F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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II

Ich fahre fort.

Ich wachte am andern Morgen erst spät auf; ich hatte ungewöhnlich fest und traumlos geschlafen, woran ich mich noch mit Verwunderung erinnere, so daß ich mich nach dem Aufwachen geistig wieder außerordentlich frisch fühlte, gerade als ob der ganze vorhergehende Tag nicht dagewesen wäre. Ich nahm mir vor, zunächst nicht bei Mama vorzusprechen, sondern mich geradeswegs nach der Friedhofskirche zu begeben, um dann nach der Zeremonie mit Mama in ihre Wohnung zurückzukehren und mich von ihr den ganzen Tag über nicht mehr zu trennen. Ich war fest davon überzeugt, daß ich ihn heute bestimmt bei Mama treffen würde, früher oder später, aber sicher.

Alfonsinka und der Wirt hatten die Wohnung schon längst verlassen. Die Wirtin mochte ich nach nichts fragen, und ich hatte mir überhaupt vorgenommen, alle Beziehungen zu ihnen abzubrechen und sogar so bald wie möglich aus der Wohnung auszuziehen; daher legte ich, sobald mir der Kaffee gebracht war, an der Tür sogleich wieder den Haken vor. Aber auf einmal klopfte jemand an die Tür; zu meiner Verwunderung stellte sich heraus, daß es Trischatow war.

Ich öffnete sofort und bat ihn erfreut, hereinzukommen, aber er lehnte dies ab.

»Ich will Ihnen nur zwei Worte von der Schwelle aus sagen ... oder ich will doch lieber hereinkommen, denn ich glaube, man muß hier im Flüsterton sprechen; aber hinsetzen werde ich mich bei Ihnen nicht. Sie betrachten meinen häßlichen Mantel: das kommt daher, daß Lambert mir den Pelz weggenommen hat.«

In der Tat trug er einen alten, schäbigen, für seine Figur viel zu langen Paletot. Er stand mit düsterer, trauriger Miene vor mir; die Hände hatte er in die Taschen gesteckt, den Hut auf dem Kopf behalten.

»Ich will mich nicht hinsetzen, ich will mich nicht hinsetzen. Hören Sie mal, Dolgorukij, ich weiß keine Details, aber ich weiß, daß Lambert gegen Sie eine Verräterei plant, für die nächste Zeit, und er ist fest entschlossen dazu – das ist sicher. Darum nehmen Sie sich in acht! Dem Pockennarbigen ist im Gespräch mit mir ein Wort zuviel entschlüpft – erinnern Sie sich noch an den Pockennarbigen? Aber er sagte nicht, um was es sich handelt, so daß ich Ihnen nicht mehr sagen kann. Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen – leben Sie wohl!«

»Aber so setzen Sie sich doch, lieber Trischatow! Ich bin zwar in Eile, aber ich freue mich so, Sie zu sehen ...« rief ich.

»Ich setze mich nicht, ich setze mich nicht; aber daß Sie sich freuen, mich zu sehen, das werde ich Ihnen nicht vergessen. Ach, Dolgorukij, wozu soll ich andere Leute zu täuschen suchen: ich habe mit vollem Bewußtsein und aus freien Stücken bei allen möglichen Schändlichkeiten mitgewirkt, ich sage Ihnen, bei solchen Gemeinheiten, daß ich mich schäme, sie vor Ihren Ohren auch nur zu erwähnen. Wir sind jetzt bei dem Pockennarbigen ... Leben Sie wohl! Ich bin nicht wert, mich bei Ihnen hinzusetzen.«

»Reden Sie doch nicht so, lieber Trischatow ...«

»Nein, sehen Sie, Dolgorukij: allen andern gegenüber benehme ich mich dreist und werde jetzt anfangen, ein flottes Leben zu führen; ich werde mir bald einen noch besseren Pelz machen lassen und mit Trabern fahren. Aber im stillen werde ich mir doch bewußt sein, daß ich mich bei Ihnen nicht hingesetzt habe, weil ich mich selbst verurteilt habe. Weil ich Ihnen gegenüber ein unwürdiges Subjekt bin. Das wird mir doch eine angenehme Erinnerung in dem ehrlosen Luderleben sein, das ich nun führen werde. Na, leben Sie wohl, leben Sie wohl! Auch die Hand gebe ich Ihnen nicht: nicht einmal Alfonsinka nimmt ja meine Hand. Und bitte, begleiten Sie mich nicht, und kommen Sie auch nicht zu mir; wir haben einen Kontrakt.«

Der sonderbare junge Mensch drehte sich um und ging hinaus. Ich hatte nur keine Zeit, nahm mir aber vor, ihn jedenfalls bald aufzusuchen, sowie ich unsere Angelegenheiten in Ordnung gebracht hatte.

