F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Zweites Kapitel

I

Lisa hatte ich nicht »vergessen«, darin hatte Mama sich geirrt. Die feinfühlige Mutter hatte gemerkt, daß zwischen Bruder und Schwester eine Abkühlung eingetreten war, aber das hatte nichts mit Abneigung zu tun, sondern eher mit Eifersucht. Ich will das im Hinblick auf die weitere Entwicklung mit ein paar Worten erklären.

Bei der armen Lisa war gleich von der Verhaftung des Fürsten an eine Art von hochmütigem Stolz, eine Art von unnahbarem, fast unerträglichem Dünkel wahrnehmbar geworden; aber jeder im Hause verstand die Wahrheit, und wie schwer sie litt, und wenn ich in der ersten Zeit über ihre Art, mit uns zu verkehren, maulte und grollte, so war das lediglich eine Folge meiner kleinlichen Empfindlichkeit, die durch die Krankheit auf das Zehnfache gesteigert war so denke ich jetzt darüber. Lisa zu lieben hatte ich aber durchaus nicht aufgehört, ich liebte sie im Gegenteil noch mehr als früher, nur wollte ich nicht den ersten Schritt zur Annäherung machen, obgleich ich übrigens wußte, daß Sie selbst es um keinen Preis tun würde.

Die Sache war die, daß Lisa, sobald die ganze Angelegenheit des Fürsten öffentlich bekanntgeworden war, also gleich nach seiner Verhaftung, unverzüglich uns und ausnahmslos allen gegenüber eine Haltung einnahm, als lehne sie jeden Versuch, sie zu bedauern oder sie zu trösten oder den Fürsten zu entschuldigen, auf das entschiedenste ab. Vielmehr bekundete sie unter Vermeidung jeglicher Aussprache und Diskussion gewissermaßen einen unwandelbaren Stolz auf die Handlung ihres unglücklichen Bräutigams, als wäre diese die höchste Heldentat. Sie sagte gleichsam zu uns allen in jedem Augenblick (ich wiederhole: ohne ein Wort zu sprechen): ›Von euch wird niemand so handeln; ihr zeigt euch nicht selbst an, weil Ehre und Pflicht es fordern; von euch hat niemand ein so feinfühliges, reines Gewissen. Und was seine Vergehen anlangt, wer hätte keine schlechten Handlungen auf dem Gewissen? Der Unterschied ist nur der, daß alle andern sie verbergen, dieser aber sich lieber hat zugrunde richten als in seinen eigenen Augen ein Unwürdiger bleiben wollen.‹ Das war es, was offensichtlich jede ihrer Gebärden zum Ausdruck brachte. Ich weiß nicht, aber ich hätte an ihrer Stelle genau ebenso gehandelt. Ebensowenig weiß ich, ob wirklich diese Gedanken ihre Seele erfüllten, das heißt ganz im Innern; ich vermute, daß es nicht der Fall war. Mit der anderen, klaren Hälfte ihres Verstandes mußte sie jedenfalls die ganze Wertlosigkeit ihres »Helden« durchschauen; denn wer könnte heute bestreiten, daß dieser unglückliche und in seiner Art hochherzige Mensch gleichzeitig im höchsten Grade wertlos war? Ja gerade aus diesem ihrem Hochmut und aus dieser ihrer Bissigkeit uns allen gegenüber, aus diesem ihrem fortwährenden Argwohn, wir könnten über ihn anders urteilen als sie, gerade daraus konnte man mit einiger Wahrscheinlichkeit schließen, daß sich in den geheimsten Winkeln ihres Herzens doch auch noch ein anderes Urteil über ihren unglücklichen Freund gebildet haben mochte. Und ich beeile mich, von mir aus hinzuzufügen, daß sie meiner Ansicht nach bis zu einem gewissen Grade im Recht war; es war ihr eher zu verzeihen als uns allen, wenn sie bei der Fällung des endgültigen Urteils schwankte. Ich selbst gestehe aus ganzer Seele, daß ich heute noch, wo alles weit hinter uns liegt, absolut nicht weiß, wie und als was ich diesen Unglücklichen endgültig einschätzen soll, der uns allen ein solches Rätsel aufgegeben hat.

