F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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V

Kaum hatte mich Wassin gelobt, da ergriff mich auch ein unwiderstehliches Verlangen zu reden.

»Meiner Ansicht nach ist ein jeder berechtigt, seine Gefühle zu haben ... wenn sie seiner Überzeugung entsprechen ... und es darf ihm niemand deswegen Vorwürfe machen«, sagte ich, zu Wassin gewandt. Ich sprach zwar recht gewandt, aber als wäre nicht ich der Redende, als bewegte sich in meinem Munde eine fremde Zunge.

»So-o-o?« fiel sogleich mit ironischer Dehnung jene selbe Stimme ein, die vorher den redenden Dergatschew unterbrochen und Krafft zugerufen hatte, daß er ein Deutscher sei. Da ich den Betreffenden für ein ganz wertloses Subjekt hielt, wandte ich mich an den Lehrer, als wäre er der Zwischenrufer gewesen.

»Es ist mein Prinzip, über niemand den Stab zu brechen«, sagte ich zitternd; ich wußte schon vorher, daß ich jetzt in Fahrt kommen würde.

»Warum denn so geheimnisvoll?« ließ sich wieder die Stimme des wertlosen Subjekts vernehmen.

»Jeder hat seine Idee«, fuhr ich fort, indem ich dem Lehrer starr ins Gesicht blickte, der seinerseits schwieg und mich lächelnd ansah.

»Was haben Sie denn für eine?« rief das wertlose Subjekt.

»Das auseinanderzusetzen, würde zu lange dauern ... Ein Teil meiner Idee besteht eben darin, daß ich in Ruhe gelassen sein möchte. Solange ich noch zwei Rubel besitze, will ich mein eigener Herr sein und von niemand abhängen (beunruhigen Sie sich nicht, ich kenne Ihre Erwiderung) und nichts tun, nicht einmal für jene große künftige Menschheit, für die zu arbeiten Herr Krafft aufgefordert worden ist. Die persönliche Freiheit, das heißt meine eigene, geht mir über alles, und weiter will ich von nichts wissen.«

Mein Fehler war, daß ich hitzig wurde.

»Also predigen Sie die Ruhe einer satten Kuh als Ideal?«

»Meinetwegen. Eine Kuh tut niemandem etwas zuleide. Ich bin niemandem etwas schuldig; ich bezahle der menschlichen Gesellschaft Geld in Form von Steuern, damit ich nicht bestohlen, durchgeprügelt oder totgeschlagen werde; aber weiter hat niemand etwas von mir zu verlangen. Vielleicht habe ich persönlich auch noch andere Ideen und will der Menschheit dienen und werde es tun und werde es vielleicht in zehnmal so großem Maße tun als alle diese Prediger, aber ich will nicht, daß das jemand von mir fordert, mich dazu zu zwingen versucht wie Herrn Krafft; ich will meine volle Freiheit haben, auch wenn ich keinen Finger rühre. Aber herumzulaufen und sich allen Leuten aus Menschenliebe an den Hals zu hängen und in Rührungstränen zu zerfließen, das ist nur Modesache. Ja, warum soll ich denn durchaus meinen Nächsten lieben oder Ihre zukünftige Menschheit, die ich nie zu sehen bekommen werde, die von mir nichts wissen wird und die ihrerseits, ohne eine Spur oder eine Erinnerung von sich zu hinterlassen, vermodern wird (auf die Zeit kommt es dabei nicht an), sobald die Erde sich in einen eiskalten Stein verwandelt haben und im luftleeren Raum mit der unendlichen Vielzahl ebensolcher eiskalter Steine umherfliegen wird, also das Sinnloseste, was man sich überhaupt vorstellen kann! Da haben Sie Ihre Lehre! Sagen Sie doch, warum soll ich denn unbedingt edel sein, noch dazu, wenn alles doch nur eine kurze Spanne Zeit dauert?«

»So was!« rief die Stimme. Ich hatte das alles nervös und zornig hervorgestoßen und gleichsam alle Stricke, die mich hielten, zerrissen. Ich wußte, daß ich in eine Grube fallen würde, aber ich stürmte vorwärts aus Furcht vor Entgegnungen. Ich fühlte nur zu gut, daß ich meine Gedanken unzusammenhängend wie durch ein Sieb herausschüttete und vom Hundertsten in das Tausendste kam, aber ich hatte es sehr eilig: ich wollte sie überzeugen und besiegen. Das war für mich von der größten Wichtigkeit! Drei Jahre lang hatte ich mich darauf vorbereitet! Aber merkwürdig: sie waren auf einmal still geworden, redeten kein Wort, sondern hörten alle nur zu. Ich sprach, immer zu dem Lehrer gewandt, weiter.

