F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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IV

Fast genau zwei Stunden später fuhr ich wie ein Halbverrückter aus dem Schlaf auf und setzte mich auf meinem Sofa aufrecht. Hinter der Tür zu den Nachbarinnen erscholl furchtbares Geschrei, Weinen und Heulen. Unsere Tür war sperrangelweit geöffnet, und auf dem Flur, der schon erleuchtet war, schrien und liefen Menschen. Ich wollte schon Wassin rufen, sagte mir aber, daß er nicht mehr im Bett sein würde. Da ich nicht wußte, wo die Zündhölzer zu finden waren, tastete ich nach meinen Kleidern und begann mich eilig im Dunkeln anzuziehen. Bei den Nachbarinnen waren offenbar die Wirtin und die anderen Untermieter zusammengelaufen. Es schrie übrigens nur eine Stimme, nämlich die der älteren Nachbarin, während die junge Stimme von gestern, die ich sehr gut im Gedächtnis hatte, vollständig schwieg; ich erinnere mich, daß dies der erste Gedanke war, der mir damals durch den Kopf ging. Ich war mit dem Ankleiden noch nicht fertig, als Wassin eilig eintrat; in einem Augenblick hatte er mit geübter Hand die Zündhölzer gefunden und im Zimmer Licht gemacht. Er war nur in Hemd, Schlafrock und Pantoffeln und machte sich sogleich daran, sich anzuziehen.

»Was ist denn passiert?« rief ich ihm zu.

»Eine sehr unangenehme Geschichte, die viel Mühe und Lauferei machen wird!« antwortete er beinah zornig. »Diese junge Nachbarin, von der Sie erzählten, hat sich in ihrem Zimmer erhängt.«

Ich schrie laut auf. Ich kann gar nicht beschreiben, wie sich mir das Herz im Leibe umdrehte! Wir liefen auf den Flur hinaus. Ich muß gestehen, ich wagte es nicht, zu den Nachbarinnen hineinzugehen, und sah die Unglückliche erst später, als sie schon abgenommen war, und auch da, um die Wahrheit zu sagen, nur aus einiger Entfernung; sie war mit einem Laken zugedeckt, aus dem die beiden schmalen Sohlen ihrer Schuhe hervorsahen. So bekam ich ihr Gesicht gar nicht zu sehen. Die Mutter war in einem furchtbaren Zustand; bei ihr war unsere Wirtin, die übrigens nicht besonders erregt zu sein schien. Alle Untermieter drängten sich dort herum. Es waren ihrer nicht viele: nur ein bejahrter Seemann, der sich immer sehr brummig und anspruchsvoll benahm, jetzt jedoch ganz still geworden war, und ein altes auf der Reise befindliches Ehepaar aus dem Gouvernement Twer, sehr achtbare Leute aus dem Beamtenstand. Ich will den ganzen übrigen Teil dieser Nacht nicht beschreiben, das unruhige Treiben und dann die Besuche der amtlichen Personen; bis zum Morgengrauen wurde ich ein leichtes Zittern nicht los und hielt es für meine Pflicht, mich nicht wieder hinzulegen, obgleich ich eigentlich nichts tat. Auch alle andern hatten einen sehr munteren, ja sogar besonders angeregten Gesichtsausdruck. Wassin fuhr sogar irgendwohin weg. Die Wirtin erwies sich als eine recht achtbare Frau, weit mehr, als ich es erwartet hatte. Ich setzte ihr auseinander (und ich rechne mir das zur Ehre an), daß man die Mutter nicht so mit der Leiche der Tochter allein lassen könne und daß sie sie wenigstens bis morgen in ihr Zimmer herübernehmen müsse. Sie war sogleich damit einverstanden, und wie sehr sich die Mutter auch wehrte und weinte und sich weigerte, die Leiche zu verlassen, so ging sie schließlich doch zu der Wirtin hinüber, die sogleich den Samowar aufstellen ließ. Darauf verteilten sich auch die Untermieter in ihre Zimmer und machten die Türen zu, aber ich wollte mich trotzdem um keinen Preis hinlegen und saß noch lange bei der Wirtin, die sich sogar darüber freute, daß noch ein Dritter dabei war, der sogar seinerseits einige die Sache betreffende Mitteilungen machen konnte. Der Samowar leistete uns sehr gute Dienste, und überhaupt ist der Samowar in Rußland ein höchst notwendiges Requisit, namentlich bei allen Katastrophen und Unglücksfällen, besonders bei schrecklichen, plötzlichen und außergewöhnlichen; selbst die Mutter trank zwei Täßchen, natürlich erst nachdem wir sie lange gebeten und beinah mit Gewalt dazu gezwungen hatten. Und doch habe ich, wie ich aufrichtig sagen kann, niemals einen tieferen, bitteren Kummer gesehen als bei dieser unglücklichen Mutter. Nach den ersten Ausbrüchen von Schluchzen und Weinkrämpfen begann sie, sogar sehr bereitwillig zu reden, und ich hörte mit gespanntem Interesse ihre Erzählung an. Es gibt Unglückliche, namentlich unter den Frauen, die man in solchen Fällen soviel wie nur möglich reden lassen muß. Überdies gibt es Charaktere, die lange, ihr ganzes Leben hindurch, gelitten, die außerordentlich viel erduldet haben, sowohl großen Kummer als auch dauernden kleineren, und durch das Leid sozusagen schon ganz abgenutzt sind; sie erstaunen über nichts mehr, über keine plötzlichen Katastrophen, und – was die Hauptsache ist – vergessen sogar am Sarg eines geliebten Wesens nicht eine der so teuer erworbenen Regeln des dienstfertigen Umganges mit Menschen. Und ich verurteile sie nicht; das ist kein gemeiner Egoismus, nicht Mangel an Herzensbildung; in ihren Herzen findet sich sogar vielleicht mehr Gold als bei den anscheinend edelsten Heldinnen, aber die Gewöhnung an die lange Erniedrigung, der Instinkt der Selbsterhaltung, die stete Bedrückung und Furcht tun schließlich ihre Wirkung. Die arme Selbstmörderin hatte hierin mit ihrer Mutter keine Ähnlichkeit gehabt. In den Gesichtern waren sie übrigens, wie ich glaube, einander ähnlich, obgleich die Verstorbene ausgesprochen hübsch war. Die Mutter war noch gar nicht sehr alt, erst gegen fünfzig Jahre; sie hatte ebenso blondes Haar, aber eingesunkene Augen und Wangen und gelbe, große, ungleichmäßige Zähne. Überhaupt hatte alles an ihr eine gelbliche Färbung: die Haut im Gesicht und an den Händen sah wie Pergament aus, ihr dunkles Kleid war vor Alter ebenfalls ganz vergilbt, und der Nagel des rechten Zeigefingers war aus einem mir unverständlichen Grund sauber und sorgsam mit gelbem Wachs beklebt.

Die Erzählung der armen Frau entbehrte an manchen Stellen des Zusammenhanges. Ich will sie so wiedergeben, wie ich sie selbst verstanden und im Gedächtnis behalten habe.


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