F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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IV

Bei uns in der Stadt Afimjewsk, da hat sich eine wunderbare Geschichte zugetragen, die ich jetzt erzählen werde. Es lebte da ein Kaufmann, er hieß Skotoboinikow, Maxim Iwanowitsch, und es war niemand in der ganzen Gegend reicher als er. Er hatte eine Kattunfabrik angelegt und beschäftigte einige Hundert Arbeiter, und er dünkte sich wer weiß was. Und man muß sagen, daß alles nach seinem Kopf ging, und selbst die Obrigkeit war ihm in keiner Sache hinderlich, und der Archimandrit bedankte sich bei ihm für seinen Eifer: denn er spendete dem Kloster sehr viel, und wenn es ihm einmal einfiel, so seufzte er sehr um seine Seele und machte sich nicht wenig Sorge um das zukünftige Leben. Er war Witwer und kinderlos; von seiner Frau erzählte man, er habe sie schon im ersten Jahre der Ehe geprügelt, wie er denn überhaupt von klein auf immer gern dreingeschlagen habe; aber das war schon lange her; sich aber von neuem durch eine Heirat zu binden, dazu hatte er keine Lust. Auch für das Trinken hatte er eine Schwäche, und wenn er so seine Trinkperiode hatte, lief er in seiner Betrunkenheit nackt durch die Stadt und vollführte ein großes Geschrei: es ist ja keine feine Stadt, aber ein solches Benehmen war doch anstößig. Wenn das aber wieder vorbei war, dann wurde er zornig, und alles, was er sagte, war gut, und alles, was er befahl, war schön. Seinen Leuten aber zahlte er den Lohn ganz nach seinem Belieben; er nahm das Rechenbrett vor und setzte die Brille auf: »Nun, Foma, wieviel bekommst du?« – »Seit Weihnachten habe ich nichts bekommen, Maxim Iwanowitsch; neununddreißig Rubel habe ich gut.« – »Ach was, soviel Geld! Das ist zuviel für dich; du bist vom Kopf bis zu den Füßen nicht so viel wert, das paßt gar nicht zu dir; zehn Rubel zieh ich dir ab, neunundzwanzig sollst du haben.« Und der Mann schwieg dazu, denn niemand wagte zu mucksen, alle schwiegen sie.

»Ich weiß schon«, sagte er, »wieviel ich einem jeden zu geben habe. Mit dem hiesigen Volk kann man nicht anders verfahren. Das hiesige Volk ist liederlich: ohne mich würden sie hier alle vor Hunger krepieren, so viel ihrer sind. Und ferner, das hiesige Volk ist diebisch; was es sieht, das schleppt es weg; es besitzt keine Festigkeit. Und ferner, es ist trunksüchtig; wenn man einem seinen Lohn auszahlt, so trägt er ihn in die Schenke, und dann sitzt er nackt in der Schenke, ohne einen Faden auf dem Leib, und in diesem Zustand geht er hinaus. Und ferner benimmt er sich unwürdig: er setzt sich der Schenke gegenüber auf einen Stein und fängt an zu lamentieren: ›Ach, meine liebe Mutter, warum hast du mich unglücklichen Säufer geboren? Hättest du doch mich unglücklichen Säufer gleich bei der Geburt erwürgt!‹ Kann man denn so einen überhaupt noch einen Menschen nennen? Ein Vieh ist er und kein Mensch; so einem muß man zu allererst Bildung beibringen, dann erst kann man ihm Geld in die Hände geben. Ich weiß schon, wann man ihm etwas geben darf.«

So redete Maxim Iwanowitsch von den Leuten in Afimjewsk, und wenn es auch schlecht von ihm war, so zu reden, so war es doch auch wahr: die Leute waren wirklich willensschwach und konnten sich nicht beherrschen.

