F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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III

In diesem Restaurant in der Morskaja-Straße hatte ich auch früher, in der Zeit meines schmählichen Falls und Lotterlebens, verkehrt, und der Anblick dieser Zimmer, der Anblick dieser Kellner, die mich musterten und in mir einen ehemaligen Besucher wiedererkannten, der Anblick dieser rätselhaften Gesellschaft von Freunden Lamberts, in der ich mich auf einmal befand und zu der ich schon untrennbar zu gehören schien, und vor allem eine dunkle Ahnung, daß ich mich da freiwillig auf irgendwelche Schändlichkeiten einließ und zweifellos am Ende eine schlechte Handlung begehen würde: dies alles rief in mir ein Gefühl der Beklemmung hervor. Es gab einen Augenblick, wo ich beinahe weggegangen wäre; aber dieser Augenblick ging vorüber, und ich blieb.

Jener Pockennarbige, vor dem Lambert aus irgendwelchen Gründen solche Angst hatte, erwartete uns bereits. Er gehörte zu den Menschen, deren Gesicht eine große Gewandtheit in praktischen Geschäften und zugleich eine arge Dummheit erkennen läßt, ein Typ, den ich beinahe schon seit meiner Kindheit hasse. Er mochte etwa fünfundvierzig Jahre alt sein und war mittelgroß; sein Haar zeigte schon Spuren von Grau; das flache, boshafte Gesicht war in geradezu abstoßender Weise glattrasiert; nur auf jeder Backe war ein kleiner, regelmäßiger, grauer, kurzgeschnittener Bartstreifen stehengelassen, der wie eine kleine Wurst aussah. Selbstverständlich war er langweilig, ernst, wortkarg und sogar in der Art solcher Menschen aus irgendeinem Grund hochmütig. Er musterte mich sehr aufmerksam, sagte aber kein Wort. Lambert hielt, obwohl er uns an ein und demselben Tisch hatte Platz nehmen lassen, es doch in seiner Dummheit nicht für nötig, uns miteinander bekannt zu machen, und somit konnte jener mich für einen der von Lambert mitgebrachten Erpresser halten. Mit diesen jungen Leuten (die fast gleichzeitig mit uns eingetroffen waren) sprach er während des ganzen Essens nicht, aber es war dennoch klar, daß er sie genau kannte. Er redete über irgend etwas nur mit Lambert, und zwar fast im Flüsterton, und dabei redete fast nur Lambert, während der Pockennarbige nur kurze, ärgerliche, ultimativ klingende Antworten gab. Er benahm sich hochmütig, boshaft und spöttisch; Lambert dagegen befand sich in großer Aufregung und suchte ihn offenbar zu etwas zu überreden; wahrscheinlich suchte er ihn für irgendein Unternehmen zu gewinnen. Einmal streckte ich die Hand nach einer Flasche mit Rotwein aus; da ergriff der Pockennarbige plötzlich eine Flasche mit Jerez und reichte sie mir, obwohl er bis dahin noch kein Wort mit mir gesprochen hatte.

»Versuchen Sie einmal diesen hier!« sagte er und hielt mir die Flasche hin. Da erriet ich auf einmal, daß auch ihm ohne Zweifel schon alles mögliche über mich bekannt war: meine Geschichte und mein Name und vielleicht auch die Spekulation, die Lambert mit mir anstellte. Der Gedanke, daß er mich möglicherweise für einen Gehilfen Lamberts hielt, versetzte mich wieder in Wut, aber auf Lamberts Gesicht prägte sich, als jener mich angeredet hatte, sofort die stärkste, dümmste Unruhe aus. Der Pockennarbige bemerkte das und lachte.