Den weiteren Verlauf dieses ganzen Vormittags will ich nicht schildern, obgleich ich vieles davon erwähnen könnte. Wersilow war zur Beerdigung nicht in der Kirche, und aus der Miene der Meinigen war, schon ehe der Sarg vom Hause zur Kirche gebracht wurde, zu schließen gewesen, daß sie ihn in der Kirche nicht erwarteten. Mama betete andächtig und war augenscheinlich ganz in das Gebet versenkt. Am Sarg standen nur noch Tatjana Pawlowna und Lisa. Aber ich lasse mich auf keine, gar keine Schilderung ein. Nach der Beerdigung kehrten wir alle nach Hause zurück und setzten uns zu Tisch, und wieder merkte ich an den Gesichtern, daß er wahrscheinlich auch zum Essen nicht erwartet wurde. Als wir vom Tisch aufstanden, trat ich zu Mama, umarmte sie innig und wünschte ihr Glück zum Geburtstag; dasselbe tat nach mir auch Lisa.

»Höre, Arkadij«, flüsterte mir Lisa heimlich zu, »sie erwarten ihn.«

»Das merke ich, Lisa, das sehe ich.«

»Er wird gewiß kommen.«

›Also müssen sie doch genaue Nachrichten haben‹, dachte ich, aber ich erkundigte mich nicht danach. Ich will zwar meine Gefühle nicht schildern, aber dieses ganze Rätsel legte sich trotz all meiner geistigen Frische doch plötzlich wie ein Stein auf mein Herz. Wir setzten uns alle im Wohnzimmer mit Mama um den runden Tisch. Oh, welch eine Freude machte es mir, mit ihr zusammenzusein und sie anzusehen! Mama bat mich, etwas aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich las ein Kapitel aus Lukas. Sie weinte nicht und war nicht einmal sehr traurig, aber noch nie war mir ihr Gesicht so geistig belebt erschienen. In ihrem stillen Blick leuchtete ein Gedanke; aber ich konnte in keiner Weise merken, daß sie unruhig auf etwas wartete. Das Gespräch verstummte keinen Augenblick: es wurden viele Erinnerungen an den Verstorbenen vorgebracht; auch Tatjana Pawlowna erzählte vieles von ihm, was mir vorher ganz unbekannt gewesen war. Und überhaupt, wenn ich es niederschreiben wollte, an interessantem Stoff wäre kein Mangel. Sogar Tatjana Pawlowna verhielt sich ganz anders als sonst: sie war sehr sanft, sehr freundlich und namentlich auch sehr ruhig, obgleich sie viel sprach, um Mama zu zerstreuen. Aber eine Einzelheit habe ich gut im Gedächtnis behalten: Mama saß auf dem Sofa, und links von dem Sofa lag auf einem besonderen runden Tischchen, anscheinend zu irgendeinem besonderen Zweck zurechtgelegt, eine alte Ikone ohne verzierte Einfassung, nur mit Heiligenscheinen um die Köpfe der Heiligen, deren zwei darauf dargestellt waren. Dieses Heiligenbild hatte Makar Iwanowitsch gehört, das wußte ich, und ich wußte auch, daß der Verstorbene sich nie von diesem Bild getrennt und es für wundertätig gehalten hatte. Tatjana Pawlowna blickte mehrmals danach hin.

»Hör mal, Sofja«, sagte sie, indem sie den Gegenstand des Gesprächs plötzlich wechselte, »warum soll die Ikone so daliegen? Wollen wir sie nicht auf einen Tisch stellen und an die Wand lehnen und ein Lämpchen davor anzünden?«

»Nein, wir wollen es lieber so lassen, wie es jetzt ist«, sagte Mama.