Es lebte in dieser selben Stadt auch ein anderer Kaufmann, und der starb; er war ein junger, leichtsinniger Mensch gewesen, hatte Bankrott gemacht und sein ganzes Vermögen verloren. Im letzten Jahr hatte er noch gezappelt wie ein Fisch auf dem Sand, aber dann war sein Lebensende herangekommen. Mit Maxim Iwanowitsch hatte er sich die ganze Zeit schlecht gestanden und war ihm bedeutende Summen schuldig geblieben. Noch in seiner letzten Stunde hatte er Maxim Iwanowitsch verflucht. Er hinterließ eine noch junge Witwe und mit ihr auch fünf Kinder. Wenn eine Witwe nach dem Tod ihres Mannes allein zurückbleibt, das ist an sich schon wie eine Schwalbe ohne Nest, eine schwere Prüfung, und nun gar mit fünf kleinen Kindern, die sie nicht ernähren kann: ihr letztes Besitztum, ein hölzernes Häuschen, hat ihr Maxim Iwanowitsch für die Schulden weggenommen. Und sie stellte sie alle in einer Reihe in der Vorhalle der Kirche auf: das älteste, ein Knabe, war acht Jahre alt, und die übrigen, lauter Mädchen, folgten aufeinander in Abständen von einem Jahr; die älteste war vierjährig, und die jüngste trank noch an der Mutterbrust. Die Messe war zu Ende, Maxim Iwanowitsch kam heraus, und alle Kinderchen, die ganze Reihe, fielen vor ihm auf die Knie – das hatte die Mutter sie vorher gelehrt – und legten alle gleichmäßig die Händchen vor der Brust mit den Innenseiten zusammen; sie selbst aber hinter ihnen, mit dem fünften Kindchen auf dem Arm, verbeugte sich vor ihm in Gegenwart aller Leute bis zur Erde: »Väterchen, Maxim Iwanowitsch«, sagten die älteren Kinder, »habe Mitleid mit uns armen Waisen, nimm uns nicht den letzten Bissen Brot, vertreib uns nicht aus dem Hause, in dem wir geboren sind!« Und alle, die zugegen waren, fingen an zu weinen, so gut hatte die Mutter die Kleinen unterwiesen. Sie dachte: »So vor allen Leuten wird er sich schämen, unbarmherzig zu sein, und wird den Waisen das Haus zurückgeben.« Aber es kam anders. Maxim Iwanowitsch blieb stehen: »Du junge Witwe«, sagte er, »willst bloß wieder einen Mann haben und weinst nicht um die Waisen. Dein verstorbener Mann hat mich noch auf dem Totenbett verflucht.« Und damit ging er vorbei und gab ihnen das Haus nicht wieder. »Warum soll man sich durch die dummen Redensarten solcher Leute herumkriegen lassen?« sagte er. »Wenn man ihnen eine Wohltat erweist, schimpfen sie bloß noch ärger auf einen; das hat alles keinen Zweck, und das Gerede wird nur noch schlimmer.« Und es ging auch wirklich ein Gerede, er habe vor zehn Jahren heimlich nach dieser Witwe geschickt, als sie noch unverheiratet war, und ein großes Stück Geld geboten (denn sie war sehr schön), ohne daran zu denken, daß dies eine ebenso große Sünde ist, wie wenn jemand ein Gotteshaus zerstört; aber er hatte damals nichts erreicht. Und gerade derartige Schändlichkeiten beging er sowohl in der Stadt als auch im ganzen Gouvernement nicht wenige und kannte bei solchen Dingen gar kein Maß mehr.

Die Mutter weinte laut mit ihren Kleinen; er trieb die Waisen aus dem Haus, und zwar nicht bloß aus Herzensbosheit, sondern der Mensch weiß manchmal selbst nicht, was ihn veranlaßt, auf seinem Willen zu bestehen. Na, anfangs halfen ihr mitleidige Leute, und dann ging sie auf Arbeit. Aber bei uns gibt es ja, außer in der Fabrik, wenig Gelegenheit, durch Arbeit etwas zu verdienen; hier scheuerte sie die Stuben, da jätete sie im Gemüsegarten Unkraut, dort heizte sie die Badestube, und immer mit dem kleinen Kind auf dem Arm und unter Tränen, und die vier andern liefen in der Nähe auf der Straße in ihren Hemdchen herum. Damals, als sie sie in der Vorhalle der Kirche hatte niederknien lassen, da hatten sie noch so leidliche Schuhchen und noch so leidliche Röckchen angehabt und hatten wie Kaufmannskinder ausgesehen; aber nun liefen sie schon barfuß umher: bei einem kleinen Kind halten die Sachen nicht lange, das weiß man ja. Na, aber was machen sich die Kinderchen daraus? Wenn nur die liebe Sonne scheint, so freuen sie sich und empfinden das Elend nicht; sie sind wie die Vögelchen, und ihre Stimmchen klingen so hell wie Glöckchen. Die Witwe aber dachte: ›Wenn es Winter wird, wo soll ich euch dann unterbringen? Wenn euch nur Gott dann zu sich nähme!‹ Aber es dauerte nicht einmal bis zum Winter. Es gibt da in unserer Gegend bei den Kindern einen Husten, den man Stickhusten nennt und der sich von einem Kind auf das andere überträgt. Zu allererst starb der Säugling, und darauf erkrankten auch die übrigen kleinen Mädchen, und die Mutter begrub die sämtlichen vier kleinen Mädchen, eines nach dem andern, in demselben Herbst. Eines von ihnen war allerdings auf der Straße von einem Wagen überfahren worden. Ja, und was meint ihr wohl? Sie schluchzte nur so bei den Beerdigungen: erst hatte sie ihnen den Tod gewünscht, und nun Gott sie zu sich genommen hatte, war sie traurig. So ist das Mutterherz!

