F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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II

Am vierten Tag, nachdem ich das Bewußtsein wiedererlangt hatte, lag ich zwischen zwei und drei Uhr nachmittags auf meinem Bett, und niemand war bei mir. Es war ein klarer Tag, und ich wußte, daß zwischen drei und vier, wenn die Sonne sich zum Untergang neigte, ein schräger, roter Strahl derselben gerade in den Winkel der Wand, an der ich lag, fallen und diese Stelle mit einem hellen Lichtfleck erleuchten würde. Ich wußte das von den vorhergehenden Tagen, und der Gedanke, daß das unfehlbar in einer Stunde geschehen würde, und vor allem der Umstand, daß ich es mit mathematischer Sicherheit voraus wußte, dies ärgerte mich so, daß ich geradezu wütend wurde. Ich drehte mich krampfhaft mit dem ganzen Leib herum, und auf einmal hörte ich mitten in der tiefen Stille deutlich die Worte: »Herr Jesus Christus, du unser Gott, erbarme dich unser!« Diese Worte wurden halblaut geflüstert, darauf folgte ein tiefer Seufzer aus voller Brust, und dann wurde alles wieder vollkommen still. Ich hob schnell den Kopf.

Ich hatte schon früher, das heißt am vorhergehenden und sogar schon am drittletzten Tag, wahrgenommen, daß in unseren unten gelegenen drei Zimmern etwas Besonderes vorging. In dem Zimmerchen auf der anderen Seite der Wohnstube, das früher Mamas und Lisas Schlafzimmer gewesen war, hauste jetzt offenbar jemand anders. Ich hatte schon mehrmals allerlei Geräusche gehört, sowohl bei Tage als auch bei Nacht, aber immer nur für einen ganz kurzen Augenblick, und dann war wieder für mehrere Stunden vollständige Stille eingetreten, so daß ich nicht weiter darauf geachtet hatte. Am vorhergehenden Abend war mir schon beinahe der Gedanke gekommen, daß Wersilow dort sei, um so mehr, als er bald darauf zu mir hereinkam; indes wußte ich doch zuverlässig aus ihren Gesprächen selbst, daß Wersilow für die Dauer meiner Krankheit in eine andere Wohnung übergesiedelt war und dort auch nächtigte. Über Mama und Lisa aber war mir schon längst bekannt, daß sie beide (ich glaubte, damit ich mehr Ruhe hatte) nach oben in meinen früheren »Sarg« gezogen waren, und ich hatte sogar einmal im stillen gedacht: »Wie mögen sie nur da beide zusammen Platz finden?« Und nun stellte es sich auf einmal heraus, daß in ihrem früheren Zimmer ein Mann wohnte und daß dieser Mann keineswegs Wersilow war. Mit einer Leichtigkeit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte (denn ich hatte bisher immer gemeint, ich sei völlig kraftlos), streckte ich die Beine aus dem Bett hinaus, schob die Füße in die Pantoffeln, zog den grauen, neben mir liegenden Schlafrock aus Lammfell an (Wersilow hatte zu meinen Gunsten auf ihn verzichtet) und begab mich durch unser Wohnzimmer hindurch nach Mamas früherem Schlafzimmer. Das, was ich dort erblickte, machte mich völlig fassungslos; ich hatte absolut nichts Derartiges erwartet und blieb wie angewurzelt auf der Schwelle stehen.

