F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Neuntes Kapitel

I

Ich eilte nach Hause und war wunderbarerweise mit mir sehr zufrieden. Natürlich spricht man so nicht mit Damen, und schon gar nicht mit solchen Damen – richtiger gesagt, mit einer solchen Dame, denn Tatjana Pawlowna rechnete ich nicht mit. Vielleicht darf man einer Dame dieser Art nie ins Gesicht sagen: »Ich pfeife auf Ihre Intrigen«, aber ich hatte es gesagt und war gerade damit sehr zufrieden. Vom übrigen ganz zu schweigen, hatte ich, wenigstens nach meiner Überzeugung, durch diesen Ton alles Lächerliche ausgewischt, das in meiner Situation gelegen hatte. Aber sehr viel darüber nachzudenken, dazu hatte ich keine Zeit; die Geschichte mit Krafft ging mir im Kopf herum. Nicht, daß dieser Gedanke mich so ganz besonders gequält hätte, aber ich fühlte mich doch tief erschüttert, und sogar so sehr, daß die allgemein menschliche Empfindung eines gewissen Vergnügens bei fremdem Unglück, wenn zum Beispiel sich jemand ein Bein bricht, seine Ehre verliert, eines geliebten Wesens beraubt wird und so weiter, daß selbst diese allgemein menschliche Empfindung einer gemeinen Befriedigung völlig einem andern, sehr intensiven Gefühl Platz machte: dem Kummer, dem Mitleid mit Krafft; das heißt, ob es wirklich Mitleid war, weiß ich nicht, aber jedenfalls war es ein sehr starkes, gutes Gefühl. Und damit war ich zufrieden. Es ist erstaunlich, wie viele nebensächliche Gedanken einem durch den Kopf gehen können, gerade wenn man durch eine gewaltige Nachricht ganz erschüttert ist, die, wie man meinen möchte, in Wirklichkeit die anderen Gefühle erdrücken und alle fremden Gedanken hinausjagen müßte, besonders die unwichtigen; aber gerade die unwichtigen Gedanken drängen sich einem auf. Ich erinnere mich noch, daß ein recht unangenehmes nervöses Zittern allmählich meinen ganzen Körper ergriff, das mehrere Minuten dauerte und sogar die ganze Zeit über anhielt, während ich zu Hause war und ein Gespräch mit Wersilow hatte.

Dieses Gespräch fand unter seltsamen und ungewöhnlichen Umständen statt. Ich habe schon erwähnt, daß wir in einem besonderen Nebengebäude auf dem Hof wohnten; diese Wohnung trug die Nummer dreizehn. Noch ehe ich in das Hoftor trat, hörte ich eine weibliche Stimme, welche jemanden laut in ungeduldigem, gereiztem Ton fragte: »Wo ist die Wohnung Nummer dreizehn?« Die Fragende war eine Dame, die ganz in der Nähe des Tores die Tür eines kleinen Ladengeschäftes geöffnet hatte; aber man schien ihr dort keine Auskunft gegeben oder sie sogar hinausgewiesen zu haben, und sie stieg eilig und aufgebracht die Stufen vor der Ladentür wieder hinunter:

»Wo ist denn hier der Hausknecht?« rief sie und stampfte dabei mit dem Fuß. Ich hatte diese Stimme schon längst erkannt.

»Ich gehe nach der Wohnung Nummer dreizehn«, sagte ich, an sie herantretend. »Zu wem wollen Sie?«

»Ich suche schon eine ganze Stunde lang den Hausknecht; alle Leute habe ich gefragt, alle Treppen bin ich hinaufgelaufen.«

»Die Wohnung ist auf dem Hof. Erkennen Sie mich nicht wieder?«

Aber sie hatte mich bereits erkannt.