Nur das älteste Kind, der Knabe, war ihr am Leben geblieben, und um den war sie in ständiger Angst und Sorge. Er war zart und schwächlich und hatte ein so liebliches Gesichtchen wie ein Mädchen. Sie brachte ihn nach der Fabrik zu seinem Paten, der dort Verwalter war, und vermietete sich selbst bei einem Beamten als Kinderfrau. Aber eines Tages lief der Knabe auf dem Hof umher, und da kam auf einmal Maxim Iwanowitsch in seinem Zweispänner angefahren und war gerade wieder einmal angetrunken; der Knabe aber rannte von der Treppe herunter unversehens auf ihn los (er war nämlich gestolpert) und stieß ihn, wie er aus dem Wagen stieg, mit beiden Händen gerade gegen den Bauch. Der packte ihn bei den Haaren und schrie: »Wem gehört der Junge? Ruten her! Haut ihn hier gleich vor meinen Augen durch!« Der Knabe wurde leichenblaß. Sie schlugen ihn, und er schrie. »Du willst auch noch schreien? Haut ihn, bis er aufhört zu schreien!« Aber sie mochten ihn nun viel oder wenig schlagen, er hörte nicht auf zu schreien, bis er wie tot dalag. Da erschraken sie und hielten mit dem Schlagen inne, denn der Knabe atmete nicht und lag bewußtlos da. Später wurde gesagt, sie hätten ihn überhaupt nicht sehr geschlagen, er sei nur sehr schreckhaft gewesen. Auch Maxim Iwanowitsch hatte einen Schreck bekommen. »Wem gehört der Junge?« fragte er; es wurde ihm Auskunft gegeben. »Na so was! Bringt ihn zu seiner Mutter; was hat er sich hier in der Fabrik herumzutreiben?« Darauf schwieg er zwei Tage lang und fragte dann wieder: »Wie geht es dem Jungen?« Aber dem Jungen ging es schlecht: er war krank geworden, lag bei der Mutter in deren elendem Kämmerchen, denn sie hatte aus diesem Anlaß ihre Stelle bei dem Beamten aufgegeben, und es hatte sich bei ihm eine Lungenentzündung entwickelt. »Na so was!« sagte Maxim Iwanowitsch, »und wovon? Sag mal einer! Ja, wenn er stark geschlagen worden wäre; aber es ist ihm ja nur ein ganz kleiner Denkzettel verabreicht worden. Ich habe ja viele andere in ganz gleicher Weise durchhauen lassen, und es ist ohne alle solche Torheiten abgegangen.« Er wartete darauf, daß die Mutter ihn verklagen würde, und schwieg aus Stolz. Aber wie wäre das möglich gewesen? Das wagte die Mutter gar nicht. So schickte er ihr denn aus eigenem Antrieb fünfzehn Rubel und einen Arzt; und zwar tat er das nicht, als ob er irgendwelche Furcht gehabt hätte, sondern einfach, weil er sich die Sache hatte durch den Kopf gehen lassen. Darauf aber kam bald wieder seine Trinkperiode, und er trank drei Wochen lang.

Der Winter ging vorüber, und gerade an dem höchsten Festtag, dem Ostersonntag, fragte Maxim Iwanowitsch wieder: »Wie geht es denn jenem Jungen?« Den ganzen Winter über hatte er geschwiegen und nicht gefragt. Und es wurde ihm geantwortet: »Er ist wieder gesund geworden und lebt bei seiner Mutter, und die geht immer auf Tagelohn.« Da fuhr Maxim Iwanowitsch gleich an demselben Tag zu der Witwe hin, er ging nicht in das Haus hinein, sondern ließ sie ans Tor rufen; er selbst blieb in seinem Wagen sitzen: »Hör mal, du ehrsame Witwe«, sagte er, »ich will deinem Sohn ein wirklicher Wohltäter sein und ihm eine grenzenlose Gnade erweisen: ich werde ihn von hier wegnehmen, zu mir, in mein Haus. Und wenn er mir nur ein wenig gefällt, so werde ich ihm ein ausreichendes Kapital verschreiben; wenn ich aber ganz mit ihm zufrieden bin, so kann ich ihn auch zum Erben meines ganzen Vermögens nach meinem Tode einsetzen wie einen leiblichen Sohn, aber unter der Bedingung, daß Euer Gnaden mein Haus außer an hohen Festtagen nicht betreten. Wenn du damit einverstanden bist, so bringe den Jungen morgen früh zu mir; er kann doch nicht immer nur mit Knöcheln spielen.« Nach diesen Worten fuhr er davon und ließ die Mutter in völliger Fassungslosigkeit zurück. Die Leute, die von diesem Anerbieten hörten, sagten zu ihr: »Wenn der Knabe heranwächst, wird er selbst es dir zum Vorwurf machen, daß du ihn eines solchen Glückes nicht hast teilhaftig werden lassen.« Die ganze Nacht hindurch weinte die Mutter am Bett des Knaben, aber am Morgen brachte sie ihn hin. Der Knabe war mehr tot als lebendig.

