F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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Sechstes Kapitel

I

›Natürlich fahre ich hin!‹ beschloß ich, während ich eilig nach Hause ging. ›Sofort fahre ich hin! Es ist sehr wahrscheinlich, daß ich sie allein zu Hause treffe; aber ob ich sie nun allein treffe oder jemand bei ihr ist – das ist ganz egal: ich kann sie herausrufen lassen. Sie wird mich empfangen; sie wird sich wundern, aber mich empfangen. Und wenn sie mich nicht empfangen sollte, so werde ich darauf bestehen, daß sie mich empfängt; ich werde sagen lassen, es sei dringend notwendig. Sie wird glauben, es sei etwas wegen des Schriftstücks, und wird mich empfangen. Und ich werde erfahren, wie sich die Geschichte mit Tatjana verhält. Und dann ... ja, was dann? Wenn ich ihr unrecht getan habe, so werde ich es durch verdoppelte Ergebenheit wieder gutmachen; wenn ich aber im Recht bin und sie schuldig ist, dann ist alles zu Ende! Dann ist auf jeden Fall alles zu Ende! Was habe ich dann noch zu verlieren? Ich habe nichts mehr zu verlieren. Ich fahre hin! Ich fahre hin!‹

Und dennoch ... Ich werde es nie vergessen und mich immer mit Stolz daran erinnern, daß ich nicht hinfuhr! Niemand wird es erfahren, es wird mit mir begraben werden; es genügt, daß ich selbst es weiß und daß ich in einem solchen Augenblick eines so edlen Verhaltens fähig war! ›Es ist eine Versuchung, aber ich werde ihr nicht unterliegen‹, sagte ich mir schließlich, nachdem ich zu ruhiger Überlegung gekommen war. ›Man hat mich durch eine angebliche Tatsache in Schrecken setzen wollen, aber ich habe nicht daran geglaubt, habe den Glauben an ihre Reinheit nicht verloren! Und zu welchem Zweck sollte ich hinfahren, wonach sollte ich mich erkundigen? Ist sie etwa verpflichtet, so unbedingt an mich, an meine »Reinheit« zu glauben, wie ich an sie glaube? Darf sie sich nicht vor meinem »heißen Blut« fürchten und sich durch Tatjana Pawlownas Anwesenheit sichern? Ich habe mir in ihren Augen noch kein unbeschränktes Vertrauen verdient. Mag sie meinetwegen in Unkenntnis darüber bleiben, daß ich es doch verdiene, daß ich mich durch »Versuchungen« nicht verlocken lasse, daß ich böswilligen Verleumdungen über sie keinen Glauben schenke: dafür weiß ich es selbst und werde mich deswegen hochachten. Ich werde mein Gefühl hochachten. O ja, sie hat es so eingerichtet, daß ich das alles vor Tatjanas Ohren aussprach, sie hat Tatjana Zeugin sein lassen, sie wußte, daß Tatjana dasaß und horchte (denn die mußte einfach horchen); sie wußte, daß sie über mich lachte – es ist furchtbar, furchtbar! Aber ... aber – wenn es ihr unmöglich war, das zu vermeiden? Was konnte sie denn in der Lage von vorhin sonst tun, und wie kann ich sie deswegen anklagen? Ich habe sie ja heute selbst mit dem, was ich zu ihr über Krafft sagte, belogen; ich habe sie ja auch meinerseits betrogen, weil es mir ebenfalls unmöglich war, das zu vermeiden, und ich habe unfreiwillig und unschuldigerweise gelogen.‹ »Mein Gott!« rief ich plötzlich, qualvoll errötend, »und was habe ich selbst, ich selbst soeben getan? Habe ich nicht eben dieser Tatjana gegenüber mich gerühmt, daß sie mir ihre Liebe gestanden habe, und habe ich nicht soeben alles Wersilow erzählt? Aber was rede ich? Da ist doch ein großer Unterschied. Hier handelte es sich nur um das Schriftstück; in Wirklichkeit habe ich Wersilow nur von dem Schriftstück Mitteilung gemacht, denn weiter hatte ich gar nichts mitzuteilen und konnte auch gar nichts mitzuteilen haben. Habe ich ihm nicht von vornherein laut und energisch versichert, daß zwischen uns ›nichts sein konnte‹? Er ist doch ein Mensch, der Verständnis hat. Hm! Aber was glüht doch selbst heute noch in seinem Herzen für ein Haß gegen diese Frau! Was für ein Drama muß sich damals zwischen ihnen abgespielt haben, und aus welchem Anlaß? Gewiß aus Selbstsucht! Wersilow ist keines anderen Gefühls fähig als einer grenzenlosen Selbstsucht!«

