F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Achtes Kapitel

I

Am nächsten Morgen gab ich mir Mühe, möglichst früh aufzustehen. Gewöhnlich standen wir gegen acht Uhr auf, das heißt ich, meine Mutter und meine Schwester; Wersilow gönnte es sich, bis halb zehn im Bett zu bleiben. Punkt halb neun brachte mir meine Mutter immer den Kaffee. Aber diesmal schlüpfte ich, ohne auf den Kaffee zu warten, Punkt acht Uhr aus dem Hause. Ich hatte mir schon am vorhergehenden Abend einen allgemeinen Operationsplan für diesen ganzen Tag zurechtgelegt. Trotz meiner leidenschaftlichen Entschlossenheit, unverzüglich an die Ausführung dieses Plans zu gehen, fühlte ich doch schon, daß er gerade in den wichtigsten Punkten sehr viel Unsicheres und Unbestimmtes enthielt; dies war der Grund, weswegen ich mich fast die ganze Nacht in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachen befunden, geradezu phantasiert, schrecklich viel geträumt und fast nie richtig geschlafen hatte. Trotzdem war ich beim Aufstehen munterer und frischer als je zuvor. Besonders war ich darauf bedacht, ein Zusammentreffen mit meiner Mutter zu vermeiden. Ich hätte mit ihr doch über nichts anderes reden können als über ein gewisses Thema und fürchtete, irgendeine neue, unerwartete Empfindung könne mich von den ins Auge gefaßten Zielen ablenken.

Der Morgen war kalt, und auf allem lag ein feuchter, milchiger Nebel. Ich weiß nicht warum, aber der frühe, geschäftige Petersburger Morgen gefällt mir immer trotz seines überaus häßlichen Aussehens, und dieser ganze an sein Tagewerk eilende, egoistische, stets nachdenkliche Menschenschwarm hat für mich um acht Uhr morgens etwas besonders Anziehendes. Besonders liebe ich es, unterwegs in der Eile entweder selbst jemanden nach etwas Sachlichem zu fragen oder von ihm gefragt zu werden: sowohl die Frage als auch die Antwort sind immer kurz, deutlich, unmißverständlich; sie werden gewechselt, ohne daß man stehenbleibt, und fast immer in freundlichem Ton, und die Bereitwilligkeit zum Antworten ist größer als zu irgendeiner andern Tageszeit. Der Petersburger wird zu Mittag und gegen Abend weniger mitteilsam und neigt dann sogar dazu, einen auszuschimpfen oder auszulachen; ganz anders ist er frühmorgens, noch vor der Arbeit, in der nüchternsten, ernsthaftesten Tageszeit. Das habe ich beobachtet.

Ich begab mich wieder auf die Petersburger Seite. Da ich zwischen elf und zwölf unter allen Umständen wieder an der Fontanka bei Wassin sein mußte (der am häufigsten um zwölf Uhr zu Hause anzutreffen war), so beeilte ich mich und hielt mich nirgends auf, obgleich ich die größte Lust hatte, irgendwo Kaffee zu trinken. Zudem mußte ich auch Jefim Swerjew unbedingt noch zu Hause treffen; ich ging wieder zu ihm und wäre in der Tat beinahe zu spät gekommen; er hatte seinen Kaffee schon ausgetrunken und schickte sich an fortzugehen.

»Was führt dich denn so oft zu mir?« sagte er zur Begrüßung, ohne aufzustehen.

»Das werde ich dir sogleich erklären.«

Jeder frühe Morgen, und so auch der Petersburger, übt auf die menschliche Natur eine ernüchternde Wirkung aus. Mancher flammende, phantastische Nachtgedanke verflüchtigt sich beim Morgenlicht und in der Morgenkälte vollständig, und es ist mir selbst manchmal begegnet, daß ich morgens mit Selbstvorwürfen und Scham mich meiner soeben erst vergangenen nächtlichen Phantastereien – mitunter waren es sogar Taten gewesen – erinnerte. Aber im Vorbeigehen möchte ich doch bemerken, daß ich den Petersburger Morgen, mag er auch der prosaischste auf dem ganzen Erdball scheinen, doch beinahe für den phantastischsten auf der Welt halte. Das ist meine persönliche Anschauung oder, richtiger gesagt, meine persönliche Empfindung, aber ich stehe dafür ein. An einem solchen modrigen, feuchten, nebligen Petersburger Morgen muß, wie ich meinen möchte, der wilde Gedanke so eines Puschkinschen Hermann aus der »Pique-Dame« noch stärker und kräftiger werden (beiläufig: eine kolossale Persönlichkeit, dieser Hermann, ein ungewöhnlicher, echt Petersburger Typ, ein Typ aus der Petersburger Periode!). Hundertmal ist mir inmitten dieses Nebels der seltsame, zudringliche Gedanke gekommen: »Wie, wenn dieser Nebel sich zerteilt und in die Höhe steigt? Wird dann vielleicht mit ihm zugleich auch diese ganze modrige, glitschige Stadt davongehen, sich in die Höhe heben und wie ein Rauch verschwinden und der frühere finnische Sumpf zurückbleiben, und mitten darin vielleicht zum Schmuck der eherne Reiter auf dem schwer keuchenden, abgehetzten Pferd?« Kurz, ich kann meine Empfindungen nicht ausdrücken, weil das alles Phantasie ist oder Poesie, also Unsinn; aber doch trat und tritt mir oft eine völlig sinnlose Frage entgegen: »Da hasten und rennen sie nun alle dahin, aber woher kann man's wissen, vielleicht ist das alles nur ein Traum, und es gibt hier überhaupt keinen einzigen wirklichen, richtigen Menschen und keine einzige wirkliche Handlung? Und der Betreffende, der das alles träumt, erwacht plötzlich, und alles verschwindet.« Aber ich bin von meinem Gegenstand abgeirrt.

