F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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III

Mir kamen, ich weiß nicht weshalb, die Tränen in die Augen; ich kann mich nicht mehr erinnern, wie sie mich neben sich Platz nehmen ließ; ich erinnere mich nur – o welch eine köstliche Erinnerung! –, wie wir Hand in Hand nebeneinander saßen und hastig redeten: sie fragte nach dem alten Mann und nach seinem Tod, und ich erzählte ihr von ihm, so daß man hätte denken können, ich weinte um Makar Iwanowitsch, was doch der Gipfel der Absurdität gewesen wäre; und ich weiß, daß sie einen so abgeschmackten, kindischen Beweggrund bei mir keinesfalls voraussetzen konnte. Endlich kam mir auf einmal dieser Gedanke, und ich wurde verlegen. Jetzt glaube ich, daß ich damals einzig und allein vor Entzücken weinte, und denke mir, daß sie das selbst sehr gut wußte, so daß ich in bezug auf diesen Punkt meiner Erinnerungen beruhigt bin.

Es kam mir auf einmal sehr seltsam vor, daß sie so viele Fragen über Makar Iwanowitsch stellte.

»Haben Sie ihn denn gekannt?« fragte ich erstaunt.

»Schon lange. Ich habe ihn nie gesehen, aber er hat auch in meinem Leben eine Rolle gespielt. Jener Mensch, vor dem ich mich fürchte, hat mir seinerzeit viel von ihm erzählt. Sie wissen, wen ich meine?«

»Ich weiß jetzt nur, daß ›jener Mensch‹ Ihrem Herzen weit näher gestanden hat, als Sie mir das früher entdeckt haben«, sagte ich, ohne eigentlich selbst zu wissen, was ich damit zum Ausdruck bringen wollte, aber gewissermaßen im Ton des Vorwurfs und mit finsterem Gesicht.

»Sie sagen, er habe soeben Ihre Mutter geküßt und umarmt? Haben Sie das selbst gesehen?« fuhr sie fort zu fragen, ohne auf das, was ich gesagt hatte, hinzuhören.

»Ja, ich habe es gesehen; und Sie können glauben, daß er es mit durchaus wahrer Empfindung und in edelster Gesinnung getan hat!« beeilte ich mich zu versichern, als ich sah, wie sie sich freute.

»Das gebe Gott!« sagte sie, sich bekreuzigend. »Jetzt ist er frei geworden. Dieser prächtige alte Mann ist ihm das ganze Leben hindurch eine Fessel gewesen. Nach dessen Tod wird das Gefühl der Pflicht und ... der eigenen Würde wieder in ihm lebendig werden, wie das schon einmal der Fall gewesen ist. Oh, er ist vor allen Dingen hochherzig, er wird das Herz Ihrer Mutter beruhigen, die er mehr als alles in der Welt liebt, und wird endlich auch selbst zur Ruhe gelangen, Gott sei Dank, es ist auch Zeit.«

»Ist er Ihnen sehr teuer?«

»Ja, sehr teuer, wenn auch nicht in dem Sinne, in dem er es wünscht und in dem Sie danach fragen.«

»Fürchten Sie jetzt für ihn oder für sich selbst?« fragte ich plötzlich.

»Ach, das sind sonderbare Fragen, lassen wir das!«

»Gewiß, lassen wir das; aber ich habe davon nichts gewußt, und vielleicht noch sehr vieles andere nicht; indes mögen Sie recht haben: alles wird jetzt anders werden, und wenn jemand ein neues Leben beginnt, so in erster Linie ich. Ich habe Ihnen gegenüber unwürdige Gedanken gehabt, Katerina Nikolajewna, und es ist vielleicht erst eine Stunde her, daß ich gegen Sie auch in meinem Handeln eine Gemeinheit begangen habe, aber wissen Sie, ich sitze hier neben Ihnen und fühle keinerlei Gewissensbisse. Denn alles ist jetzt verschwunden, und alles ist neu geworden, und den Menschen, der vor einer Stunde eine Gemeinheit gegen Sie vorhatte, den kenne ich nicht und will ich nicht kennen!«

»Kommen Sie zu sich!« sagte sie lächelnd. »Sie reden, als fieberten Sie ein bißchen.«

»Und kann etwa jemand, der neben Ihnen sitzt, sich selbst richten?« fuhr ich fort. »Mag er ehrenhaft, mag er gemein sein, Sie sind immer unerreichbar wie die Sonne ... Sagen Sie, wie konnten Sie nach allem, was geschehen ist, es fertigbringen, zu mir herauszukommen? Und wenn Sie wüßten, was vor einer Stunde, erst vor einer Stunde geschehen ist! Und was für ein Traum in Erfüllung gegangen ist!«

