F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Viertes Kapitel

I

Jetzt fürchte ich mich davor, es auch nur zu erzählen. All das liegt schon weit hinter mir; aber auch jetzt noch erscheint mir alles wie eine Luftspiegelung. Wie konnte eine solche Frau einem so garstigen Jungen, wie ich es damals war, ein Rendezvous geben? So mußte man die Sache doch auf den ersten Blick ansehen! Als ich mich von Lisa getrennt hatte und nun in meinem Schlitten dahinjagte, klopfte mir das Herz gewaltig, und ich dachte geradezu, ich würde den Verstand verlieren: der Gedanke, daß sie selbst mich zu einem Rendezvous eingeladen hatte, erschien mir auf einmal als eine so krasse Absurdität, daß es mir unmöglich war, daran zu glauben. Und dennoch zweifelte ich nicht im geringsten; ja noch mehr: je krasser die Absurdität schien, um so mehr glaubte ich daran.

Der Umstand, daß es schon drei geschlagen hatte, beunruhigte mich: ›Wenn mir ein Rendezvous angesetzt ist, wie darf ich dann zu spät kommen?‹ dachte ich. Auch dumme Fragen huschten mir durch den Kopf, zum Beispiel die folgende: ›Was ist jetzt für mich vorteilhafter, Kühnheit oder Schüchternheit?‹ Aber all solche Gedanken konnten keinen Bestand haben, weil in meinem Herzen ein wichtigerer Gedanke vorhanden war, über den ich nicht recht ins klare kommen konnte. Am vorhergehenden Tag hatte sie so gesagt: »Morgen um drei Uhr werde ich bei Tatjana Pawlowna sein«, – das war alles gewesen. Aber erstens hatte sie mich auch bei sich, in ihrem Zimmer, immer allein empfangen, und sie konnte mir alles sagen, was sie wollte, ohne sich zu Tatjana Pawlowna zu begeben; also warum hatte sie dann einen andern Ort, bei Tatjana Pawlowna, bestimmt?

Und noch eine andere Frage: würde Tatjana Pawlowna zu Hause sein oder nicht? Wenn es ein Rendezvous war, so durfte Tatjana Pawlowna natürlich nicht zu Hause sein. Aber wie sollte sie das erreichen ohne vorherige Verabredung mit Tatjana Pawlowna? Also war auch Tatjana Pawlowna in das Geheimnis eingeweiht? Dieser Gedanke schien mir äußerst seltsam und gewissermaßen unkeusch, beinahe sogar roh.

Und schließlich konnte sie doch auch ganz einfach tags zuvor den Wunsch gehabt haben, Tatjana Pawlowna zu besuchen; das mochte sie mir ohne jede Nebenabsicht mitgeteilt haben; und ich hatte es falsch aufgefaßt. Und sie hatte es in der Tat nur ganz flüchtig, lässig und ruhig gesagt, nach einem sehr langweiligen Zusammensein, denn ich war die ganze Zeit, während ich tags zuvor bei ihr gewesen war, wie wirr im Kopfe gewesen: ich hatte dagesessen, irgend etwas gemurmelt, nicht gewußt, was ich sagen sollte, und war sehr ärgerlich und schrecklich verlegen gewesen; sie aber hatte, wie sich nachher herausstellte, irgendwohin fahren wollen und war sichtlich froh gewesen, als ich endlich aufbrach. Alle diese Überlegungen drängten sich in meinem Kopf. Ich faßte schließlich den Beschluß: ›Ich werde hingehen und klingeln; die Köchin wird öffnen, und ich werde fragen, ob Tatjana Pawlowna zu Hause ist! Ist sie nicht zu Hause, so ist dies ein Rendezvous.‹ Aber ich zweifelte nicht daran, ich zweifelte nicht daran!

Ich lief die Treppe hinauf, und auf der Treppe, vor der Tür, verschwand all meine Furcht. ›Ach was‹, dachte ich, ›mag's sein, wie's will; nur schnell die Entscheidung!‹ Die Köchin öffnete und näselte mit ihrem widerwärtigen Phlegma, Tatjana Pawlowna sei nicht zu Hause. Ich wollte schon fragen, ob nicht sonst jemand da sei und auf Tatjana Pawlowna warte, aber ich unterließ es. ›Ich will lieber selbst nachsehen‹, dachte ich, sagte der Köchin, ich würde warten, legte meinen Pelz ab und öffnete die Tür ... Katerina Nikolajewna saß am Fenster und »wartete auf Tatjana Pawlowna«.