»Sie wollen zu Wersilow; Sie haben etwas mit ihm abzumachen, und ich ebenfalls«, fuhr ich fort. »Ich bin gekommen, um von ihm für immer Abschied zu nehmen. Kommen Sie mit!«

»Sie sind sein Sohn?«

»Das tut nichts zur Sache. Übrigens, nehmen wir ruhig an, daß ich sein Sohn bin, obgleich ich Dolgorukij heiße. Ich bin ein illegitimes Kind. Dieser Herr hat eine Unmenge illegitimer Kinder. Wenn Gewissen und Ehre es verlangen, verläßt sogar der leibliche Sohn das Haus. Das steht schon in der Bibel. Außerdem hat er eine Erbschaft gemacht, und ich will an ihr keinen Anteil haben, sondern gehe weg, um von meiner Hände Arbeit zu leben. Wenn es notwendig ist, bringt ein hochherziger Mensch sogar sein Leben zum Opfer; Krafft hat sich erschossen, Krafft, um einer Idee willen, stellen Sie sich das vor, ein junger Mensch, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigte ... Hierher, hierher! Wir wohnen in einem besonderen Nebengebäude. Das steht schon in der Bibel, daß die Kinder von den Vätern fortgehen und sich ein eigenes Nest bauen ... Wenn eine Idee einen treibt ... wenn man eine Idee hat! Die Idee ist die Hauptsache; in der Idee liegt alles beschlossen ...«

In solchen Reden erging ich mich die ganze Zeit über, während wir nach unserer Wohnung gingen. Der Leser bemerkt wahrscheinlich, daß ich mich nicht besonders schone und mich, wo es nötig ist, auch ernstlich tadle: ich will lernen, die Wahrheit zu sagen. Wersilow war zu Hause. Ich ging hinein, ohne den Mantel abzulegen, und sie machte es ebenso. Gekleidet war sie furchtbar dürftig: über einem dunklen Kleidchen hing so ein Stück Zeug, das einen Mantel oder eine Mantille vorstellen sollte; auf dem Kopf hatte sie ein altes, schäbiges Matrosenhütchen, das sehr wenig zu ihrer Verschönerung beitrug. Als wir in das Wohnzimmer eintraten, saß meine Mutter mit einer Arbeit an ihrem gewohnten Platz, und meine Schwester kam aus ihrem Zimmer, um zu sehen, wer gekommen sei, und blieb in der Tür stehen. Wersilow, der nach seiner Gewohnheit nichts tat, erhob sich bei unserm Eintritt und richtete einen strengen, fragenden Blick auf mich.

»Ich habe hiermit nichts zu schaffen«, sagte ich, eilig abwehrend, und trat dann beiseite, »ich habe diese Dame eben erst am Tor getroffen; sie suchte Sie, und niemand konnte ihr Auskunft geben. Ich aber bin in einer eigenen Angelegenheit gekommen, die ich nach der Dame das Vergnügen haben werde Ihnen auseinanderzusetzen.«

Wersilow fuhr indes fort, mich prüfend anzusehen.

»Erlauben Sie«, begann das junge Mädchen ungeduldig. Wersilow wandte sich ihr zu.

»Ich habe lange darüber nachgedacht, in welcher Absicht Sie mir wohl das Geld gestern dagelassen haben ... Ich ... mit einem Worte ... da ist Ihr Geld!« rief sie beinahe ebenso kreischend wie vor kurzem und warf ein Päckchen Banknoten auf den Tisch. »Ich habe mich erst auf dem Adreßbüro erkundigen müssen, wo Sie wohnen, sonst hätte ich es Ihnen früher zurückgebracht. Hören Sie, Sie!« wandte sie sich auf einmal an meine Mutter, die ganz blaß geworden war, »ich will Sie nicht kränken, Sie sehen so rechtschaffen aus, und vielleicht ist das sogar Ihre Tochter. Ich weiß nicht, ob Sie seine Frau sind, aber ich möchte Ihnen sagen, daß dieser Herr aus der Zeitung Annoncen ausschneidet, in denen Gouvernanten und Lehrerinnen sich für ihr letztes Geld anbieten, und dann zu diesen Unglücklichen hingeht, um ehrlose Zwecke zu erreichen und sie durch sein Geld ins Unglück zu ziehen. Ich verstehe nicht, wie ich das Geld gestern habe von ihm annehmen können! Er machte ein so ehrliches Gesicht!... Schweigen Sie, kein Wort!. Sie sind ein Schurke, mein Herr! Und selbst wenn Sie mit ehrenhaften Absichten zu uns gekommen sein sollten, so will ich doch kein Almosen von Ihnen haben. Kein Wort, kein Wort! Oh, wie freue ich mich, daß ich Sie jetzt vor Ihrer Familie habe entlarven können. Seien Sie verflucht!«