Maxim Iwanowitsch kleidete ihn wie einen Herrensohn, nahm einen Lehrer für ihn an und ließ ihn sich sofort an die Bücher setzen, und es kam so weit, daß er ihn gar nicht mehr aus den Augen ließ, sondern immer um ihn war. Sowie der Knabe ein wenig ausspannte, schrie er ihn auch schon an: »Setz dich ans Buch! Lern etwas: ich will dich zu einem tüchtigen Menschen machen!« Der Knabe aber war kränklich; gleich von der Zeit an, wo er geschlagen worden war, hatte er zu husten angefangen. »Hat er bei mir nicht ein gutes Leben?« fragte Maxim Iwanowitsch verwundert. »Bei seiner Mutter ist er barfuß gelaufen und hat Brotrinden gekaut; woher kommt es, daß er jetzt noch kränklicher ist als früher?« Der Lehrer aber erwiderte ihm: »Jeder Knabe muß auch umhertollen und nicht immer nur lernen; er braucht notwendig Bewegung«, und er bewies ihm das alles mit Gründen. Maxim Iwanowitsch dachte nach und sagte dann: »Da hast du recht.« Es war aber dieser Lehrer, namens Pjotr Stepanowitsch – Gott habe ihn selig –, eigentlich ein Halbverrückter; er trank sehr viel, man kann sogar sagen zuviel, und deswegen wurde er schon seit längerer Zeit aus jeder Stelle, die er bekam, bald wieder entlassen und lebte in der Stadt fast nur von milden Gaben, aber er besaß einen guten Verstand und war in den Wissenschaften wohlbewandert. »Ich müßte nicht hier sein«, sagte er selbst von sich, »sondern Professor an einer Universität; hier bin ich im Schmutz versunken, und selbst meine Kleider ekeln sich vor mir.« Maxim Iwanowitsch setzte sich zu dem Knaben hin und schrie ihn an: »Tolle umher!« Der aber wagte in seiner Gegenwart kaum zu atmen. Und es kam so weit, daß das Kind nicht einmal seine Stimme ertragen konnte – gleich fing es am ganzen Leib an zu zittern. Maxim Iwanowitsch aber wunderte sich immer mehr: »Es ist nicht aus ihm klug zu werden; ich habe ihn aus dem Schmutz herausgezogen, ihn in drap de dames gekleidet; er trägt seidene Halbstiefelchen und ein Hemd mit Stickerei; wie einen Generalssohn halte ich ihn: warum ist er zu mir nicht zutraulich? Warum schweigt er immer wie ein kleiner Wolf?« Und obgleich alle Leute schon längst aufgehört hatten, sich über Maxim Iwanowitsch zu wundern, so wunderten sie sich jetzt doch wieder über ihn: der Mensch hatte seine Natur vollständig geändert; er hing an diesem kleinen Knaben und konnte gar nicht von ihm lassen. »Ich will nicht am Leben bleiben«, sagte er, »wenn ich diesen Zug nicht aus seinem Charakter ausrotte. Sein Vater hat mich auf seinem Totenbett, nachdem er schon das Abendmahl genommen hatte, noch verflucht; diesen Charakterzug hat der Knabe von seinem Vater geerbt.« Er bestrafte ihn niemals mit Schlägen (seit jenem Mal hatte er davor Furcht); aber er schüchterte ihn ein, das war's. Er schüchterte ihn ein ohne Schläge.

Und da trug sich nun folgendes zu. Eines Tages war Maxim Iwanowitsch gerade aus dem Zimmer hinausgegangen, da sprang der Knabe von seinem Buch auf und stieg auf einen Stuhl, es war ihm vorher sein Ball auf den Schrank geflogen, und den wollte er sich nun wieder holen, und da blieb er mit dem Ärmel an einer auf dem Schrank stehenden Porzellanlampe hängen; die Lampe fiel krachend auf den Fußboden und zerbrach in tausend Stücke; es schallte durch das ganze Haus, und es war ein kostbarer Gegenstand, sächsisches Porzellan. Maxim Iwanowitsch hörte es vom dritten Zimmer aus und brüllte vor Zorn. In größter Angst rannte der Knabe davon, ohne zu überlegen, wohin; er lief auf die Veranda hinaus und durch den Garten und durch das Hinterpförtchen geradeswegs an das Flußufer. Aber am Flußufer zieht sich dort ein Boulevard entlang, es stehen dort alte Weidenbäume, und es ist eine hübsche Gegend. Er lief zum Wasser hinunter – die Leute sahen es – gerade bei der Stelle, wo die Fähre anlegt, und da schlug er die Hände zusammen – er erschrak wohl vor dem Wasser – und stand wie angewurzelt. Der Fluß aber ist dort breit und hat eine schnelle Strömung, und es fahren dort Frachtschiffe vorüber; auf dem gegenüberliegenden Ufer sind Läden und ein freier Platz, und es steht da eine Kirche mit goldglänzenden Kuppeln. Und da kam gerade die Frau Oberst Fersing mit ihrem Töchterchen eilig zum Anlegeplatz der Fähre, um überzufahren; es lag nämlich dort ein Infanterieregiment in Garnison. Das Töchterchen, ebenfalls ein Kind von ungefähr acht Jahren, hatte ein weißes Kleidchen an; sie sah den Knaben an und lachte, in der Hand aber trug sie so ein kleines Spankörbchen, wie sie die Bauern haben, und in dem Körbchen einen kleinen Igel. »Sehen Sie nur, Mamachen«, sagte sie, »wie der Junge mein Igelchen ansieht.« – »Nein«, antwortete die Frau Oberst, »er ist über etwas erschrocken. Worüber bist du denn so erschrocken, du netter Junge?« (So haben sie das alles nachher erzählt.) »Und was für ein netter Junge es ist«, sagte sie, »und wie gut gekleidet; wem gehörst du denn, Jungchen?« fragte sie. Er aber hatte noch keinen Igel gesehen, trat näher heran, besah ihn und hatte schon alles vergessen – wie das bei Kindern so ist! »Was ist denn das, was Sie da haben?« fragte er. – »Das ist ein Igel«, sagte die Dame, »wir haben ihn soeben von einem Bauern gekauft; er hat ihn im Wald gefunden.« – »Was ist das für ein Ding, ein Igel?« fragte er und lachte sehr und tippte ihn mit dem Finger an; der Igel aber sträubte seine Stacheln, und das Mädchen freute sich über den Jungen. »Wir wollen ihn mit nach Hause nehmen und zahm machen«, sagte sie. – »Ach«, sagte er, »schenken Sie mir doch Ihren Igel!« Und er bat darum in so rührender Weise, aber kaum hatte er diese Bitte ausgesprochen, als auf einmal Maxim Iwanowitsch von oben, vom Abhang her, schrie: »Ah, da bist du ja! Haltet ihn fest!« (Er war so wütend, daß er ihm ohne Mütze vom Hause her nachgerannt war.) Da fiel dem Knaben alles wieder ein; er schrie auf, stürzte zum Wasser hin, drückte seine beiden kleinen Fäuste gegen die Brust, blickte gen Himmel (das haben die Leute gesehen, ja, das haben sie gesehen!) – und platsch! warf er sich ins Wasser. Na, die Leute schrien auf; einige stürzten sich an der Fähre ins Wasser und versuchten ihn zu fassen, aber das Wasser hatte ihn schon fortgeführt; die Strömung war stark, und als man ihn endlich herauszog, hatte er schon zuviel Wasser geschluckt – er war tot. Er war ja nur schwach auf der Brust gewesen und hatte das Wasser nicht vertragen, und wieviel braucht denn auch ein solches Bürschchen? Und seit Menschengedenken war es in jenen Gegenden nicht vorgekommen, daß ein so kleines Kind sich das Leben genommen hatte! So eine Sünde! Und was kann dieses kleine Seelchen in jener Welt Gott dem Herrn antworten?