Ja, dieser letzte Gedanke stieg damals in mir auf, ohne daß ich ihn eigentlich beachtet hätte. Solche Gedanken zogen mir damals, einer nach dem andern, durch den Kopf, und ich war gegen mich völlig aufrichtig: ich machte mir nichts vor, ich suchte mich nicht selbst zu täuschen; und wenn ich damals in jenem Augenblick das eine oder andere nicht begriff, so kam das nur von meinem unzulänglichen Verstand her, nicht etwa daher, daß ich mich selbst in jesuitischer Weise betrogen hätte.

Ich kehrte in sehr lebhafter Erregung nach Hause zurück und befand mich, ohne recht zu wissen warum, in sehr heiterer Stimmung, obwohl in meinem Kopf eine große Unklarheit herrschte. Aber ich fürchtete mich davor, das zu analysieren, und gab mir alle Mühe, mich zu zerstreuen. Ich ging sogleich zu meiner Wirtin: es hatte in der Tat zwischen ihr und ihrem Mann einen argen Krach gegeben. Sie war eine hochgradig schwindsüchtige Frau, vielleicht gutherzig, aber wie alle schwindsüchtigen Frauen sehr launisch. Ich machte mich sogleich daran, die beiden miteinander zu versöhnen, und ging auch zu dem andern Mieter, einem sehr groben, pockennarbigen, dummen, höchst eingebildeten Bankbeamten namens Tscherwjakow, den ich selbst nicht leiden konnte, mit dem ich aber doch in gutem Einvernehmen lebte, weil ich gemein genug war, oft mit ihm zusammen Pjotr Ippolitowitsch zu hänseln. Ich redete ihm sogleich das Ausziehen aus, aber er hätte diese Absicht auch wohl von selbst nicht zur Ausführung gebracht. Schließlich gelang es mir, die Wirtin vollständig zu beruhigen, und überdies brachte ich es fertig, ihr das Kopfkissen vorzüglich zurechtzulegen: »So gut hat es Pjotr Ippolitowitsch nie verstanden«, sagte sie schadenfroh. Darauf beschäftigte ich mich in der Küche mit ihren Senfpflastern und machte ihr eigenhändig zwei vorzügliche derartige Pflaster zurecht. Der arme Pjotr Ippolitowitsch sah mir dabei nur zu und beneidete mich um meine Geschicklichkeit, aber ich erlaubte ihm nicht, die Pflaster auch nur zu berühren, und wurde für meine Leistung buchstäblich mit Tränen der Dankbarkeit belohnt. Aber ich erinnere mich, auf einmal wurde mir das alles gräßlich zuwider, und ich wurde mir bewußt, daß ich der Kranken gar nicht aus Gutherzigkeit behilflich gewesen war, sondern aus irgendeinem ganz andern Grund.

Ich wartete mit nervöser Ungeduld auf Matwej: ich hatte mir vorgenommen, an diesem Abend zum letztenmal das Glück zu versuchen, und ... und auch davon abgesehen fühlte ich ein gewaltiges Bedürfnis zu spielen; sonst wäre mir der Abend unerträglich gewesen. Wenn ich nicht anderswohin gefahren wäre, würde ich es vielleicht nicht ausgehalten haben und zu ihr gefahren sein. Matwej mußte bald erscheinen, aber auf einmal öffnete sich die Tür, und es trat ein unerwarteter Besuch ein: Darja Onissimowna. Ich runzelte die Stirn und wunderte mich. Sie kannte meine Adresse, da sie schon einmal in Mamas Auftrag bei mir gewesen war. Ich forderte sie auf, Platz zu nehmen, und sah sie fragend an. Sie sagte nichts, sondern blickte mir gerade in die Augen und lächelte demütig.