»Ja, gewiß. Ein besonders kluger Mann hat unter anderm gesagt, nichts sei schwieriger als die Beantwortung der Frage, warum man denn durchaus ein edler Mensch sein müsse. Sehen Sie, es gibt drei Arten von Schuften auf der Welt: die naiven Schufte, das heißt diejenigen, die davon überzeugt sind, daß ihre Schuftigkeit der höchste Edelmut ist; die verschämten Schufte, das heißt solche, die sich ihrer eigenen Schuftigkeit schämen, aber dabei fest entschlossen sind, bei ihr bis zum Ende zu verharren; und endlich Schufte schlechthin, Vollblut-Schufte. Erlauben Sie mir ein Beispiel: ich hatte einen Schulkameraden namens Lambert, der mir schon im Alter von sechzehn Jahren sagte: wenn er einmal reich sein würde, so würde es für ihn der größte Genuß sein, Hunde mit Brot und Fleisch zu füttern, während die Kinder armer Leute vor Hunger umkämen, und wenn diese kein Heizmaterial hätten, würde er einen ganzen Holzhof kaufen, das Holz auf dem Feld aufschichten und anzünden und so das freie Feld heizen, den Armen aber würde er auch nicht ein Scheit geben. Das war seine Denkweise! Und nun sagen Sie mir: was soll ich diesem Vollblut-Schuft auf die Frage antworten, warum er durchaus ein edler Mensch sein müsse? Und besonders jetzt, in unserer Zeit, die Sie so verhunzt haben; denn schlechter, als es jetzt ist, ist es niemals gewesen. Klarheit ist in unserer Gesellschaftsordnung wahrhaftig nicht zu finden, meine Herren. Sie leugnen ja die Existenz Gottes. Sie leugnen alle edlen Taten, wie kann mich da taube, blinde, stumpfe Trägheit veranlassen, edel zu handeln, wenn das Gegenteil für mich vorteilhafter ist? Sie sagen, ein vernunftgemäßes Verhältnis zur Menschheit sei auch mein eigener Vorteil; aber wenn ich nun dieses ganze vernunftgemäße Wesen, alle diese Kasernen und Phalangen für unvernünftig halte? Zum Teufel, was scheren mich sie und die Zukunft, wenn ich doch nur einmal auf der Welt lebe! Gestatten Sie, daß ich über meinen Vorteil selbst urteile: das ist vergnüglicher. Was kümmert es mich, wie es nach tausend Jahren mit dieser Ihrer Menschheit aussehen wird, wenn ich Ihrem Kodex zufolge für meine edlen Taten weder Liebe noch ein zukünftiges Leben, noch irgendwelche Anerkennung zu erwarten habe? Nein, wenn es so steht, dann werde ich höchst unverfroren für mich allein leben, und mögen meinetwegen alle andern zugrunde gehen!«

»Ein vortrefflicher Wunsch!«

»Übrigens bin ich immer bereit, mit zugrunde zu gehen.«

»Um so besser!« (Das war immer dieselbe Stimme.)

Alle übrigen blieben stumm; alle sahen mich an und musterten mich prüfend; aber allmählich wurde von verschiedenen Seiten des Zimmers her ein Kichern vernehmbar; es war noch leise, aber alle kicherten mir gerade ins Gesicht. Wassin und Krafft waren die einzigen, die nicht kicherten. Der Herr mit dem schwarzen Backenbart lächelte gleichfalls; er blickte mir starr ins Gesicht und hörte zu.