Über diesen Vorfall machte sich nun Maxim Iwanowitsch seitdem viele Gedanken. Und der Mensch veränderte sich dermaßen, daß er gar nicht wiederzuerkennen war. Er war ganz tiefsinnig geworden. Er wollte es mit dem Trinken versuchen, er trank viel, ließ es dann aber wieder, weil es doch nicht half. Er fuhr auch nicht mehr nach der Fabrik; wenn ihm jemand etwas sagte, hörte er nicht darauf hin; er schwieg dann nur oder winkte mit der Hand ab. So verbrachte er ungefähr zwei Monate, dann begann er mit sich selbst zu sprechen, ging umher und sprach mit sich selbst. Das in der Nähe der Stadt gelegene Dörfchen Waskowa war abgebrannt, neun Häuser waren niedergebrannt; Maxim Iwanowitsch fuhr hin, um es sich anzusehen. Die Abgebrannten umringten ihn jammernd – er versprach, ihnen zu helfen, und gab Befehl dazu, aber dann rief er seinen Verwalter und nahm alles wieder zurück. »Es soll ihnen nichts gegeben werden«, sagte er, ohne einen Grund dafür zu nennen. »Gott hat mich«, sagte er, »wie eine Art Ungeheuer gesandt, um die Menschen niederzutreten; so mag es denn so sein! Wie der Wind«, sagte er, »hat sich mein Ruf überallhin verbreitet.«

Der Archimandrit kam selbst zu ihm; er war ein ernster alter Mann und hatte im Kloster das Konvikt eingeführt. »Was ist denn mit dir?« fragte er ihn in strengem Ton. –

»Hier steht es, was mit mir ist«, antwortete Maxim Iwanowitsch, schlug das Buch auf und zeigte dem Archimandriten die Stelle:

»Wer aber ärgert dieser Geringsten einen, die an mich glauben, dem wäre besser, daß ein Mühlstein an seinen Hals gehänget und er ersäuft würde im Meer, da es am tiefsten ist« (Matth. l8, 6).

»Ja«, sagte der Archimandrit, »wenn dieses auch nicht geradezu von deinem Fall gesagt ist, so steht es doch damit in Berührung. Es ist ein Unglück, wenn ein Mensch das rechte Maß verliert; ein solcher Mensch geht zugrunde. Du aber hast dich zuviel gedünkt.«

Aber Maxim Iwanowitsch saß da wie erstarrt. Der Archimandrit blickte ihn lange an.

»Hör zu«, sagte er, »und präge es dir wohl ein! Es stehet geschrieben: ›Die Worte eines Verzweifelten fliegen im Winde dahin.‹ Und bedenke noch dies, daß auch die Engel Gottes nicht vollkommen sind; vollkommen aber und sündlos ist nur unser Herr Jesus Christus, und ihm dienen die Engel. Du hast ja aber den Tod dieses Knaben nicht gewollt, sondern bist nur unbedachtsam gewesen. Siehst du«, sagte er, »eines verwundert mich: du hast doch so viele noch schlimmere Übeltaten begangen, hast so viele Menschen an den Bettelstab gebracht, so viele ins Verderben gestürzt und zugrunde gerichtet, ebenso als hättest du sie totgeschlagen. Und sind nicht gerade die Schwestern dieses Knaben noch vor ihm alle dahingestorben, all die vier kleinen Kinderchen, und fast vor deinen Augen? Woher kommt es nun, daß dich gerade der Tod dieses einen so ergriffen hat? Alle früheren hast du ja, wie ich glaube, nicht bemitleidet; ja, du hast wohl nicht einmal an sie gedacht. Warum hat dich denn der Tod dieses Knaben so verstört, obwohl du doch daran nicht so besondere Schuld trägst?«

»Ich träume von dem Knaben«, antwortete Maxim Iwanowitsch.