»Ich weiß wahrscheinlich alles«, erwiderte sie mit einem ruhigen Lächeln. »Sie wollten sich soeben an mir für irgend etwas rächen, schwuren, mich zugrunde zu richten, und hätten trotzdem einen jeden totgeschlagen oder durchgeprügelt, der sich erdreistet hätte, über mich in Ihrer Gegenwart auch nur ein häßliches Wort zu sagen.«

Oh, sie lächelte und scherzte, aber das tat sie nur aus grenzenloser Herzensgüte, denn ihre ganze Seele war in diesem Augenblick, wie mir nachher klar wurde, dermaßen von eigener gewaltiger Sorge und starker, machtvoller Empfindung erfüllt, daß sie nur in der Weise mit mir reden und auf meine unnützen, aufgeregten Fragen antworten konnte, wie man einem kleinen Kind auf eine kindliche, zudringliche Frage antwortet, um sich von ihm loszumachen. Ich merkte das auf einmal und wurde verlegen, aber ich konnte nicht mehr aufhören.

»Nein«, rief ich, meiner selbst nicht mächtig, »nein, ich habe den, der von Ihnen häßlich redete, nicht totgeschlagen, sondern ihm vielmehr selbst noch dabei geholfen!«

»Oh, um Gottes willen, lassen Sie das, lassen Sie das, erzählen Sie nichts!« rief sie und streckte die Hand aus, um mir Einhalt zu tun, wobei ihr Gesicht sogar einen schmerzlichen Ausdruck zeigte, aber ich war bereits aufgesprungen und vor sie hingetreten, um alles auszusprechen, und wenn ich alles ausgesprochen hätte, dann hätte sich das nicht ereignet, was sich nachher zugetragen hat, denn sicherlich hätte es damit geendet, daß ich ihr alles bekannt und ihr das Schriftstück zurückgegeben hätte. Aber sie fing auf einmal an zu lachen:

»Lassen Sie das, lassen Sie das, gehen Sie nicht auf Einzelheiten ein! Ich kenne alle Ihre Verbrechen schon allein: ich möchte wetten, Sie wollten mich heiraten oder so etwas und haben sich soeben mit einem Ihrer Helfershelfer, mit einem Ihrer früheren Schulfreunde verabredet ... Ach, es scheint wirklich, daß ich es erraten habe!« rief sie und blickte mir ernsthaft ins Gesicht.

»Wie ... wie haben Sie das erraten können?« stammelte ich wie ein Dummkopf in höchstem Erstaunen.

»Nun, das war kein Kunststück! Aber genug davon, genug davon! Ich verzeihe Ihnen, aber hören Sie auf, davon zu reden!« sagte sie, wieder mit einer abwehrenden Handbewegung und jetzt mit sichtlicher Ungeduld. »Ich bin selbst eine Träumerin, und wenn Sie wüßten, zu was für Mitteln ich bei meinen Träumereien in Augenblicken greife, wo ich mich nicht selbst beherrsche! Genug davon, Sie haben mich ganz von dem abgebracht, was ich sagen wollte. Ich freue mich sehr, daß Tatjana Pawlowna weggegangen ist; ich habe sehr gewünscht, mit Ihnen zu reden, und das wäre in ihrer Gegenwart doch nicht in der Weise möglich gewesen wie jetzt. Ich glaube, ich habe mir bei dem, was neulich geschehen ist, Ihnen gegenüber etwas zuschulden kommen lassen. Ja? Ist es so?«

»Sie hätten sich etwas zuschulden kommen lassen? Aber ich hatte Sie damals an ihn verraten, und was mußten Sie von mir denken? Ich habe daran diese ganze Zeit über gedacht, alle Tage, seit damals; jeden Augenblick habe ich daran gedacht und es schmerzlich empfunden.« (Ich log ihr nichts vor.)

»Sie haben sich unnötig gepeinigt; ich verstand gleich damals ganz genau, wie das alles gekommen war; Sie hatten ihm eben damals in der Freude Ihres Herzens ein Wörtchen zuviel gesagt: daß Sie in mich verliebt seien und daß ich ... nun, und daß ich Sie erhört hätte. Dafür sind Sie eben zwanzig Jahre alt. Sie lieben ihn ja doch mehr als sonst etwas in der Welt und glauben, in ihm einen Freund und Ihr Ideal gefunden zu haben. Ich verstand das recht wohl, aber es war schon zu spät; ja, ich selbst habe mich damals vergangen: ich hätte Sie damals gleich rufen lassen sollen, um Sie zu beruhigen, aber ich war ärgerlich und bat meinen Vater, anzuordnen, daß Sie in unserm Haus nicht mehr empfangen werden sollten; und so kam es denn zu jener Szene an der Haustür, und dann zu jener Nacht. Und wissen Sie, ich habe diese ganze Zeit über wie Sie darüber phantasiert, daß ich heimlich mit Ihnen zusammenkommen wollte; ich wußte nur nicht, wie ich das einrichten könnte. Und was meinen Sie, wovor ich mich am meisten gefürchtet habe? Daß Sie seinen Verleumdungen über mich Glauben schenken könnten.«

»Niemals!« rief ich.