Ich will im voraus sagen: es kommen im Leben eines jeden Projekte und Pläne vor, die scheinbar so exzentrisch sind, daß man sie auf den ersten Blick unbedenklich für Wahnsinn halten kann. Mit einem solchen phantastischen Einfall kam ich an diesem Morgen zu Swerjew – zu Swerjew, weil ich sonst niemand in Petersburg hatte, an den ich mich in dieser Angelegenheit hätte wenden können. Aber dabei war gerade Jefim eine Persönlichkeit, an die ich mich, wenn ich die Wahl gehabt hätte, mit einem solchen Anliegen zuallerletzt gewendet hätte. Als ich mich ihm gegenübergesetzt hatte, schien es mir sogar selbst, daß ich, der personifizierte Fieberwahn, der personifizierten goldenen Mittelmäßigkeit und Prosa gegenübersaß. Aber auf meiner Seite war die Idee und das richtige Gefühl, auf der seinigen nur die praktische Erwägung, daß man nie so handle. Kurz gesagt, ich erklärte ihm mit wenigen, deutlichen Worten, daß ich außer ihm in Petersburg absolut niemand hätte, den ich in einer ungewöhnlichen Ehrensache als Sekundanten schicken könne; er sei ein alter Schulkamerad von mir und daher nicht einmal berechtigt, sich zu weigern; fordern wolle ich den Gardeleutnant Fürst Sokolskij, weil er vor mehr als einem Jahre in Ems meinem Vater Wersilow eine Ohrfeige gegeben habe. Ich bemerke hierbei, daß Jefim über alle meine Familienverhältnisse, über meine Beziehungen zu Wersilow und beinahe über alles, was ich selbst von Wersilows Vorleben wußte, sehr genaue Kenntnisse besaß; ich hatte es ihm zu verschiedenen Zeiten selbst mitgeteilt, natürlich mit Ausnahme gewisser Geheimnisse. Er saß da und hörte zu, wie es seine Gewohnheit war, – schweigsam und ernsthaft, mit seinem struppigen weißen Haar sah er aus wie ein Sperling, der im Käfig sein Gefieder sträubt. Ein unbewegliches, spöttisches Lächeln wich nicht von seinen Lippen. Dieses Lächeln war um so häßlicher anzusehen, als es ganz unbeabsichtigt, unwillkürlich war; man sah, daß er sich wirklich und wahrhaftig mir in diesem Augenblick an Verstand und Charakter weit überlegen vorkam. Auch hatte ich den Verdacht, daß er mich außerdem wegen der gestrigen Szene bei Dergatschew verachtete; das konnte ja auch nicht anders sein: Jefim gehörte zur großen Masse, zur Straße, und diese beugt sich nur vor dem Erfolg.

»Und Wersilow weiß nichts davon?« fragte er.

»Selbstverständlich nicht.«

»Was hast du dann also für ein Recht, dich in seine Angelegenheiten einzumischen? Das ist das eine. Und zweitens: was willst du denn damit beweisen?«

Ich hatte diese Einwände vorhergesehen und setzte ihm sofort auseinander, daß mein Verfahren durchaus nicht so dumm sei, wie er meine: Erstens werde diesem frechen Fürsten dadurch der Beweis geliefert werden, daß es auch in unserem Stand noch Menschen gebe, die ein Gefühl für Ehre hätten, und zweitens werde Wersilow beschämt werden und eine gute Lektion erhalten. Drittens aber – und das sei die Hauptsache –, selbst wenn Wersilow recht daran getan haben sollte, daß er auf Grund irgendwelcher moralischer Anschauungen den Fürsten nicht gefordert und sich dafür entschieden habe, die Ohrfeige einzustecken, so werde er doch wenigstens einsehen, daß es ein Wesen gebe, das die zugefügte Beleidigung so stark wie eine eigene empfinde, als sei sie ihm selbst widerfahren, und für seine (Wersilows) Interessen sogar das Leben hinzugeben bereit sei ... obwohl es sich von ihm für immer trennen werde.