»Nun, und?«

Aber der teilte ihm weiter nichts mit, sondern saß da und schwieg. Der Archimandrit wunderte sich, mußte aber wegfahren, ohne mehr gehört zu haben: es war da weiter nichts zu machen.

Und Maxim Iwanowitsch ließ den Lehrer, jenen Pjotr Stepanowitsch, zu sich rufen; seit dem Unglückstag hatten sie einander noch nicht wiedergesehen.

»Denkst du daran?« sagte er.

»Ja, ich denke daran«, antwortete der andere.

»Du hast«, sagte er, »hier für ein Wirtshaus Bilder mit Ölfarbe gemalt, und auch von dem Porträt des Bischofs hast du eine Kopie gemacht. Kannst du mir ein Bild mit Ölfarbe malen?«

»Ich kann alles«, sagte der, »ich besitze jedes Talent«, sagte er, »und kann alles.«

»Nun, dann male mir ein ganz großes Bild, so groß wie die ganze Wand, und male darauf vor allen Dingen den Fluß und den Abhang und die Fähre, und es müssen auch alle Leute, die damals mit dabei waren, die müssen auch mit darauf sein. Auch die Frau Oberst und das Mädchen müssen mit darauf sein, und auch der kleine Igel. Und auch das andere Ufer male mir hin, daß man es sehen kann, wie es wirklich ist: die Kirche und der freie Platz und die Läden und wo die Droschken stehen – alles male mir so, wie es ist. Und da, bei der Überfahrt, den Jungen, dicht am Fluß, an eben jener Stelle, und er soll unbedingt die beiden Fäustchen so gegen die Brust drücken, gegen die beiden Brustwarzen. So soll es unbedingt sein. Und auf dem anderen Ufer mußt du vor ihm über der Kirche den Himmel auftun, und alle Engel im Himmelreich müssen ihm entgegenfliegen. Kannst du das darstellen oder nicht?«

»Ich kann alles.«

»Nicht als ob ich so einen Stiesel wie dich nötig hätte; ich könnte mir auch den ersten Maler aus Moskau kommen lassen oder meinetwegen sogar aus London, aber du hast sein Gesicht im Gedächtnis. Wenn er unähnlich wird oder nur wenig ähnlich, dann gebe ich dir nur fünfzig Rubel, aber wenn er ganz ähnlich wird, dann gebe ich dir zweihundert Rubel. Denk daran: die Augen waren blau ... Und es soll ein ganz, ganz großes Bild werden.«

Es wurden alle Vorbereitungen getroffen, und Pjotr Stepanowitsch fing an zu malen, aber auf einmal kam er wieder an:

»Nein«, sagte er; »in der Weise kann man das nicht malen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil diese Sünde, der Selbstmord, die größte von allen Sünden ist. Wie können ihn denn nach einer solchen Sünde die Engel empfangen?«

»Aber er war doch noch ein kleines Kind, ihm wird es nicht angerechnet.«

»Nein, ein kleines Kind war er nicht mehr, er war doch schon herangewachsen; acht Jahre war er alt, als er das tat. Ein bißchen Rechenschaft wird er doch auch ablegen müssen.«

Da erschrak Maxim Iwanowitsch noch mehr.

»Aber«, sagte Pjotr Stepanowitsch, »ich habe mir das so ausgedacht: den Himmel wollen wir nicht auftun, und auch Engel zu malen ist hierbei nicht passend; aber ich werde aus dem Himmel, wie zu seiner Begrüßung, einen Strahl herabkommen lassen, nur so einen einzigen hellen Strahl: es ist ja ganz gleich, wenn nur etwas vom Himmel kommt.«

So ließen sie denn den Strahl herabkommen. Ich habe selbst später das Bild gesehen und diesen selben Strahl und den Fluß; über die ganze Fläche hatte der Maler ihn hingezogen, ganz blau; und auch der kleine Knabe war da, beide Händchen preßte er gegen die Brust; und auch das kleine Fräulein und das Igelchen, alles hatte er dargestellt. Aber Maxim Iwanowitsch ließ damals keinen Menschen das Bild sehen, sondern hielt es in seinem Zimmer vor jedem Auge verschlossen. Die Leute in der Stadt brannten vor Begierde, das Bild zu sehen; er ließ jeden, der kam, davonjagen. Das gab ein großes Gerede. Pjotr Stepanowitsch aber war vor Stolz wie verrückt: »Ich kann jetzt geradezu alles«, sagte er, »mein Platz ist jetzt nur am Hof in Petersburg.« Er war ein sehr liebenswürdiger Mensch, aber er neigte zu maßloser Überheblichkeit. Und so ereilte ihn sein Schicksal: sobald er die ganzen zweihundert Rubel bekommen hatte, fing er gleich an zu trinken, allen Leuten sein Geld zu zeigen und zu prahlen; und als er in der Nacht betrunken war, erschlug ihn ein Kleinbürger aus unserer Stadt, mit dem er zusammen getrunken hatte, und raubte das Geld; das alles kam gleich am nächsten Morgen zutage.

