeheraus: ich möchte wetten, daß Sie selbst Ihr ganzes Leben lang in Andrej Petrowitsch verliebt waren und es vielleicht auch jetzt noch sind ...«

Ich wiederhole es, ich befand mich in einer Art Verzückung, in einem Glücksrausch, aber ich konnte nicht zu Ende sprechen: auf einmal fuhr sie mir mit unnatürlicher Geschwindigkeit mit der Hand in die Haare und duckte mich ein paarmal mit aller Kraft herunter ... dann ließ sie mich plötzlich los, ging in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht zur Wand und bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuch.

»Du Grünschnabel! Untersteh dich nicht, das noch einmal zu sagen!« rief sie weinend.

Alles das kam mir so überraschend, daß ich natürlich ganz betäubt war. Ich stand da, sah sie an und wußte noch nicht, was ich tun sollte.

»Ach, du Dummkopf! Komm her und gib mir dummem Frauenzimmer einen Kuß!« sagte sie auf einmal weinend und lachend. »Und untersteh dich nicht, untersteh dich nicht, das je wieder zu mir zu sagen ... Und ich habe dich lieb und habe dich mein ganzes Leben lang liebgehabt... du Dummkopf!«

Ich küßte sie. Ich bemerke dabei in Klammern: von der Zeit an war ich Tatjana Pawlownas Freund.

»Ach ja! Was mache ich denn da?« rief sie auf einmal und schlug sich vor die Stirn. »Sagtest du nicht, der alte Fürst sei bei dir in deiner Wohnung? Ist das wahr?«

»Mein Wort darauf.«

»Ach mein Gott! Ach, mir wird ganz übel!« rief sie und rannte im Zimmer umher. »Und diese Narren stellen dort mit ihm alles mögliche auf! Ach, da soll doch gleich das Donnerwetter dreinfahren! Und schon seit heute früh? Sieh mal einer an, diese Anna Andrejewna! Sieh mal einer an, diese Nonne! Und sie, die holde Militrissa, weiß noch gar nichts davon!«

»Welche holde Militrissa?«

»Nun, die Königin der Erde, das hohe Ideal! Ach herrje, was soll man nun machen?«

»Tatjana Pawlowna!« rief ich, zur Besinnung kommend. »Wir haben hier Dummheiten geredet und die Hauptsache vergessen: ich bin ja gerade hergelaufen, um Katerina Nikolajewna zu holen, und sie warten dort alle auf meine Rückkehr.«

Und ich setzte ihr auseinander, daß ich Katerina Nikolajewna das Schriftstück nur unter der Bedingung aushändigen würde, daß sie mir ihr Wort darauf gäbe, sich unverzüglich mit Anna Andrejewna zu versöhnen und sogar in deren Verheiratung mit dem alten Fürsten zu willigen...

»Wunderschön!« unterbrach mich Tatjana Pawlowna. »Ganz dasselbe habe ich ihr hundertmal gesagt. Er stirbt ja doch vor der Hochzeit nicht, und wenn er ihr, der Anna, in seinem Testament Geld vermacht hat, so ist das ohnehin schon da eingetragen und fällt ihr mit Sicherheit zu ...«

»Tut es denn Katerina Nikolajewna nur um das Geld leid?«

»Nein, sie hat immer gefürchtet, das Schriftstück befände sich in ihren, Annas, Händen, und ich fürchtete das ebenfalls! Wir haben sie deshalb auch überwacht. Die Tochter wollte nicht, daß das Gemüt des alten Mannes eine so schwere Erschütterung erlitte, aber diesem deutschen Patron, dem Bjoring, war es allerdings auch um das Geld zu tun.«

»Und unter solchen Umständen bringt sie es über sich, Bjoring zu heiraten?«

»Was soll man mit so einem dummen Frauenzimmer anfangen? Ist eine einmal dumm, dann bleibt sie es ihr lebelang. Siehst du, er soll ihr zur Ruhe verhelfen: sie sagt, irgendeinen müsse sie doch heiraten, da schiene er ihr noch der Passendste; aber wir werden ja sehen, ob er für sie wirklich der Passendste sein wird. Nachher wird sie sich mit den Händen an den Kopf fassen, aber dann wird es zu spät sein.«