›Lambert ist entschieden von all diesen Menschen abhängig‹, dachte ich und haßte ihn in diesem Augenblick von ganzer Seele. So saßen wir zwar während des ganzen Diners an ein und demselben Tisch, teilten uns aber doch in zwei Gruppen: einerseits der Pockennarbige und Lambert nahe am Fenster einander gegenüber, andrerseits ich neben dem schmierigen Andrejew und mir gegenüber Trischatow. Lambert beschleunigte den Gang des Diners, indem er alle Augenblicke den Kellner zu schnellem Servieren antrieb. Als der Champagner gebracht wurde, hielt er mir auf einmal sein Glas hin.

»Auf dein Wohl! Laß uns anstoßen!« sagte er, sein Gespräch mit dem Pockennarbigen unterbrechend.

»Erlauben Sie auch mir, mit Ihnen anzustoßen?« sagte der hübsche Trischatow und hielt mir sein Glas über den Tisch hin. Bis zum Champagner war er sehr nachdenklich und schweigsam gewesen. Der dadais aber hatte überhaupt nicht geredet, sondern geschwiegen und viel gegessen.

»Mit Vergnügen«, antwortete ich Trischatow. Wir stießen miteinander an und tranken aus.

»Ich für meine Person werde nicht auf Ihr Wohl trinken«, wandte sich auf einmal der dadais an mich, »nicht etwa weil ich Ihnen den Tod wünsche, sondern damit Sie hier heute nicht mehr trinken.« Er sprach in düsterem Ton und mit starkem Nachdruck. »Sie haben auch an drei Gläsern genug. Sie betrachten, wie ich sehe, meine ungewaschene Faust?« fuhr er fort und legte dabei seine Faust auf den Tisch. »Ich wasche sie nicht und vermiete sie so ungewaschen an Lambert zum Einschlagen fremder Köpfe, falls Lambert einmal in eine kitzlige Situation gerät.«

Und nach diesen Worten schlug er plötzlich mit der Faust so kräftig auf den Tisch, daß alle Teller und Gläser in die Höhe sprangen. Außer uns befanden sich in diesem Zimmer noch an vier anderen Tischen dinierende Gäste, lauter Offiziere und allerlei andere Herren von sehr würdigem Äußern; es war Mode, dieses Restaurant aufzusuchen. Alle unterbrachen für einen Augenblick ihre Gespräche und sahen nach unserer Ecke hin; aber ich glaube, wir hatten schon seit längerer Zeit eine gewisse Neugierde erregt. Lambert war ganz rot geworden.

»Na, fängt er schon wieder an! Ich habe Sie ja wohl gebeten, sich anständig zu benehmen, Nikolai Semjonowitsch«, flüsterte er Andrejew zornig zu. Der sah ihn lange mit ernstem Blick an.

»Ich will nicht, daß mein neuer Freund Dolgorowky hier heute viel Wein trinkt.«

Lambert wurde noch roter. Der Pockennarbige hörte schweigend zu, aber mit offensichtlichem Vergnügen. Andrejews herausforderndes Benehmen gefiel ihm aus irgendeinem Grunde. Ich war der einzige, der nicht verstand, weswegen ich keinen Wein mehr trinken sollte.

»Er tut das nur, um Geld von mir zu bekommen! Sie sollen noch sieben Rubel bekommen, hören Sie? Nach Tisch; aber lassen Sie uns unser Diner beenden, und blamieren Sie uns nicht!« sagte Lambert zähneknirschend.

»Aha!« brummte der dadais triumphierend. Das versetzte den Pockennarbigen nun vollends in Entzücken, und er kicherte boshaft.