Nichtsdestoweniger wurde unser Haus durch sie beinahe eine kleine Hölle. Lisa, die so stark liebte, mußte mit Notwendigkeit sehr schwer leiden. Ihrem Charakter gemäß zog sie es vor, schweigend zu leiden. Ihr Charakter war dem meinigen ähnlich, das heißt herrschsüchtig und stolz, und ich habe immer gedacht, sowohl damals als auch jetzt, daß sie den Fürsten aus Herrschsucht liebgewonnen hat, gerade weil er keine Charakterfestigkeit besaß und weil er sich vom ersten Wort und der ersten Stunde an vollständig ihr unterordnete. Das ist ein Vorgang, der sich im Herzen ganz von selbst vollzieht, ohne jede vorherige Überlegung; aber eine solche Liebe eines Starken zu einem Schwachen ist mitunter unvergleichlich stärker und qualvoller als die Liebe gleichartiger Charaktere, weil der Stärkere unwillkürlich die Verantwortung für seinen schwächeren Freund mit auf sich nimmt. Wenigstens denke ich mir das so. Alle die Unsrigen umgaben Lisa gleich von Anfang an mit der zärtlichsten Sorge, besonders Mama; aber sie wurde dadurch nicht milder, reagierte nicht auf die Äußerungen der Teilnahme und schien jede Hilfe zurückzuweisen. Mit Mama hatte sie am Anfang noch gesprochen, aber mit jedem Tag wurde sie wortkarger, schroffer und sogar verletzender. Anfangs war es Wersilow, den sie um Rat fragte, aber bald wählte sie zu ihrem Ratgeber und Helfer Wassin, wie ich später zu meiner Verwunderung erfuhr ... Sie ging täglich zu Wassin, ging auch zu den Gerichten, zu den Vorgesetzten des Fürsten, zu den Advokaten und zum Staatsanwalt; schließlich war sie manchmal beinahe ganze Tage lang nicht zu Hause. Selbstverständlich besuchte sie täglich ein- oder zweimal den Fürsten, der sich im Gefängnis in der Adelsabteilung befand, aber ich habe später die volle Überzeugung gewonnen, daß Lisa sich bei diesen Besuchen sehr bedrückt fühlte. Natürlich, welcher Dritte kann das gegenseitige Verhältnis zweier Liebenden vollständig richtig beurteilen? Aber es ist mir bekannt, daß der Fürst sie fortwährend tief kränkte, und zwar wodurch? Sonderbarerweise durch unablässige Eifersucht. Übrigens komme ich darauf später noch zurück; aber einen Gedanken möchte ich hier noch hinzufügen: es ist schwer zu entscheiden, wer von ihnen beiden den andern mehr peinigte. Obwohl Lisa bei uns auf ihren Helden so stolz war, benahm sie sich vielleicht ihm gegenüber unter vier Augen ganz anders, wie ich mit Bestimmtheit aus gewissen Tatsachen schließe, von denen ich ebenfalls noch in der Folge zu sprechen habe. Was also meine Gefühle gegenüber Lisa und meine Beziehungen zu ihr anlangt, so war alles äußerlich Sichtbare von beiden Seiten nur eine künstliche, eifersüchtige Unwahrheit, in Wirklichkeit aber haben wir einander niemals stärker geliebt als zu jener Zeit. Ich füge noch hinzu, daß Lisa sich gegenüber Makar Iwanowitsch gleich von seiner Ankunft an, nachdem die erste Verwunderung und Neugier bei ihr vorbei war, aus einem mir unverständlichen Grund fast geringschätzig, ja sogar hochmütig benahm. Es schien, daß sie ihm absichtlich nicht die geringste Beachtung schenkte.

Als ich mir vornahm zu schweigen, wie ich das im vorhergehenden Kapitel dargelegt habe, da beabsichtigte ich natürlich in der Theorie, das heißt in meinen Träumereien, mein Wort zu halten. Oh, mit Wersilow zum Beispiel hätte ich eher von der Zoologie oder von den römischen Kaisern zu sprechen angefangen als von ihr oder von jener besonders wichtigen Zeile in seinem Brief an sie, wo er ihr mitteilte, daß das »Schriftstück« nicht verbrannt sei, sondern existiere und zum Vorschein kommen werde – eine Zeile, über die ich sofort im stillen wieder nachzudenken anfing, sobald ich nach dem Fieber wieder zur Besinnung gekommen war und den Gebrauch meines Verstandes wiedererlangt hatte. Aber leider mußte ich gleich bei den ersten Schritten in der Praxis und beinahe noch vor diesen Schritten merken, wie schwer, ja unmöglich es ist, bei solchen Vorsätzen zu beharren: gleich am nächsten Tag nach meiner ersten Bekanntschaft mit Makar Iwanowitsch geriet ich durch eine unerwartete Neuigkeit in große Aufregung.


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