Die ganze Sache aber nahm ein so merkwürdiges Ende, daß die Leute dort auch jetzt noch viel davon reden. Auf einmal kam Maxim Iwanowitsch wieder bei jener selben Witwe angefahren: sie hatte sich am Rande der Stadt bei einer Kleinbürgerin in einem elenden Häuschen eingemietet. Diesmal ging er ins Haus hinein, trat vor sie hin und verbeugte sich bis zur Erde. Sie aber war seit jenen Schicksalsschlägen krank und konnte sich kaum bewegen. »Mütterchen«, bat er flehentlich, »ehrsame Witwe, heirate mich Unmenschen, mach es mir möglich, auf der Welt weiterzuleben!« Die sah ihn an und war mehr tot als lebendig. »Ich möchte«, sagte er, »daß uns noch ein Knabe geboren wird, und wenn uns einer geboren wird, dann bedeutet das, daß uns jener Knabe verziehen hat, dir und mir. Das hat mir der Knabe befohlen.« Sie sah, daß der Mensch nicht seinen rechten Verstand hatte, sondern wie von Sinnen war, aber sie konnte sich doch nicht beherrschen, sondern antwortete ihm:

»Das ist lauter Torheit und nur Kleinmütigkeit. Durch diese selbe Kleinmütigkeit habe ich alle meine Kinderchen verloren. Ich kann nicht einmal Ihren Anblick ertragen, geschweige denn, daß ich eine solche lebenslängliche Qual auf mich nehmen würde.«

Maxim Iwanowitsch fuhr wieder weg, gab aber sein Vorhaben nicht auf. Die ganze Stadt sprach laut von diesem wunderbaren Ereignis. Maxim Iwanowitsch aber schickte Brautwerberinnen zu ihr. Er ließ aus der Hauptstadt des Gouvernements zwei Tanten von sich kommen, die dort als Kleinbürgerinnen lebten. Ob es nun richtige Tanten waren oder nicht, jedenfalls waren es Verwandte von ihm, also für die Witwe eine Ehre; die fingen nun an, ihr zuzureden, suchten sie durch Schmeicheleien herumzubekommen und wichen gar nicht aus dem Hause. Er schickte auch Frauen aus der Stadt zu ihr, Kaufmannsfrauen und die Frau des ersten Geistlichen und Beamtenfrauen; die ganze Stadt drang auf sie ein; sie aber antwortete mit heftigem Widerwillen: »Ja, wenn meine Waisen noch davon lebendig würden, aber was hat es jetzt für einen Zweck? Und wie sehr würde ich mich dadurch gegen meine Waisen versündigen!« Auch den Archimandriten brachte Maxim Iwanowitsch auf seine Seite, und der gab ihr zu verstehen: »Du kannst ihn zu einem neuen Menschen machen!« Und sie entsetzte sich. Die Leute aber wunderten sich über sie: »Wie ist das nur möglich, ein solches Glück von sich zu stoßen?« Und nun hört, wodurch er schließlich ihren Widerstand doch besiegte! »Er ist doch immer ein Selbstmörder«, sagte er, »und war kein kleines Kind mehr, sondern schon herangewachsen, und bei seinem Alter hätte man ihn direkt vom heiligen Abendmahl ausgeschlossen, und daher hat er für seine Tat doch bis zu einem bestimmten Grade Gott dem Herrn Rechenschaft abzulegen. Wenn du aber meine Ehefrau wirst, so tue ich ein großes Gelübde: ich werde ein neues Gotteshaus erbauen, einzig und allein zum ewigen Gedächtnis seiner Seele.« Dem konnte sie nicht widerstehen, und sie willigte ein. So wurden sie denn getraut.

Und es kam so, daß sich alle wunderten. Sie lebten gleich vom ersten Tage an in großer, ungeheuchelter Eintracht, beobachteten gewissenhaft ihre Pflichten als Eheleute und waren wie eine Seele in zwei Leibern. Sie wurde schon in demselben Winter schwanger, und sie besuchten nun viele Gotteshäuser und zitterten vor Gottes Zorn. Sie waren auch in drei Klöstern und merkten auf die Prophezeiungen, die sie da erhielten. Er erbaute seinem Gelübde gemäß eine Kirche und errichtete in der Stadt ein Krankenhaus und ein Armenhaus. Er setzte ein Kapital aus für Witwen und Waisen. Und er gedachte an alle, die er geschädigt hatte, und suchte es wiedergutzumachen; er gab in maßloser Weise Geld hin, so daß schon seine Frau und der Archimandrit ihm Einhalt taten und sagten: »Das ist bereits völlig ausreichend.« Maxim Iwanowitsch gehorchte ihnen, nur sagte er: »Ich habe damals Foma zuwenig Lohn gegeben.« Nun, Foma bekam das Seinige. Foma aber fing geradezu an zu weinen und sagte: »Ich war ja auch so schon ... ich war auch ohne das ganz zufrieden und werde lebenslänglich für Sie beten.« Alle waren durch dieses Verhalten ganz gerührt, und es bestätigte sich die Wahrheit des Sprichworts, daß das gute Beispiel den Menschen am Leben erhält. Und die Leute dort sind gutherzig.