»Hör mal, du bist schon sehr ...«, sagte Trischatow beunruhigt und mit einem beinahe schmerzlichen Ausdruck zu seinem Freund, den er augenscheinlich zurückzuhalten wünschte. Andrejew verstummte, aber nicht für lange; das paßte nicht zu seinen Absichten. An dem zweitnächsten Tische von uns, etwa fünf Schritte von uns entfernt, speisten zwei Herren und unterhielten sich lebhaft miteinander. Beide waren von mittlerem Alter und sahen so aus, als sei mit ihnen nicht gut Kirschen essen. Der eine war groß und sehr dick, der andere ebenfalls sehr dick, aber klein. Sie sprachen polnisch über die neuesten Vorgänge in Paris. Der dadais hatte schon lange neugierig nach ihnen hingesehen und hingehorcht. Der kleine Pole erschien ihm offenbar als eine komische Figur, und er hatte sogleich einen Haß auf ihn geworfen, nach Art aller gallen- und leberleidenden Leute, bei denen das immer ganz plötzlich und sogar ohne jede Veranlassung geschieht. Auf einmal nannte der kleine Pole den Namen des Deputierten Madier de Montjau, sprach ihn aber nach der Gewohnheit sehr vieler Polen polnisch aus, das heißt mit dem Ton auf der vorletzten Silbe, so daß der Name nicht Madiér de Montjáu, sondern Mádier de Móntjau klang. Das genügte dem dadais, um sich einzumischen. Er wandte sich zu den Polen, richtete sich wichtigtuerisch gerade und sagte auf einmal deutlich markiert und laut im Ton einer Frage:

»Mádier de Móntjau?«

Die Polen drehten sich wütend nach ihm um.

»Was wünschen Sie?« rief der große, dicke Pole laut auf russisch. Der dadais wartete eine Weile.

»Mádier de Móntjau?« wiederholte er dann auf einmal so laut, daß es durch den ganzen Saal schallte, aber ohne irgendwelche Erklärung zu geben, geradeso dumm, wie er eine Weile vorher an der Flurtür, auf mich zutretend, die Frage: »Dolgorowky?« wiederholt hatte. Die Polen sprangen auf; auch Lambert sprang eilends vom Tisch auf und wollte auf Andrejew losstürzen, ließ dann aber von diesem ab, lief zu den Polen hin und begann, sie demütig um Entschuldigung zu bitten.

»Das sind ja Hanswurste, Pane, das sind ja Hanswurste«, sagte der kleine Pole, der vor Empörung rot geworden war wie eine Mohrrübe, verächtlich. »Man wird bald nicht mehr hierherkommen können.« Auch im Saal war es unruhig geworden; es wurde gemurrt, größtenteils aber gelacht.

»Kommen Sie hinaus ... bitte ... kommen Sie mit!« murmelte Lambert ganz fassungslos, bemüht, Andrejew auf irgendeine Weise aus dem Zimmer hinauszuschaffen.

Dieser blickte Lambert prüfend an, gelangte zu der Überzeugung, daß der ihm jetzt Geld geben werde, und zeigte sich bereit, ihm zu folgen. Wahrscheinlich hatte er schon öfter durch ein derartiges schamloses Benehmen von Lambert Geld erpreßt.

Trischatow wollte ihnen schon ebenfalls nachlaufen, aber dann sah er mich an und blieb da.

»Ach, wie widerwärtig!« sagte er und bedeckte seine Augen mit den schmalen Fingern.

»Ja, sehr widerwärtig«, flüsterte der Pockennarbige, der jetzt ein recht grimmiges Gesicht machte. Unterdessen kehrte Lambert, der ganz blaß aussah, zurück und begann, dem Pockennarbigen unter lebhaften Gestikulationen etwas zuzuflüstern. Dieser hatte inzwischen dem Kellner befohlen, recht schnell den Kaffee zu bringen; er hörte mit mißmutiger Miene zu und beabsichtigte offenbar, möglichst bald wegzugehen. Und dabei war die ganze Geschichte nur ein einfacher Schuljungenstreich gewesen. Trischatow kam mit seiner Kaffeetasse von seinem Platz zu mir herum und setzte sich neben mich.