Sie lief schnell hinaus, aber an der Schwelle drehte sie sich noch für einen Augenblick um, nur um zu schreien:

»Sie sollen ja eine Erbschaft gemacht haben!«

Und dann verschwand sie wie ein Schatten. Ich bemerke noch einmal: sie war eine Rasende. Wersilow war höchst betroffen; er stand da, als ob er nachdächte und etwas überlegte; endlich wandte er sich plötzlich zu mir:

»Du kennst sie gar nicht?«

»Ich habe sie vorhin zufällig gesehen, als sie auf dem Flur bei Wassin tobte, kreischte und Verwünschungen gegen Sie ausstieß; aber ins Gespräch bin ich mit ihr nicht gekommen und weiß nichts; jetzt aber traf ich sie am Tor. Wahrscheinlich ist das eben jene Lehrerin von gestern, die Rechenunterricht geben wollte?«

»Ja, die ist es. Einmal im Leben habe ich ein gutes Werk getan, und da ... Übrigens, was hattest du noch?«

»Hier ist ein Brief«, antwortete ich. »Eine Erklärung halte ich für überflüssig: er kommt von Krafft, und der hat ihn von dem verstorbenen Andronikow erhalten. Sie werden ja aus dem Inhalt alles ersehen. Ich füge hinzu, daß von diesem Brief jetzt niemand auf der ganzen Welt etwas weiß außer mir, denn Krafft hat sich, nachdem er mir gestern diesen Brief übergeben hatte, gleich nach meinem Fortgehen erschossen.«

Während ich das aufgeregt und hastig sagte, nahm er den Brief und hörte, ihn in der ausgestreckten linken Hand haltend, aufmerksam zu. Als ich von Kraffts Selbstmord sprach, betrachtete ich sein Gesicht mit besonderer Aufmerksamkeit, um die Wirkung zu beobachten. Und was geschah? – Die Nachricht brachte nicht die geringste Wirkung hervor: nicht einmal, daß er die Augenbrauen in die Höhe gezogen hätte! Sondern als er sah, daß ich innehielt, zog er seine Lorgnette heraus, die ihn, an einem schwarzen Band hängend, stets begleitete, ging mit dem Brief näher an die Kerze heran, warf einen Blick auf die Unterschrift und begann, ihn aufmerksam zu lesen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich mich durch diese hochmütige Gefühllosigkeit verletzt fühlte. Er mußte Krafft sehr gut gekannt haben; und dabei war es doch eine so ungewöhnliche Nachricht! Schließlich hatte ich natürlich auch gewünscht, daß sie einen gewissen Effekt machte. Ich wartete etwa eine Minute lang, aber da ich wußte, daß der Brief lang war, wandte ich mich dann um und ging hinaus. Mein Koffer war schon längst bereit, ich brauchte nur noch ein paar Sachen in ein Bündel zu packen. Ich dachte an meine Mutter, und daß ich nun gar nicht mehr zu ihr hingegangen war. Nach zehn Minuten, als ich schon ganz fertig war und mir gerade eine Droschke holen wollte, kam meine Schwester zu mir in mein Giebelzimmer.