Dort saß ein alter Mann mit ganz grauem Kopfhaar und einem langen, schneeweißen Bart, und es war augenscheinlich, daß er schon lange dort saß. Er saß nicht auf dem Bett, sondern auf Mamas Fußbank und lehnte sich nur mit dem Rücken an das Bett. Übrigens hielt er sich dermaßen gerade, daß er überhaupt keine Stütze nötig zu haben schien, obgleich er offenbar krank war. Er trug über dem Hemd einen kurzen, mit Tuch überzogenen Schafpelz, über die Knie hatte er sich Mamas Reisedecke gelegt, seine Füße steckten in Pantoffeln. Er hatte, wie man erkennen konnte, eine hohe Statur und war breitschultrig; seine ganze Erscheinung machte trotz seiner Krankheit, seiner Blässe und Magerkeit doch einen munteren, kräftigen Eindruck; sein Gesicht war länglich, das Haar sehr dicht, aber nicht sehr lang; er schien über siebzig Jahre alt zu sein. Neben ihm lagen auf einem Tischchen, mit der Hand zu erreichen, drei oder vier Bücher und eine silberne Brille. Obgleich ich vorher nicht im entferntesten daran gedacht hatte, ihn hier zu treffen, so erriet ich doch augenblicklich, wer es war; nur vermochte ich immer noch nicht zu begreifen, wie er hier alle diese Tage fast neben meinem Krankenzimmer hatte so leise sitzen können, daß ich bisher nichts von ihm gehört hatte.

Er rührte sich nicht, als er mich erblickte, sondern sah mich unverwandt und schweigend an, ebenso wie ich ihn, mit dem Unterschied, daß ich ihn mit maßlosem Erstaunen ansah und er mich ohne das geringste Erstaunen. Im Gegenteil, als er in diesen fünf oder zehn Sekunden des Schweigens mein Gesicht auf das genaueste gemustert hatte, lächelte er auf einmal und lachte sogar still und unhörbar, und obgleich das Lachen schnell vorüberging, blieb doch eine helle, heitere Spur davon auf seinem Gesicht und namentlich in seinen Augen zurück; diese waren sehr blau, leuchtend und groß, hatten aber infolge des hohen Alters herabgesunkene, geschwollene Lider und waren von unzähligen kleinen Runzeln umgeben. Dieses sein Lachen machte auf mich einen besonders starken Eindruck.