»Sie kommen wohl von Lisa?« fragte ich, da mir dies gerade einfiel.

»Nein, ich komme nur so.«

Ich teilte ihr mit, daß ich gleich wegfahren müsse; sie antwortete wieder, sie sei »nur so« gekommen und werde sogleich wieder weggehen. Sie tat mir auf einmal leid, ich wußte nicht warum. Ich bemerke, daß ihr von uns allen, von Mama und besonders von Tatjana Pawlowna, viel Teilnahme erwiesen worden war, aber nachdem es gelungen war, sie bei Frau Stolbejewa unterzubringen, hatten die Unsrigen sie alle nach und nach vergessen, vielleicht mit Ausnahme von Lisa, die häufig zu ihr ging. Die Schuld daran trug wohl Darja Onissimowna selbst, die trotz all ihrer Demut und ihres einschmeichelnden Lächelns eine starke Neigung sich abzusondern und unsichtbar zu machen besaß. Mir für meine Person mißfiel dieses ihr Lächeln sehr, und auch, daß sie ihrem Gesicht offenbar immer einen gekünstelten Ausdruck verlieh, und es war mir auch sogar schon einmal der Gedanke gekommen, daß sie nicht gerade lange um ihre Olga getrauert habe. Aber diesmal tat sie mir, ich weiß nicht warum, leid.

Und siehe da, auf einmal beugte sie sich, ohne ein Wort zu sagen, vor, senkte den Kopf herab, streckte beide Arme vor, faßte mich um die Taille und legte ihr Gesicht auf meine Knie. Sie ergriff meine Hand, so daß ich glaubte, sie wolle sie küssen, aber sie führte sie an ihre Augen, und ein Strom heißer Tränen ergoß sich über sie. Ihr ganzer Leib wurde von dem Schluchzen erschüttert, aber sie weinte still. Mein Herz zog sich krampfhaft zusammen, obwohl ich gleichzeitig eine Art von Ärger verspürte. Aber sie umschlang mich ganz vertrauensvoll, ohne irgendwie zu fürchten, daß ich darüber böse werden könnte, obgleich sie mich den Augenblick vorher so ängstlich und sklavisch angelächelt hatte. Ich bat sie, sich zu beruhigen.

»Väterchen, Täubchen, ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll. Wenn es dämmrig wird, kann ich es nicht mehr aushalten; wenn es dämmrig wird, kann ich es gar nicht mehr aushalten: es treibt mich auf die Straße, in die Dunkelheit hinaus. Und was mich hinaustreibt, das ist eine seltsame Vorstellung. Es hat sich in meinem Kopf so eine Vorstellung festgesetzt, daß ich – sobald ich hinauskomme, sie auf einmal auf der Straße treffen werde. Ich gehe so dahin und meine sie zu sehen. Das heißt, es sind andere Leute, die da gehen, aber ich gehe mit Absicht hinter ihnen her und denke: ›Ist sie das nicht? Ist das nicht meine Olga?‹ Und so denke ich und denke ich immerzu. Und zuletzt werde ich ganz dumm im Kopf; und ich stoße immer gegen die Leute: ganz übel wird mir dabei. Wie eine Betrunkene torkele ich, und manche schimpfen über mich. Ich lebe schon ganz zurückgezogen und gehe zu keinem Menschen. Denn wohin ich auch komme – es wird mir nur noch schlechter. Da kam ich nun eben an Ihrem Hause vorbei und dachte: ›Ich will zu ihm gehen; er ist von allen der Beste und war auch damals mit dabei.‹ Väterchen, verzeihen Sie mir armem Weib; ich gehe gleich wieder weg ...«

Sie stand plötzlich auf und wollte eilig fort. In diesem Augenblick kam gerade Matwej; ich ließ sie zu mir in den Schlitten steigen und brachte sie unterwegs zu ihrem Haus, zur Wohnung der Frau Stolbejewa.


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