»Ich habe ihn sehr gern«, begann er mit so offenherziger Miene, als ob er schon wer weiß wie oft mit mir darüber gesprochen hätte. »Sie glauben gar nicht, wie unglücklich Andrejew ist. Er hat die Mitgift seiner Schwester durch die Gurgel gejagt und überhaupt alles, was sie hatten, in dem Jahr, wo er beim Militär diente, vergeudet, und ich sehe, daß ihn jetzt die Reue quält. Und daß er sich nicht wäscht, das tut er nur aus Verzweiflung. Und er hat ganz sonderbare Ideen: er sagt einem auf einmal, ein Schuft und ein ehrenhafter Mann, das sei ganz dasselbe, dazwischen gebe es gar keinen Unterschied; man solle nichts tun, weder Gutes noch Schlechtes, oder es sei ganz gleich, man könne sowohl Gutes wie Schlechtes tun; am besten aber sei es, wenn man sich hinlege, einen Monat lang die Kleider nicht ausziehe und trinke, esse und schlafe, weiter nichts. Aber Sie können glauben: er sagt das nur so. Und wissen Sie, ich glaube sogar, diese Torheit hat er jetzt nur deshalb begangen, weil er mit Lambert vollständig Schluß machen wollte. Das hat er noch gestern zu mir gesagt. Können Sie es glauben: manchmal in der Nacht, oder wenn er lange allein sitzt, fängt er an zu weinen, und wissen Sie, wenn er weint, so macht er das auf ganz sonderbare Weise, wie sonst kein Mensch weint: er heult, heult schrecklich, und wissen Sie, da tut er einem noch mehr leid ... Und dabei ist er doch ein so großer, starker Mensch, aber auf einmal heult er laut los. Was für ein armer Kerl, nicht wahr? Ich möchte ihn retten, aber ich bin ja selbst ein so schändlicher, verlorener Bursche. Sie glauben es gar nicht! Würden Sie mich empfangen, Dolgorukij, wenn ich einmal zu Ihnen käme?«

»O gewiß, kommen Sie nur, ich habe Sie sogar sehr gern.«

»Womit verdiene ich das? Nun, ich danke Ihnen. Hören Sie mal, wir wollen noch ein Glas trinken. Aber was rede ich da? Sie tun besser, nichts mehr zu trinken. Darin hat er recht gehabt, daß Sie nicht mehr trinken dürfen« (er blinzelte mir bedeutsam zu), »aber ich werde doch noch etwas trinken. Mir macht es nichts mehr aus, aber ob Sie es glauben oder nicht, ich kann mich in keiner Beziehung beherrschen. Sie brauchen mir nur zu sagen, ich müsse darauf verzichten, in feinen Restaurants zu dinieren, und ich bin sofort zu allem bereit, um doch dinieren zu können. Oh, ich versichere Ihnen, wir haben den aufrichtigen Wunsch, ehrenhaft zu sein, aber wir schieben es immer auf.

›Und so vergehn die schönsten, besten Jahre!‹ Aber was ihn betrifft, so habe ich eine furchtbare Angst, daß er sich noch einmal aufhängt. Er wird hingehen, ohne einem Menschen vorher ein Wort zu sagen. So ein Mensch ist er. Heutzutage hängen sich alle auf; wer weiß, vielleicht gibt es viele solche Menschen wie uns. Ich zum Beispiel kann nicht leben ohne Geld zu unnötigen Ausgaben. Es ist mir viel mehr daran gelegen, Geld zu unnötigen Ausgaben zu haben als zu notwendigen. Hören Sie mal, lieben Sie die Musik? Ich liebe sie schrecklich. Wenn ich zu Ihnen komme, werde ich Ihnen etwas vorspielen. Ich spiele sehr gut Klavier und habe lange Musik studiert. Ich habe ernsthaft studiert. Wissen Sie, wenn ich eine Oper komponierte, würde ich den Stoff aus dem ›Faust‹ entnehmen. Ich liebe dieses Thema sehr. Ich komponiere immer die Szene im Dom, das heißt, ich lege mir alles so im Kopf zurecht. Ein gotischer Dom, Inneres; Chöre, Hymnen; Gretchen tritt ein; und wissen Sie, mittelalterliche Chöre, damit man sich gleich in das fünfzehnte Jahrhundert versetzt fühlt. Gretchen in tiefem Gram; zuerst ein Rezitativ, leise, aber schrecklich, qualvoll, und die Chöre brausen düster, streng, teilnahmslos:

›Dies irae, dies illa!‹

Und auf einmal die Stimme des Teufels, die Arie des Teufels. Er ist unsichtbar, nur ein Gesang; der neben den Hymnen, zugleich mit den Hymnen erklingt und fast mit ihnen zusammenfällt, aber dabei doch etwas ganz anderes ist – das muß man auf irgendeine Weise so zustande bringen. Die Arie ist lang, endlos; es ist Tenor, unbedingt Tenor. Sie beginnt leise und sanft: ›Denkst du noch daran, Gretchen, wie du, noch unschuldig, noch ein Kind, mit deiner Mutter in diesen Dom kamst und aus dem alten Buch Gebete lalltest?‹ Aber die Arie schwillt immer stärker, heftiger an; die Töne werden höher: man hört in ihnen Tränen, unablässigen, hoffnungslosen Gram und endlich die Verzweiflung: ›Keine Vergebung, Gretchen, für dich ist hier keine Vergebung!‹ Gretchen will beten; aber nur Schreie entringen sich ihrer Brust – wissen Sie, wenn von den Tränen ein Krampf die Brust zusammenzieht –, aber die Arie des Satans verstummt immer noch nicht, immer tiefer bohrt sie sich in das Herz hinein wie ein spitzes Messer, immer höher werden die Töne – und auf einmal bricht es beinahe wie ein Schrei heraus: ›Alles ist zu Ende; du bist verdammt!‹ Gretchen fällt auf die Knie, drückt die Hände vor der Brust zusammen – und nun folgt ihr Gebet, etwas ganz Kurzes, halb Rezitativ, aber naiv, etwas ganz Kunstloses, im höchsten Grade Mittelalterliches, vier Verse, im ganzen, nur vier Verse – bei Stradella kommen ein paar solche Töne vor –, und bei dem letzten Ton fällt sie in Ohnmacht! Verwirrung. Sie wird aufgehoben und hinausgetragen – und nun ertönt ein gewaltiger Chor. – Es ist wie ein Donnergeroll von Stimmen, ein begeisterter, siegreicher, überwältigender Chor, so daß alles in seinen Grundfesten bebt, und alles geht dann in den entzückten, jauchzenden, allgemeinen Ruf Hosianna über! Es ist wie ein Schrei des ganzen Weltalls; sie aber wird immer noch getragen, und in diesem Augenblick fällt der Vorhang! Nein, wissen Sie, wenn ich könnte, würde ich so etwas komponieren! Aber ich kann jetzt nicht mehr, sondern überlasse mich immer nur leeren Träumereien. Immer nur Träumereien und Träumereien; mein ganzes Leben hat sich in eine einzige Träumerei verwandelt, auch in der Nacht hänge ich solchen Träumereien nach. Ach, Dolgorukij, haben Sie den ›Raritätenladen‹ von Dickens gelesen?«