»Ist sie nicht da?« fragte sie mich anscheinend mißmutig und ärgerlich, sobald sie mich erblickte. Sowohl ihr Ton als ihre Miene entsprachen meinen Erwartungen so wenig, daß ich wie erstarrt auf der Schwelle stehenblieb.

»Wen meinen Sie?« murmelte ich.

»Tatjana Pawlowna! Ich bat Sie doch gestern, ihr zu bestellen, daß ich um drei Uhr zu ihr kommen würde.«

»Ich ... ich habe sie überhaupt nicht gesehen.«

»Sie haben es vergessen?«

Ich mußte mich hinsetzen; ich war wie betäubt. Also so klärte sich das auf! Und was die Hauptsache war: alles war so klar und deutlich wie zweimal zwei vier, aber ich – ich glaubte noch immer hartnäckig.

»Ich erinnere mich nicht, daß Sie mich ersucht hätten, es ihr zu bestellen. Und Sie haben mich auch gar nicht darum ersucht: Sie haben einfach gesagt, Sie würden um drei Uhr hier sein«, stieß ich heftig heraus. Ich sah sie nicht an.

»Ach!« rief sie plötzlich, »wenn Sie also vergessen haben, es ihr zu sagen, aber selbst wußten, daß ich hier sein würde, warum sind Sie selbst dann hergekommen?«

Ich hob den Kopf: auf ihrem Gesicht war weder Spott noch Zorn zu sehen, sondern nur ihr helles, fröhliches Lächeln und eine gesteigerte Schalkhaftigkeit – übrigens war Schalkhaftigkeit ihr steter Gesichtsausdruck –, eine fast kindliche Schalkhaftigkeit: ›Siehst du, da habe ich dich gefangen: na, was wirst du nun sagen?‹ schien ihr ganzes Gesicht zu sagen.

Ich wollte ihr nicht antworten und heftete meinen Blick wieder auf den Boden. Das Schweigen dauerte etwa eine halbe Minute.

»Kommen Sie jetzt von Papa?« fragte sie auf einmal.

»Ich komme jetzt von Anna Andrejewna; beim Fürsten Nikolai Iwanowitsch bin ich überhaupt nicht gewesen ... und Sie wußten das«, fügte ich plötzlich hinzu.

»Ist bei Anna Andrejewna etwas mit Ihnen passiert?«

»Sie meinen, ich sehe aus wie ein Verrückter? Nein, so sah ich schon aus, ehe ich zu Anna Andrejewna ging.«

»Und Sie sind bei ihr nicht vernünftig geworden?«

»Nein, ich bin da nicht vernünftig geworden. Ich habe außerdem gehört, daß Sie den Baron Bjoring heiraten werden.«

»Hat sie Ihnen das gesagt?« fragte sie plötzlich, lebhaft interessiert.

»Nein, ich habe es ihr mitgeteilt; gehört habe ich es, als heute Naschtschokin es dem Fürsten Sergej Petrowitsch erzählte, dem er einen Besuch machte.«

Ich hob noch immer nicht die Augen zu ihr auf; sie ansehen, das bedeutete für mich in Licht und Freude und Glückseligkeit schwimmen, und ich wollte nicht glücklich sein. Der Stachel des Ingrimms hatte sich in mein Herz gebohrt, und ich faßte im Augenblick einen gewaltigen Entschluß. Und nun begann ich auf einmal zu sprechen, ich erinnere mich kaum noch, wovon. Ich bekam kaum Luft und murmelte eigentlich nur, aber ich sah sie bereits kühn an. Mein Herz klopfte heftig. Ich sprach von allerlei abseitigen Dingen, übrigens vielleicht nicht ungeschickt. Sie hörte anfangs mit jenem gleichmäßigen, geduldigen Lächeln zu, das nie von ihrem Gesicht wich, aber allmählich schimmerte Erstaunen und dann sogar Schrecken in ihrem unverwandt auf mich gerichteten Blick auf. Das Lächeln stand immer noch in ihrem Gesicht, aber auch durch das Lächeln ging von Zeit zu Zeit ein Zucken.

»Was ist Ihnen?« fragte ich, da ich bemerkte, daß sie mit dem ganzen Körper zusammenzuckte.

»Ich fürchte mich vor Ihnen«, antwortete sie beinahe ängstlich.