»Warte mal, schrei nicht so! Meine Tante mag das nicht. Sag mal, mit diesem selben Fürsten Sokolskij prozessiert Wersilow ja wohl wegen einer Erbschaft? Wenn das zutrifft, dann wäre es ja ein neues, originelles Mittel, einen Prozeß zu gewinnen: man tötet den Prozeßgegner im Duell.«

Ich erklärte ihm en toutes lettres, daß er ein Dummkopf und ein Frechling sei; wenn sein spöttisches Lächeln immer ärger werde, so beweise das nur seine Selbstgefälligkeit und seine ordinäre Denkweise; er könne doch nicht annehmen, daß der Gedanke an den Prozeß nicht auch mir gekommen sei, und zwar gleich zu Anfang, sondern nur in seinem geistvollen Kopf aufgeblitzt sei. Darauf setzte ich ihm auseinander, daß der Prozeß bereits gewonnen sei; überdies sei er nicht mit dem einen Fürsten Sokolskij, sondern mit mehreren Fürsten dieses Namens geführt, so daß, wenn der eine Fürst im Duell falle, die andern übrigblieben; aber ohne Zweifel werde es notwendig sein, die Forderung bis zum Ablauf der Appellationsfrist zu verschieben, obgleich die Fürsten wohl nicht appellieren würden, aber einzig und allein des Anstandes wegen. Nach Ablauf der Frist werde dann das Duell stattfinden; ich sei jetzt auch mit dem Gedanken zu ihm gekommen, daß das Duell nicht gleich stattfinden solle, aber ich müsse mich doch sichern, da ich keinen Sekundanten hätte, ich sei mit niemand bekannt; so würde ich doch wenigstens noch Zeit haben, einen zu finden, falls er, Jefim, ablehne. Das sei der Grund, weswegen ich gekommen wäre.

»Na, komm doch, wenn's soweit ist, und sag es mir dann; so bist zu zehn Werst vergebens gelaufen.«

Er stand auf und griff nach seiner Mütze.

»Wirst du denn nachher einwilligen?«

»Nein, ich werde nicht einwilligen, selbstverständlich nicht.«

»Warum nicht?«

»Jetzt sage ich schon allein darum nicht ja, weil du sonst während der ganzen Appellationsfrist alle Tage würdest zu mir gelaufen kommen. Und vor allen Dingen: die ganze Geschichte ist dummes Zeug, weiter nichts. Soll ich mir etwa deinetwegen meine Karriere verderben? Der Fürst wird mich fragen: »Wer hat Sie geschickt?« – »Dolgorukij.« – »Was hat denn Dolgorukij mit Wersilow zu tun?« Dann muß ich ihm ja wohl deinen Stammbaum erklären, nicht wahr? Er wird mir ins Gesicht lachen!«

»Dann hau ihm eins in die Fresse!«

»Ach, dummes Zeug!«

»Hast du Angst? Du bist doch so ein großer Kerl; du warst auf dem Gymnasium der Stärkste.«

»Ich habe Angst, natürlich habe ich Angst. Und der Fürst wird sich mit dir schon deshalb nicht schlagen, weil man sich nur mit seinesgleichen schlägt.«

»Ich bin meiner Bildung nach ebenfalls ein Gentleman; ich gehöre zu den privilegierten Ständen; ich bin seinesgleichen ... im Gegenteil, er ist nicht meinesgleichen.«

»Nein, du bist ein Kleiner.«

»Wieso ein Kleiner?«

»Na, eben ein Kleiner; wir beide sind Kleine, und er ist ein Großer.«

»Du Schafskopf! Nach dem Gesetz kann ich schon seit einem Jahr heiraten.«

»Na, dann heirate, aber du bist doch noch ein grüner Junge: du wächst ja noch!«

Ich merkte natürlich, daß er sich über mich lustig machen wollte. Ohne Zweifel hätte ich diese ganze dumme Geschichte hier nicht zu erzählen brauchen, und es wäre sogar besser gewesen, wenn sie der Vergangenheit anheimgefallen wäre; überdies macht sie in ihrer Kleinlichkeit und Überflüssigkeit einen widerwärtigen Eindruck, obgleich sie ziemlich ernste Folgen hatte.

Aber um mich noch mehr zu bestrafen, will ich sie ganz zu Ende erzählen. Als ich durchschaut hatte, daß Jefim sich über mich lustig machte, erlaubte ich mir, ihn mit der rechten Hand gegen die Schulter zu stoßen, oder richtiger gesagt, mit der rechten Faust. Da faßte er mich bei den Schultern, drehte mich mit dem Gesicht nach dem Fußboden zu und – bewies mir durch die Tat, daß er wirklich bei uns auf dem Gymnasium der Stärkste gewesen war.


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