»Unsere früheren Begegnungen sind mir sehr wertvoll; ich schätze in Ihnen den Jüngling und vielleicht sogar gerade diese Offenherzigkeit ... Ich habe ja einen sehr ernsten Charakter. Ich bin die ernsteste, düsterste Frau, die es heute gibt, das kann ich Ihnen sagen ... hahaha! Wir werden schon noch ein andermal ausführlich darüber reden, aber jetzt fühle ich mich nicht ganz wohl, ich bin aufgeregt, und ... wie es scheint, habe ich einen hysterischen Anfall. Aber endlich, endlich wird er auch mich auf der Welt in Ruhe leben lassen!«

Dieser Ausruf brach unwillkürlich aus ihrer Brust hervor; ich empfand das sofort und wollte nicht darauf eingehen, aber ich zitterte am ganzen Leibe.

»Er weiß, daß ich ihm verziehen habe!« rief sie plötzlich wieder, als wäre sie allein im Zimmer.

»Haben Sie ihm wirklich diesen Brief verzeihen können? Und wie sollte er es erfahren haben, daß Sie ihm verziehen haben?« rief ich, nicht imstande, mich zurückzuhalten.

»Wie er es erfahren hat? Oh, er weiß es«, fuhr sie fort, mir zu antworten, aber mit einer Miene, als hätte sie mich ganz vergessen und spräche nur mit sich selbst. »Er ist jetzt zur Besinnung gekommen. Und wie sollte er auch nicht wissen, daß ich ihm verziehen habe, wenn er doch meine ganze Seele auswendig kennt? Er weiß ja, daß ich selbst ein bißchen von seiner Art bin.«

»Sie?«

»Nun ja, das ist ihm bekannt. Oh, ich bin nicht leidenschaftlich, ich bin eine ruhige Natur; aber ebenso wie er würde ich wünschen, daß alle Menschen gut wären ... Ich muß doch etwas an mir haben, weswegen er mich liebgewonnen hat.«

»Wie hat er dann nur sagen können, daß in Ihnen alle möglichen Laster steckten?«

»Das hat er nur gesagt; im stillen hat er eine andere Meinung. Aber nicht wahr, der Brief, den er geschrieben hat, war doch furchtbar komisch?«

»Komisch?« (Ich hörte ihr mit angestrengter Aufmerksamkeit zu; ich glaube, daß sie tatsächlich eine Art von hysterischem Anfall hatte und ... da Dinge aussprach, die vielleicht gar nicht für meine Ohren bestimmt waren; aber ich konnte mich nicht so weit beherrschen, daß ich nicht gefragt hätte.)

»O ja, komisch, und wie hätte ich darüber gelacht, wenn ... wenn ich mich nicht gefürchtet hätte. Übrigens bin ich kein solcher Angsthase, glauben Sie das nicht; aber dieser Brief hat mir in jener Nacht den Schlaf geraubt, er ist sozusagen nicht mit Tinte, sondern mit krankem Blut geschrieben ... und was bleibt einem nach einem solchen Brief noch übrig? Ich liebe das Leben, ich bin um mein Leben schrecklich besorgt; in dieser Hinsicht bin ich sehr kleinmütig ... Ach, hören Sie!« rief sie plötzlich, »gehen Sie zu ihm! Er wird jetzt allein sein; er kann nicht immerzu dort sein und ist wahrscheinlich allein irgendwohin gegangen: machen Sie ihn recht schnell ausfindig, nur ja recht schnell, eilen Sie zu ihm, zeigen Sie ihm, daß Sie sein liebender Sohn sind, beweisen Sie, daß Sie ein lieber, guter Junge sind, daß Sie mein Student sind, den ich ... Oh, Gott möge Sie glücklich werden lassen! Ich liebe niemand, und das ist auch das beste, aber ich wünsche allen Menschen, daß sie glücklich seien, allen, und zu allererst ihm, und das soll er wissen ... sogar sofort, das wäre mir sehr angenehm ...«

Sie stand auf und verschwand plötzlich hinter der Portiere; auf ihrem Gesicht glänzten in diesem Augenblick Tränen (hysterische Tränen, vom Lachen). Erregt und verwirrt blieb ich allein im Zimmer. Ich wußte tatsächlich nicht, worauf ich diese ihre Aufregung zurückführen sollte, eine Aufregung, wie ich sie nie bei ihr für möglich gehalten hätte. Mein Herz zog sich schmerzlich zusammen.

Ich wartete fünf Minuten, es wurden zehn Minuten: auf einmal fiel mir die tiefe Stille auf, und ich beschloß, aus der Tür hinauszusehen und zu rufen. Auf meinen Ruf erschien Marja und teilte mir im ruhigsten Ton von der Welt mit, die gnädige Frau habe sich schon längst angekleidet und sei durch den hinteren Ausgang weggegangen.


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