Nach meiner Ansicht wird, wenn ein Mensch lacht, sein Anblick in den meisten Fällen widerwärtig. Meistens äußert sich im Lachen der Menschen etwas Gemeines, etwas, was den Lachenden gewissermaßen erniedrigt, obgleich der Lachende selbst fast nie etwas von dem Eindruck weiß, den er hervorruft. Ebensowenig, wie er oder überhaupt ein Mensch weiß, was er für ein Gesicht hat, wenn er schläft. Bei manchen sieht das Gesicht auch im Schlaf klug aus; bei anderen dagegen, selbst bei klugen Menschen, wird das Gesicht im Schlaf sehr dumm und daher lächerlich. Ich weiß nicht, woher das kommt: ich will nur sagen, daß der Lachende, ebenso wie der Schlafende, meistens von seinem Gesicht nichts weiß. Weitaus die Mehrzahl der Menschen versteht überhaupt nicht zu lachen. Zu verstehen ist übrigens dabei nichts: das ist ein Talent, das man sich nicht selbst verschaffen kann. Verschaffen kann man es sich vielleicht nur dadurch, daß man sich selbst umbildet, sich nach einer besseren Seite hin entwickelt und die schlechten Neigungen seines Charakters bekämpft: mit großer Wahrscheinlichkeit könnte dann auch das Lachen eines solchen Menschen sich nach der besseren Seite hin ändern. Durch sein Lachen verrät sich so manch einer vollständig, und man durchschaut auf einmal sein ganzes verborgenes Inneres. Sogar ein unzweifelhaft kluges Lachen wirkt mitunter abstoßend. Das Lachen erfordert vor allem Aufrichtigkeit, aber wo findet man die bei den Menschen? Ein zweites Erfordernis beim Lachen ist Gutherzigkeit, aber die Menschen lachen meist boshaft. Ein aufrichtiges, gutherziges Lachen, das ist Heiterkeit, aber wo findet man bei den Menschen in unserem Zeitalter Heiterkeit, und verstehen die Menschen überhaupt noch heiter zu sein? (Das über die Heiterkeit in unserm Zeitalter ist eine Bemerkung Wersilows, die ich in Erinnerung behalten habe.) Die Heiterkeit eines Menschen, das ist derjenige Charakterzug, der das ganze Wesen des Betreffenden am deutlichsten verrät. Aus manchem Charakter wird man lange Zeit nicht klug, aber da braucht der Mensch nur einmal ganz aufrichtig zu lachen, und sein ganzer Charakter liegt plötzlich offen da wie auf der flachen Hand. Nur ein Mensch von der höchsten, glücklichsten Entwicklung versteht es, seine Heiterkeit anderen mitzuteilen, das heißt mittels einer unwiderstehlichen Gutherzigkeit. Ich rede nicht von seiner Verstandesentwicklung, sondern von seinem Charakter, von dem gesamten Wesen des Menschen. Wenn man also einen Menschen durchschauen und seine Seele erkennen will, so muß man sein Augenmerk nicht darauf richten, wie er schweigt oder wie er redet oder wie er weint, selbst nicht darauf, wie er sich für die edelsten Ideen begeistert, sondern man beobachte ihn lieber, wenn er lacht. Hat jemand ein gutes Lachen, so ist er ein guter Mensch. Man achte dabei auch noch auf allerlei Nuancen: so zum Beispiel darf das Lachen eines Menschen in keinem Fall dumm erscheinen, mag es auch noch so heiter und gutherzig sein. Bemerkt man auch nur die geringste Spur von Dummheit in jemandes Lachen, so ist der Betreffende unzweifelhaft ein Mensch von beschränktem Verstand, mag er sich auch noch so sehr den Anschein gehen, als sprudle er nur so von Ideen. Ja, auch wenn sein Lachen nicht dumm ist, er selbst aber einem beim Lachen auf einmal aus irgendeinem Grund lächerlich vorkommt, und wäre es auch nur ein klein wenig, so wisse man, daß dieser Mensch keine rechte eigene Würde besitzt oder wenigstens nicht in vollem Maße. Oder endlich, wenn dieses Lachen sich zwar anderen mitteilt, aber einem doch aus irgendeinem Grunde trivial erscheint, so wisse man, daß auch das Wesen dieses Menschen trivial und alles Edle und Hohe, das man an ihm vorher wahrgenommen hat, entweder absichtliche Fälschung oder unbewußte Entlehnung ist und daß sich dieser Mensch unfehlbar in der Folge nach der schlechten Seite hin verändern, sich mit dem »Nützlichen« beschäftigen, die edlen Ideen aber ohne Bedauern als jugendliche Verirrungen und Schwärmereien von sich werfen wird.

Diesen langen Erguß über das Lachen schalte ich mit Bedacht hier ein und unterbreche um seinetwillen sogar den Fluß der Erzählung, weil ich diese Erkenntnis für eine der wichtigsten halte, zu denen mich das Leben geführt hat. Und besonders empfehle ich sie den jungen Mädchen, die sich bereits anschicken, ihren Erwählten zu heiraten, ihn aber immer noch bedenklich und mißtrauisch betrachten und sich nicht endgültig entschließen können. Und mögen sie sich nicht über den armseligen, unreifen Jüngling lustig machen, weil er sich mit seinen Sittenpredigten auf das Gebiet der Ehe begibt, von der er nicht ein Jota versteht. Aber ich verstehe wenigstens so viel, daß das Lachen der zuverlässigste Prüfstein der Seele ist. Man sehe die Kinder an: nur die Kinder verstehen in idealer Vollkommenheit zu lachen, und darum sind sie auch so entzückende Wesen. Ein weinendes Kind ist mir widerwärtig, aber ein lachendes, fröhliches, das ist ein Strahl aus dem Paradies, das ist eine Offenbarung der Zukunft, in der der Mensch schließlich wieder so rein und so einfältigen Herzens werden wird wie die Kinder. Und siehe da, ein solcher kindlicher, unsagbar anziehender Schimmer lag auch in dem kurzen Lachen dieses alten Mannes. Ich trat sogleich auf ihn zu.


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