»Aber Sie, warum lassen Sie es denn zu? Sie haben sie ja doch lieb; Sie haben ihr doch ins Gesicht gesagt, daß Sie in sie verliebt seien!«

»Das bin ich auch, und ich habe sie lieber als euch alle zusammen, aber trotzdem ist sie eine verrückte Närrin.«

»Dann laufen Sie doch jetzt zu ihr hin, holen Sie sie her, und wir wollen alles erledigen und dann selbst mit ihr zu ihrem Vater gehen.«

»Aber das ist unmöglich, du kleiner Dummkopf, unmöglich! Das ist es ja eben! Ach, was soll man tun? Ach, mir ist ganz übel!« Sie rannte wieder umher, griff aber doch nach ihrem Plaid. »O Gott, wenn du nur vier Stunden früher gekommen wärest, aber jetzt ist es bald acht, und sie ist vorhin zu Pelischtschews zum Essen gefahren und nachher mit ihnen in die Oper.«

»Herrgott, kann man denn nicht in die Oper laufen? ... Aber nein, das geht nicht! Was wird nun aus dem alten Mann werden? Er wird womöglich in der Nacht sterben!«

»Hör mal, geh nicht dahin, geh zu Mama und bleib da über Nacht, und morgen früh ...«

»Nein, um keinen Preis bleibe ich von dem alten Mann fort, mag da kommen, was will!«

»Nun gut, bleib nicht von ihm fort; das ist ganz recht von dir. Ich aber, weißt du... ich werde doch zu ihr nach ihrer Wohnung laufen und ein Zettelchen für sie hinterlassen... weißt du, ich werde ihr in Ausdrücken, die nur ihr verständlich sind, schreiben, daß das Schriftstück da ist und sie morgen Punkt zehn Uhr vormittags bei mir sein soll, ganz pünktlich! Sei unbesorgt, sie wird kommen, mir wird sie schon folgen: dann bringen wir alles mit einemmal in Ordnung. Du aber lauf dorthin und erheitere den Alten, so gut du kannst, durch Witzchen und bringe ihn dazu, sich schlafen zu legen; vielleicht hält er es noch bis morgen vormittag aus! Und verängstige auch Anna nicht, die habe ich ja auch lieb; du bist gegen sie ungerecht, weil du kein Verständnis dafür hast, daß sie schlecht behandelt worden ist, von Jugend auf; ach, und ihr alle habt mir eure Sorgen auf meine Schultern gepackt! Und vergiß nicht, bestelle ihr von mir, ich selbst hätte mich dieser Sache angenommen, ich selbst, und von ganzem Herzen, und sie solle unbesorgt sein, und ihr Stolz werde nicht verletzt werden... Sie und ich, wir haben uns ja in den letzten Tagen ganz erzürnt und uns gegenseitig beschimpft! Na, nun lauf... halt, zeig doch noch einmal deine Tasche... ist es auch wahr, ist es auch wahr? O Gott, ist es auch wahr?! Gib mir den Brief doch wenigstens für diese Nacht, wozu brauchst du ihn? Laß ihn mir hier, ich fresse ihn nicht auf. Du läßt ihn sonst am Ende in der Nacht aus den Händen ... änderst am Ende deine Meinung!«

»Um keinen Preis!« rief ich. »Da, sehen Sie her, befühlen Sie es, aber ihn hierlassen, das tue ich auf keinen Fall!«

»Ich sehe, daß ein Papier da ist«, sagte sie, indem sie die Tasche mit den Fingern betastete. »Na gut also, dann gehe; ich aber werde vielleicht doch zu ihr ins Theater laufen, du hattest recht, als du davon sprachst! So lauf doch, lauf!«

»Tatjana Pawlowna, warten Sie noch einen Augenblick: was macht Mama?«

»Die ist am Leben.«

»Und Andrej Petrowitsch?«

Sie machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Der wird schon wieder zur Besinnung kommen!«

Ich lief davon, ermutigt und von Hoffnung erfüllt, obgleich mir die Sache nicht so geglückt war, wie ich es mir in Gedanken zurechtgelegt hatte. Doch leider hatte das Schicksal anders bestimmt, und etwas anderes erwartete mich. Wahrlich, es gibt ein Fatum auf der Welt!


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