F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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VI

Natürlich ist zwischen dem Menschen, der ich jetzt bin, und dem, der ich damals war, ein unermeßlicher Unterschied.

Immer noch ohne eine Spur von Beschämung zu empfinden, holte ich auf der Treppe Wassin ein. Ich ließ Krafft wie eine Persönlichkeit zweiten Ranges vorausgehen und fragte Wassin mit der harmlosesten Miene, als wäre nichts geschehen:

»Sie kennen, glaube ich, meinen Vater, ich meine Wersilow?«

»Eigentlich bekannt bin ich mit ihm nicht«, antwortete Wassin sofort (und ohne den geringsten Beiklang jener beleidigenden, raffinierten Höflichkeit, deren sich zartfühlende Leute zu bedienen pflegen, wenn sie zu jemand sprechen, der sich soeben blamiert hat), »aber ich kenne ihn einigermaßen; ich bin mit ihm zusammengetroffen und habe ihn reden hören.«

»Wenn Sie ihn haben reden hören, dann kennen Sie ihn natürlich auch, denn Sie sind eben Sie! Wie denken Sie über ihn? Verzeihen Sie die plötzliche Frage, aber es liegt mir daran, es zu wissen. Gerade wie Sie über ihn denken, speziell Ihre Meinung zu hören, ist für mich eine dringende Notwendigkeit.«

»Da fragen Sie mich viel auf einmal. Ich halte ihn für einen Menschen, der fähig ist, gewaltige Ansprüche an sich zu stellen und sie vielleicht auch zu erfüllen, der aber niemandem über sein Tun Rechenschaft ablegen mag.«

»Das ist richtig, das ist sehr richtig; er ist ein sehr stolzer Mensch! Aber ist er auch ein reiner Mensch? Sagen Sie, wie denken Sie über seinen Katholizismus? Aber ich habe nicht daran gedacht, daß es Ihnen vielleicht unbekannt ist ...«

Wenn ich nicht so aufgeregt gewesen wäre, hätte ich ihn nicht so ohne weiteres mit solchen Fragen überschüttet, einen Menschen, mit dem ich noch nie gesprochen, sondern über den ich nur einiges gehört hatte. Ich wunderte mich darüber, daß Wassin mein verrücktes Benehmen nicht zu bemerken schien!

»Auch davon habe ich etwas gehört, weiß aber nicht, inwieweit die Nachricht zuverlässig ist«, antwortete er mit derselben Ruhe und Schlichtheit wie vorher.

»Es ist eine grobe Unwahrheit! Man dichtet ihm das nur an! Meinen Sie denn, daß er an Gott glauben kann?«

»Er ist ein sehr stolzer Mensch, wie Sie soeben selbst gesagt haben; viele sehr stolze Menschen lieben es aber, an Gott zu glauben, besonders solche, die gegenüber ihren Mitmenschen eine gewisse Geringschätzung empfinden. Viele starke Menschen haben, wie es scheint, ein natürliches Bedürfnis, irgend jemand oder irgend etwas zu finden, wovor sie sich beugen können. Für einen starken Menschen ist es manchmal sehr schwer, seine Stärke zu ertragen.«

»Hören Sie, das ist sicherlich außerordentlich wahr!« rief ich wieder. »Ich möchte nur gern verstehen, warum ...«

»Der Grund ist ja klar: sie wählen Gott, um sich nicht vor Menschen zu beugen; natürlich haben sie selbst von diesem psychologischen Vorgang keine Kenntnis: sich vor Gott zu beugen, ist nicht so demütigend. Aus ihnen werden die eifrigsten Gläubigen – richtiger gesagt, diejenigen, die den eifrigsten Wunsch zu glauben haben; aber diesen Wunsch halten sie für den Glauben selbst. Gerade von ihnen empfinden schließlich nicht wenige ein Gefühl der Enttäuschung. Von Herrn Wersilow glaube ich, daß eine große Aufrichtigkeit ein besonderer Zug seines Charakters ist. Er hat überhaupt mein Interesse erregt.«

»Wassin!« rief ich, »Sie machen mir eine große Freude! Ich bin nicht über Ihren Verstand erstaunt, sondern darüber, wie Sie, ein so herrlicher und so unermeßlich hoch über mir stehender Mann, mit mir gehen und so schlicht und freundlich mit mir reden mögen, als ob nichts vorgefallen wäre!«

Wassin lächelte.

»Sie loben mich denn doch zu sehr, und vorgefallen ist doch weiter nichts, als daß Sie eine zu große Neigung zu abstrakten Gesprächen bekundet haben. Wahrscheinlich haben Sie vorher sehr lange geschwiegen.«

»Ich habe drei Jahre lang geschwiegen und mich drei Jahre lang auf das Reden vorbereitet ... Als Dummkopf konnte ich Ihnen natürlich nicht erscheinen, weil Sie selbst so überaus klug sind, obwohl es unmöglich war, sich dümmer zu benehmen, als ich es getan habe, aber für einen Schuft konnten Sie mich halten.«

»Für einen Schuft?«

»Ja, gewiß! Sagen Sie, verachten Sie mich nicht im stillen deswegen, weil ich gesagt habe, ich sei ein illegitimer Sohn Wersilows ... weil ich mich gerühmt habe, der Sohn eines Hofknechts zu sein?«

»Sie quälen sich selbst zu sehr. Wenn Sie finden, daß Sie nicht gut gesprochen haben, so brauchen Sie es ja nur das nächste Mal anders zu machen; Sie haben noch fünfzig Jahre vor sich.«

»Oh, ich weiß, daß ich im Verkehr mit Menschen sehr schweigsam sein muß. Der gemeinste von allen Fehlern ist, sich jemandem an den Hals zu werfen; das habe ich denen soeben gesagt, und doch werfe ich mich Ihnen jetzt an den Hals! Aber es ist doch ein Unterschied, nicht wahr? Wenn Sie diesen Unterschied erkannt haben, wenn Sie imstande gewesen sind, ihn zu erkennen, dann will ich diesen Augenblick segnen.«

Wassin lächelte wieder.

»Kommen Sie zu mir, wenn Sie Lust dazu haben«, sagte er. »Ich habe allerdings jetzt eine Arbeit vor, die mich stark in Anspruch nimmt, aber Sie werden mir eine Freude machen.«

»Ich glaubte vorhin aus Ihrem Gesicht schließen zu können, daß Sie gar zu ablehnend und schweigsam seien.«

»Das ist vielleicht sehr richtig. Ich habe Ihre Schwester Lisaweta Makarowna im vorigen Jahr in Luga kennengelernt ... Krafft ist stehengeblieben und wartet auf Sie, wie es scheint; er muß hier abbiegen.«

Ich drückte Wassin kräftig die Hand und lief zu Krafft hin, der während meines Gesprächs mit Wassin immer vorangegangen war. Wir gingen schweigend bis zu seiner Wohnung; ich wollte und konnte noch nicht mit ihm reden. In Kraffts Charakter war einer der am stärksten ausgeprägten Züge das Zartgefühl.


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