»Da schickt dir Mama deine sechzig Rubel und bittet dich nochmals um Entschuldigung dafür, daß sie Andrej Petrowitsch davon erzählt hat, und außerdem hier noch zwanzig Rubel. Du hast ihr gestern für deinen Unterhalt fünfzig Rubel gegeben; Mama sagt, mehr als dreißig könne sie von dir unter keinen Umständen annehmen, weil fünfzig Rubel nicht für dich ausgegeben wurden, und schickt dir zwanzig wieder zurück.«

»Na, dann danke ich schön, wenn sie nur die Wahrheit sagt. Leb wohl, Schwester, ich verlasse das Haus!«

»Wo willst du jetzt hin?«

»Vorläufig in eine Herberge, damit ich nur nicht noch einmal in diesem Haus zu übernachten brauche. Sage Mama, daß ich sie liebe.«

»Das weiß sie. Sie weiß, daß du auch Andrej Petrowitsch liebst. Schämst du dich denn gar nicht, daß du diese unglückliche Person hergebracht hast?«

»Ich schwöre dir, daß ich es nicht getan habe; ich habe sie am Tor getroffen.«

»Nein, du hast sie hergebracht.«

»Ich versichere dir ...«

»Denk mal nach, frage dich ernstlich, und du wirst sehen, daß auch du mit die Veranlassung dazu warst.«

»Ich habe mich sehr darüber gefreut, daß Wersilow an den Pranger gestellt wurde. Kannst du dir das vorstellen: er zieht da ein kleines Kind auf, das ihm Lidija Achmakowa geboren hat ... übrigens, was rede ich da zu dir ...«

»Er? Ein kleines Kind? Aber das ist nicht sein Kind! Woher hast du denn diese Unwahrheit gehört?«

»Na, wie kannst du etwas davon wissen?«

»Ich sollte nichts davon wissen? Aber ich habe ja dieses Kind selbst in Luga gepflegt. Hör mal, Bruder: ich sehe schon lange, daß du von all diesen Sachen nicht das geringste weißt, aber dabei doch Andrej Petrowitsch beleidigst. Nun, und Mama beleidigst du ebenfalls.«

»Wenn er nichts Schlechtes getan hat, werde ich um Entschuldigung bitten, ganz einfach; euch aber werde ich darum nicht weniger lieben. Warum bist du denn so rot geworden, Schwester? Na sieh mal, jetzt noch mehr! Nun gut, aber diesen jungen Fürsten werde ich doch zum Duell fordern wegen der Ohrfeige, die er Wersilow in Ems gegeben hat. Wenn Wersilow gegenüber Fräulein Achmakowa sich nichts hat zuschulden kommen lassen, dann erst recht.«

»Bruder, komm zur Besinnung! Was redest du da?«

»Zum Glück ist jetzt der Prozeß beim Gericht beendet ... Na, aber jetzt bist du ja ganz blaß geworden!«

»Aber der Fürst wird sich nicht mit dir schlagen«, sagte Lisa, über deren blasses Gesicht trotz ihres Schreckens ein Lächeln hinzog.

»Dann werde ich ihn öffentlich beschimpfen. Was ist dir, Lisa?«

Sie war so blaß geworden, daß sie sich nicht auf den Beinen halten konnte und auf das Sofa sank.

»Lisa!« hörten wir die Mutter von unten rufen.

Sie raffte sich zusammen und stand auf; sie lächelte mir freundlich zu.

»Bruder, laß diese Torheiten oder warte vorläufig noch, bis du mehr über diese Dinge erfahren hast. Du weißt noch furchtbar wenig darüber.«

»Ich werde es nicht vergessen, Lisa, daß du blaß geworden bist, als du hörtest, daß ich mich duellieren will.«

»Ja, ja, denk auch daran!« erwiderte sie, lächelte mir noch einmal zum Abschied zu und ging nach unten.

Ich holte mir eine Droschke und trug mit Hilfe des Kutschers meine Sachen aus der Wohnung. Keiner meiner Angehörigen sagte ein Wort dagegen oder suchte mich zurückzuhalten. Ich ging nicht in die Stube, um von meiner Mutter Abschied zu nehmen, weil ich nicht noch einmal mit Wersilow zusammenkommen wollte. Als ich bereits in der Droschke saß, schoß mir auf einmal ein Gedanke durch den Kopf.

»Nach der Fontanka, zur Semjonowskij-Brücke!« befahl ich und fuhr wieder zu Wassin.


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