»Meine Herren«, sagte ich, am ganzen Leibe zitternd, »ich werde Ihnen meine Idee um keinen Preis mitteilen; ich frage Sie vielmehr von Ihrem eigenen Gesichtspunkt aus – glauben Sie nicht, daß ich Sie von dem meinigen aus frage, denn ich liebe die Menschheit vielleicht tausendmal mehr, als Sie alle zusammen es tun! Sagen Sie mir – und Sie sind jetzt unbedingt dazu verpflichtet, mir zu antworten, Sie sind dazu verpflichtet, denn Sie lachen über mich –, sagen Sie mir: wodurch wollen Sie mich verlocken, auf Ihre Seite zu treten? Sagen Sie mir: wodurch wollen Sie mir beweisen, daß es bei Ihnen besser sein wird? Wie werden Sie den Protest behandeln, den meine Persönlichkeit in Ihrer Kaserne erheben wird? Ich habe längst gewünscht, mit Ihnen zusammenzukommen, meine Herren! Bei Ihnen wird es Kasernen geben, gemeinsame Wohnungen, le strict nécessaire, Atheismus und Weibergemeinschaft ohne Kinder: darauf wollen Sie hinaus, das weiß ich ja. Und dafür, für dieses winzige Maß mittelmäßiger Annehmlichkeit, das Ihre vernunftgemäße Einrichtung mir garantiert, dafür, daß ich mich satt essen kann und im Winter nicht friere, dafür nehmen Sie mir meine ganze Persönlichkeit weg! Erlauben Sie mir, ein Beispiel anzuführen: es nimmt mir jemand dort meine Frau weg; wollen Sie mich dann meiner Persönlichkeit entkleiden, damit ich meinem Gegner nicht den Schädel einschlage? Sie werden sagen, ich würde dann von selbst vernünftig werden; aber die Frau, was wird die denn von einem solchen vernünftigen Mann sagen, wenn sie auch nur eine Spur von Selbstachtung besitzt? Das ist ja unnatürlich; Sie sollten sich schämen!«

»Sie sind wohl, was die Frauen betrifft, Spezialist?« erscholl in schadenfrohem Ton die Stimme des wertlosen Subjekts.

Einen Augenblick lang dachte ich daran, mich auf diesen Menschen zu stürzen und ihn mit den Fäusten zu bearbeiten. Er war von kleinem Wuchs, rothaarig und sommersprossig ... aber hol der Teufel sein Äußeres!

»Beruhigen Sie sich; ich habe noch niemals eine Frau gekannt«, erwiderte ich scharf, indem ich mich zum erstenmal an ihn wandte.

»Eine wertvolle Mitteilung; nur hätte sie mit Rücksicht auf die Damen in feinerer Form gemacht werden sollen!«

Aber nun gerieten alle in lebhafte Bewegung; alle suchten ihre Hüte und wollten fortgehen, allerdings nicht um meinetwillen, sondern weil es Zeit war; aber dieses schweigsame Verhalten mir gegenüber war für mich doch sehr niederdrückend und beschämend. Ich sprang ebenfalls auf.

»Gestatten Sie aber die Frage nach Ihrem Namen: Sie haben mich fortwährend angesehen«, sagte der Lehrer, indem er mit einem niederträchtigen Lächeln zu mir trat.

»Dolgorukij.«

»Fürst Dolgorukij?«

»Nein, einfach Dolgorukij, Sohn des früheren Leibeigenen Makar Dolgorukij und illegitimer Sohn meines früheren Gutsherrn, des Herrn Wersilow. Beunruhigen Sie sich nicht, meine Herren; ich sage das ganz und gar nicht, damit Sie mir deswegen sogleich um den Hals fallen und wir alle wie die Kälber vor Rührung zu brüllen anfangen!«

Mit einemmal erscholl eine laute, höchst ungenierte Lachsalve, so daß das kleine Kind hinter der Tür, das eingeschlafen war, aufwachte und zu schreien anfing. Ich zitterte vor Wut. Alle drückten Dergatschew die Hand und gingen hinaus, ohne mir die geringste Beachtung zu schenken.

»Kommen Sie!« sagte Krafft, indem er mich anstieß.

Ich trat zu Dergatschew hin, drückte ihm die Hand, so stark ich konnte, und schüttelte sie ihm mehrmals, ebenfalls so stark ich konnte.

»Nehmen Sie es nicht übel, daß Kudrjumow« (so hieß der Rothaarige) »Sie fortwährend beleidigt hat«, sagte Dergatschew zu mir.

Ich folgte Krafft. Ich empfand nicht die Spur von Beschämung.


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