»Warum gehen Sie nicht weg? Da Tatjana Pawlowna jetzt nicht hier ist und Sie wissen, daß sie nicht kommen wird, so müßten Sie doch eigentlich aufstehen und weggehen.«

»Ich wollte auf sie warten, aber jetzt ... in der Tat ...«

Sie schickte sich an aufzustehen.

»Nein, nein, bleiben Sie sitzen!« hielt ich sie zurück. »Da, Sie sind wieder zusammengezuckt, aber Sie lächeln auch in Ihrer Angst ... Sie lächeln immer. Sehen Sie, jetzt eben haben Sie richtig gelächelt ...«

»Reden Sie im Fieber?«

»Jawohl.«

»Ich fürchte mich«, flüsterte sie wieder.

»Wovor?«

»Daß Sie ... anfangen, eine Wand einzureißen ...«, sagte sie; sie lächelte wieder, war aber jetzt tatsächlich bange.

»Ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen!«

Und nun begann ich wieder zu sprechen. Mir war, als flöge ich. Ich hatte die Empfindung, als ob mich etwas vorwärtsstieße. Ich hatte noch niemals, noch niemals so zu ihr gesprochen, sondern war immer schüchtern gewesen. Ich war auch jetzt furchtbar schüchtern, aber ich sprach; ich erinnere mich, daß ich von ihrem Gesicht zu sprechen anfing.

»Ich kann Ihr Lächeln nicht mehr ertragen!« rief ich. »Warum habe ich mir, als ich noch in Moskau war, von Ihnen die Vorstellung gemacht, Sie seien gebieterisch und prunkend und redeten in der heimtückischen Weise der vornehmen Welt? Ja, so habe ich in Moskau gedacht; ich redete schon dort viel von Ihnen mit Marja Iwanowna und suchte mir eine Vorstellung davon zu machen, wie Sie wohl sein möchten ... Erinnern Sie sich an Marja Iwanowna? Sie sind ja bei ihr gewesen. Als ich hierherfuhr, habe ich im Bahnwagen die ganze Nacht von Ihnen geträumt. Hier habe ich vor Ihrer Ankunft einen ganzen Monat lang Ihr Porträt im Arbeitszimmer Ihres Vaters betrachtet und dennoch Ihr Wesen nicht erraten. Der Ausdruck Ihres Gesichts ist kindliche Schalkhaftigkeit und unbegrenzte Treuherzigkeit – das ist's! Darüber habe ich mich die ganze Zeit, seit ich zu Ihnen komme, nicht genug wundern können. Oh, und Sie verstehen es auch, stolz auszusehen und einen mit Ihrem Blick niederzuschmettern: ich weiß noch, wie Sie mich damals bei Ihrem Vater ansahen, als Sie aus Moskau gekommen waren ... Ich sah Sie damals, aber wenn mich jemand, als ich auf die Straße trat, gefragt hätte, wie Sie aussähen, so hätte ich es nicht sagen können. Nicht einmal Ihre Größe hätte ich angeben können. Als ich Sie sah, wurde ich geradezu blind. Ihr Porträt hat mit Ihnen absolut keine Ähnlichkeit: Sie haben keine dunklen Augen, sondern helle, und sie scheinen nur dunkel von den langen Wimpern. Sie haben eine gewisse Körperfülle. Sie sind von mittlerer Statur, aber es ist eine feste, leichte Fülle, die Fülle eines gesunden, jungen Bauernmädchens. Und auch Ihr Gesicht ist durchaus ländlich, das Gesicht einer Dorfschönen – fühlen Sie sich nicht gekränkt; das ist ja gut so, das ist weit besser –, ein rundes, frisches, klares, keckes, lachendes und ... schüchternes Gesicht! Wahrhaftig, ein schüchternes Gesicht. Katerina Nikolajewna Achmakowa soll ein schüchternes Gesicht haben! Und doch ist es schüchtern und keusch, ich schwöre es! Mehr als keusch: es ist kindlich! So sieht Ihr Gesicht aus! Ich bin die ganze Zeit über davon überrascht gewesen und habe mich die ganze Zeit über gefragt: ist das wirklich jene Frau? Ich weiß jetzt, daß Sie sehr klug sind, aber anfangs hatte ich gemeint, Sie wären etwas beschränkt. Sie haben einen heiteren Verstand, aber ohne alle Finessen ... Ferner liebe ich es, daß das Lächeln nie von Ihrem Gesicht weicht: das ist für mich das Paradies! Ferner liebe ich Ihr ruhiges, stilles Wesen, und daß Sie die Worte glatt, ruhig und beinahe träge aussprechen, – gerade diese Trägheit liebe ich. Ich glaube, wenn eine Brücke unter Ihnen zusammenbräche, so würden Sie auch dann etwas in Ihrer gewandten, maßvollen Art sagen ... Ich hatte Sie mir als den Gipfel des Stolzes und der Leidenschaftlichkeit vorgestellt, und nun haben Sie ganze zwei Monate lang mit mir gesprochen wie ein Student mit einem andern Studenten ... Ich hatte mir nie vorgestellt, daß Sie eine solche Stirn hätten: sie ist etwas niedrig wie bei den antiken Statuen, aber weiß und zart wie Marmor unter dem üppigen Haar. Sie haben eine hohe Brust, einen leichten Gang; Sie sind von außerordentlicher Schönheit, und von Stolz ist bei Ihnen nicht die Spur vorhanden. Ich bin ja erst jetzt zu dieser Überzeugung gelangt, ich hatte es immer nicht glauben wollen!«