Die Leitung der Fabrik übernahm nun die Frau selbst, und sie machte das so gut, daß noch jetzt davon gesprochen wird. Zu trinken hatte er nicht aufgehört, aber sie fing an, ihn gerade in den betreffenden Tagen zu beaufsichtigen und ihn dann zu kurieren. Seine Art zu sprechen wurde ruhig und gemessen, und sogar seine Stimme veränderte sich. Er wurde außerordentlich mitleidig, sogar gegen die Tiere: wenn er vom Fenster aus sah, wie ein Bauer sein Pferd unbarmherzig mit der Peitsche gegen den Kopf schlug, so schickte er sogleich hin und kaufte ihm das Pferd für das Doppelte des Wertes ab. Auch hatte er die Gabe der Tränen erhalten: er brach immer in Tränen aus, wenn jemand mit ihm von etwas Rührendem zu reden anfing. Als aber für die Frau die Zeit gekommen war, da erhörte Gott endlich die Gebete der beiden und schenkte ihnen einen Sohn, und Maxim Iwanowitsch wurde zum erstenmal seit jenem Ereignis wieder heiter; er verteilte viele Almosen, erließ viele Schulden und lud die ganze Stadt zur Taufe ein. Er hatte die ganze Stadt eingeladen; aber als er am andern Tag aus seinem Zimmer kam, war er finster wie die Nacht. Die Frau sah, daß mit ihm etwas vorgegangen war, und brachte ihm den Neugeborenen: »Der Knabe«, sagte sie, »hat uns verziehen; unsere Tränen und unsere Gebete haben ihn gerührt.« Es muß aber gesagt werden, daß sie darüber während des ganzen Jahres niemals auch nur ein Wort miteinander gesprochen hatten; sie hatten beide diesen Gedanken nur in ihrem Herzen bewahrt. Und Maxim Iwanowitsch sah sie an mit einem Gesicht finster wie die Nacht und sagte: »Freue dich nicht zu früh; er ist das ganze Jahr über nicht gekommen, aber in dieser Nacht ist er mir wieder erschienen.« – »Da drang bei diesen schrecklichen Worten zum ersten Male die Angst auch in mein Herz ein«, äußerte sie später.

Und nicht umsonst hatte Maxim Iwanowitsch von dem Knaben geträumt. Kaum hatte er das ausgesprochen, als beinahe sozusagen in demselben Augenblick etwas mit dem Neugeborenen vorging: er erkrankte plötzlich. Und das Kind war acht Tage lang krank, und sie beteten unermüdlich und riefen Doktoren herbei und ließen den allerersten Doktor aus Moskau mit der Eisenbahn kommen. Der Doktor kam und wurde sehr ärgerlich: »Ich bin der allererste Doktor«, sagte er, »ganz Moskau wartet auf mich.« Er verschrieb dem Kinde Tropfen und reiste eilig wieder ab. Achthundert Rubel nahm er mit. Aber das Kindchen starb am Abend.

Und was geschah danach? Maxim Iwanowitsch überschrieb sein ganzes Besitztum seiner lieben Frau, übergab ihr alle seine Kapitalien und Dokumente und erledigte alles regelrecht und in gesetzlicher Ordnung; dann aber trat er vor sie hin und verbeugte sich vor ihr bis zur Erde: »Laß mich ziehen, teure Gattin«, sagte er, »damit ich meine Seele rette, solange es noch möglich ist. Wenn es mir nicht gelingt, für meine Seele einen Erfolg zu erzielen, so werde ich nicht mehr zurückkehren. Ich bin hart und grausam gewesen und habe anderen das Leben schwer gemacht, aber ich meine, daß der Herr das Leid und die Pilgerfahrten, die mir bevorstehen, nicht unbelohnt lassen wird, denn all dies zu verlassen ist kein kleines Kreuz und kein kleines Leid.« Und seine Frau redete ihm unter vielen Tränen gütlich zu, er möchte doch dableiben: »Du bist jetzt der einzige, den ich auf Erden habe; auf wen soll ich mich stützen, wenn du mich verläßt? Ich habe dich in diesem Jahr von Herzen liebgewonnen«, sagte sie. Und die ganze Stadt suchte ihn einen ganzen Monat lang von seinem Vorhaben abzubringen, und sie baten ihn und wollten ihn mit Gewalt zurückhalten. Aber er hörte nicht auf sie und ging heimlich in einer Nacht fort und kehrte nicht mehr zurück. Und wie man hört, zieht er noch bis auf den heutigen Tag mühselig in Geduld als Pilger umher und schickt seiner lieben Frau jährlich einmal Nachricht von sich.


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