»Ja; wieso?«

»Erinnern Sie sich ... Warten Sie, ich will noch ein Glas trinken – erinnern Sie sich da an eine Stelle am Schluß, wo die beiden, dieser irrsinnige Alte und dieses reizende, dreizehnjährige Mädchen, seine Enkelin, nach ihrer phantastischen Irrfahrt endlich irgendwo am Rande von England ein Asyl gefunden haben, in der Nähe eines mittelalterlichen, gotischen Doms; und das Mädchen hat da ein Amt bekommen: sie muß den Besuchern den Dom zeigen ... Und da geht nun eines Abends die Sonne unter, und dieses Kind steht, ganz von den letzten Strahlen übergossen, auf der Domtreppe und blickt still und nachdenklich sinnend in den Sonnenuntergang, und seine Kinderseele ist erstaunt, als stünde sie vor einem Rätsel; denn es ist ja auch das eine wie das andere eine Art Rätsel: die Sonne als ein Gedanke Gottes und der Dom als ein Gedanke der Menschen ... nicht wahr? ... Ach, ich verstehe das nicht auszudrücken, aber Gott liebt solche ersten Gedanken von Kindern ... Und da neben ihr auf den Stufen sitzt dieser irrsinnige alte Großvater und blickt sie unverwandt an ... Wissen Sie, es ist ja eigentlich nichts Besonderes an diesem Bildchen bei Dickens, absolut nichts, aber Sie werden es Ihr lebelang nicht vergessen, und in ganz Europa hat es sich erhalten – woher wohl? Es ist etwas Herrliches! Das ist Unschuld! Ach, ich weiß nicht, was es ist, aber es ist schön. Auf dem Gymnasium habe ich immer Romane gelesen. Wissen Sie, ich habe eine Schwester auf dem Lande; sie ist nur ein Jahr älter als ich ... Oh, jetzt ist da schon alles verkauft, und wir haben kein Gut mehr! Ich saß einmal mit ihr in der Veranda, unter unsern alten Linden, und wir lasen diesen Roman, und die Sonne ging auch gerade unter, und auf einmal hörten wir auf zu lesen und sagten zueinander, daß auch wir gute Menschen, edle Menschen werden wollten – ich bereitete mich damals zum Eintritt in die Universität vor, und ... Ach, Dolgorukij, wissen Sie, jeder hat so seine Erinnerungen! ...«

Und auf einmal lehnte er seinen hübschen Kopf an meine Schulter und – brach in Tränen aus. Er tat mir leid, sehr leid. Allerdings hatte er viel Wein getrunken, aber er hatte so aufrichtig und so brüderlich mit mir gesprochen und mit so tiefer Empfindung ... Aber gerade in diesem Augenblick erscholl auf der Straße Geschrei, und es klopfte jemand da, wo wir saßen, heftig mit dem Fingerknöchel ans Fenster (das Restaurant hatte große, aus einer Scheibe bestehende Fenster und lag im Erdgeschoß, so daß man von der Straße aus mit der Hand anklopfen konnte). Es war der hinausbeförderte Andrejew.

»Ohé, Lambert! Où est Lambert? As-tu vu Lambert?« schrie er wild auf der Straße.

»Ach, er ist noch hier! Also er ist nicht weggegangen?« rief mein junger Bekannter und sprang vom Stuhl auf.

»Die Rechnung!« rief Lambert zähneknirschend dem Kellner zu. Die Hände zitterten ihm nur so vor Wut, als er zu bezahlen anfing, aber der Pockennarbige erlaubte nicht, daß er für ihn bezahle.

»Warum denn nicht? Ich habe Sie ja doch eingeladen, und Sie haben meine Einladung angenommen!«

»Nein, erlauben Sie schon!« erwiderte der Pockennarbige, zog sein Portemonnaie heraus, berechnete seinen Anteil und bezahlte für sich.

»Sie kränken mich, Semjon Sidorytsch!«

»Ich will es nun einmal so«, erwiderte Semjon Sidorowytsch in scharfem Ton, nahm seinen Hut und ging, ohne sich von jemandem zu verabschieden, allein aus dem Saal. Lambert warf dem Kellner das Geld hin und lief ihm eilig nach, wobei er sogar in seiner Verwirrung mich ganz vergaß. Ich und Trischatow gingen zuletzt von allen hinaus. Andrejew stand wie ein Werstpfahl an der Haustür und wartete auf Trischatow.

»Taugenichts!« rief ihm Lambert zu, der sich nicht mehr beherrschen konnte.

»Oho!« brüllte Andrejew zur Antwort und schlug ihm, weit ausholend, mit einem einzigen Schlag seiner Hand den Zylinderhut ab, der auf dem Trottoir dahinkollerte. Lambert lief in unwürdiger Weise hinterher, um ihn aufzuheben.