Sie hörte diese ganze wilde Tirade mit großen, weitgeöffneten Augen an; sie sah, daß ich selbst zitterte. Mehrere Male hatte sie mit einer lieblichen, ängstlichen Gebärde ihre kleine, behandschuhte Hand ein wenig erhoben, um mich zu hemmen, sie aber jedesmal erstaunt und furchtsam wieder sinken lassen. Manchmal hatte sie sich sogar mit dem ganzen Körper schnell zurückgebeugt. Zwei- oder dreimal war das Lächeln auf ihrem Gesicht wieder aufgeleuchtet; einmal war sie sehr rot geworden, aber zum Ende hin hatte sie entschieden Angst bekommen und war erblaßt. Sowie ich innehielt, streckte sie die Hand vor und sagte in bittendem, aber doch ausgeglichenem Ton:

»So darf man nicht sprechen ... so zu sprechen ist nicht möglich...«

Und plötzlich erhob sie sich von ihrem Platz und griff ohne Hast nach ihrem Halstuch und nach ihrem Zobelmuff.

»Sie gehen?« rief ich.

»Ich fürchte mich wirklich vor Ihnen ... Sie mißbrauchen diese Gelegenheit ...«, sagte sie in gedehntem Ton anscheinend bedauernd und vorwurfsvoll.

»Hören Sie mich an; bei Gott, ich werde keine Wand einreißen!«

»Sie haben ja schon angefangen«, erwiderte sie; sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Ich weiß nicht einmal, ob Sie mich werden vorbeigehen lassen.« Sie schien geradezu zu fürchten, ich würde sie nicht hinauslassen.

»Ich werde Ihnen selbst die Tür öffnen, Sie können gehen, aber wissen Sie: ich habe einen gewaltigen Entschluß gefaßt; und wenn Sie Licht in meine Seele bringen wollen, so kehren Sie wieder um, setzen Sie sich hin, und hören Sie nur noch zwei Worte von mir! Aber wenn Sie das nicht wollen, so gehen Sie, und ich werde Ihnen selbst die Tür öffnen!«

Sie sah mich an und setzte sich wieder auf ihren Platz.

»Mit welcher Entrüstung wäre eine andere weggegangen, aber Sie haben sich wieder hingesetzt!« rief ich entzückt.

»Sie haben sich früher nie erlaubt, so zu mir zu sprechen.«

»Ich bin früher immer schüchtern gewesen. Auch als ich jetzt hier hereinkam, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Sie denken, ich sei jetzt nicht schüchtern? Ich bin schüchtern. Aber ich habe plötzlich einen gewaltigen Entschluß gefaßt und fühle, daß ich ihn ausführen werde. Und als ich diesen Entschluß gefaßt hatte, da verlor ich sogleich den Verstand und begann alles dies zu reden ... Hören Sie, was ich sagen wollte: bin ich ein Spion, der Sie belauert, oder nicht? Antworten Sie mir – das ist meine Frage!«

Ihr Gesicht wurde von einer dunklen Röte übergossen.

»Antworten Sie noch nicht, Katerina Nikolajewna, sondern hören Sie erst alles, und sagen Sie dann die volle Wahrheit!«

Ich hatte mit einemmal alle Zäune zerbrochen und stürmte ins Freie hinaus.


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