»Vingt-cinq roubles!« sagte Andrejew zu Trischatow und zeigte ihm die Banknote, die er Lambert kurz vorher abgepreßt hatte.

»So hör doch auf!« rief ihm Trischatow zu. »Warum machst du immer Krakeel? ... Und warum hast du ihm fünfundzwanzig abgezwackt? Du hattest doch nur sieben von ihm zu bekommen.«

»Warum ich ihm soviel abgezwackt habe? Er hatte uns ein separates Diner mit lockeren Weibern versprochen, und statt der Weiber hat er uns den Pockennarbigen serviert, und außerdem habe ich nicht zu Ende gegessen und hier in der Kälte für achtzehn Rubel gefroren. Sieben Rubel war er mir noch schuldig – siehst du, das macht gerade fünfundzwanzig.«

»Scheren Sie sich beide zum Teufel!« schrie Lambert. »Ich werde Ihnen beiden den Laufpaß geben, ich werde Sie schon kleinkriegen ...«

»Lambert, ich werde Ihnen den Laufpaß geben, ich werde Sie kleinkriegen«, schrie Andrejew. »Adieu, mon prince, trinken Sie keinen Wein mehr! Petja, marsch! Ohé, Lambert! Où est Lambert? As-tu vu Lambert?« brüllte er zum letztenmal, während er sich mit gewaltigen Schritten entfernte.

»Ich werde also zu Ihnen kommen, ja? Darf ich?« flüsterte mir Trischatow noch schnell zu und eilte dann seinem Freund nach.

Ich blieb allein mit Lambert zurück.

»Na ... dann komm!« sagte er; er schien nach Atem zu ringen und ganz benommen zu sein.

»Wohin soll ich mitgehen? Ich gehe nicht mit dir mit!« beeilte ich mich ihm herausfordernd zuzurufen.

»Was soll das heißen, daß du nicht mitkommen willst?« erwiderte er erschrocken und ängstlich, er kam auf einmal wieder zu sich. »Ich habe ja nur darauf gewartet, daß wir beide allein bleiben!«

»Aber wohin soll es denn gehen?« Ich muß gestehen, es summte mir auch ein bißchen im Kopf von den drei Gläsern Champagner und den zwei Gläsern Jerez.

»Hierhin, gleich hierhin, siehst du?«

»Aber da steht ja ›Frische Austern‹ angeschrieben. Da riecht es so greulich ...«

»Das ist nur, weil du eben vom Diner kommst; das ist das Geschäft von Miljutin; wir brauchen ja keine Austern zu essen, aber du sollst Champagner zu trinken bekommen ...«

»Ich will nicht. Du willst mich betrunken machen.«

»Das haben dir die beiden in den Kopf gesetzt; sie haben sich über dich lustig gemacht. Wie kannst du solchen Schuften glauben!« »Nein, Trischatow ist kein Schuft. Und ich verstehe auch selbst, vorsichtig zu sein – nun weißt du's!«

»Was? Hast du deinen eigenen Kopf?«

»Ja, ich habe meinen eigenen Kopf, mehr als du, denn du machst dich ja zum Sklaven des ersten besten. Du hast uns blamiert, du hast die Polen wie ein Lakai um Verzeihung gebeten. Du hast gewiß schon oft in Restaurants Prügel bekommen?«

»Aber wir müssen doch miteinander reden, Schafskopf!« rief er mit einer verächtlichen Ungeduld, die beinahe sagte: ›Bist du auch so einer?‹ – »Du fürchtest dich wohl, wie? Bist du mein Freund oder nicht?«

»Ich bin nicht dein Freund, und du bist ein Gauner. Aber ich will mitkommen, bloß um dir zu zeigen, daß ich mich nicht vor dir fürchte. Ach, wie greulich das hier riecht, es riecht nach Käse! Ekelhaft!«


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