»Nun ja, gewiß. Es sieht sonst gar zu feierlich aus ...«

Ich verstand damals nicht, um was es ging, aber die Sache war die, daß Makar Iwanowitsch dieses Heiligenbild schon längst mündlich Andrej Petrowitsch vermacht hatte und Mama es ihm jetzt zu übergeben beabsichtigte.

Es war schon fünf Uhr nachmittags: unser Gespräch dauerte immer noch fort; da auf einmal bemerkte ich auf Mamas Gesicht ein Zittern; sie richtete sich schnell auf und horchte, während Tatjana Pawlowna, die gerade sprach, weiterredete, ohne etwas zu bemerken. Ich wandte mich sogleich zur Tür hin und erblickte kurz darauf im Rahmen der Tür Andrej Petrowitsch. Er war nicht von der Haustür, sondern von dem Hintereingang her gekommen, durch die Küche und den Flur, und Mama war von uns allen die einzige gewesen, die seine Schritte gehört hatte. Jetzt will ich die ganze wahnsinnige Szene, die nun folgte, schildern, jedes Wort und jede Gebärde; diese Szene war nur kurz.

Zunächst bemerkte ich in seinem Gesicht nicht die geringste Veränderung, wenigstens nicht auf den ersten Blick. Gekleidet war er wie immer, das heißt beinahe stutzerhaft. In der Hand hatte er einen kleinen, aber kostbaren Strauß frischer Blumen. Er trat zu Mama und überreichte ihn ihr lächelnd; diese sah ihn mit ängstlicher Verwunderung an, nahm aber den Strauß hin, und auf einmal wurden ihre blassen Wangen von einer leichten Röte belebt, und in ihren Augen leuchtete Freude.

»Ich wußte, daß du es so aufnehmen würdest, Sonja«, sagte er. Da wir alle bei seinem Eintritt aufgestanden waren, nahm er, als er an den Tisch trat, Lisas Stuhl, der links neben Mama stand, und setzte sich darauf, ohne zu bemerken, daß er sich auf einen fremden Platz setzte. Auf diese Weise befand er sich unmittelbar neben dem Tischchen, auf dem das Heiligenbild lag.

»Ich sage euch allen guten Tag. Sonja, ich wollte dir heute unter allen Umständen diesen Strauß zu deinem Geburtstag bringen, und darum bin ich auch nicht zur Beerdigung gekommen, um nicht zu einem Toten mit einem Blumenstrauß zu gehen, und ich weiß, du hast mich auch selbst nicht zur Beerdigung erwartet. Der alte Mann wird über diese Blumen gewiß nicht böse sein, da er doch selbst uns die Freude vermacht hat, nicht wahr? Ich denke mir, er ist jetzt hier irgendwo im Zimmer.«

Mama sah ihn sonderbar an; Tatjana Pawlowna zuckte ordentlich zusammen.

»Wer soll hier im Zimmer sein?« fragte sie.

»Der Verstorbene. Aber reden wir nicht davon. Ihr wißt ja, daß jemand, der an all diese Wunder nicht so recht glaubt, immer ganz besonders zu Vorurteilen neigt ... Aber ich will lieber von dem Blumenstrauß sprechen; wie ich ihn hergebracht habe, das ist mir unbegreiflich. Dreimal wandelte mich unterwegs die Lust an, ihn in den Schnee zu werfen und mit dem Fuße zu zerstampfen.«

Mama fing an zu zittern.

»Es war ein überaus heftiges Verlangen. Hab mit mir und meinem armen Kopf Mitleid, Sonja! Ich wollte es deswegen, weil der Strauß gar zu schön ist. Was ist von allen Dingen auf der Welt schöner als eine Blume? Ich trage sie in der Hand, und ringsumher ist Schnee und Kälte. Unsere Kälte und Blumen – welch ein Gegensatz! Aber das wollte ich eigentlich nicht sagen, sondern dies: ich wollte den Strauß einfach zertreten, weil er so schön ist. Sonja, wenn ich jetzt auch wieder verschwinde, so werde ich doch sehr bald wieder zurückkehren, denn ich glaube, ich werde Angst bekommen. Und wenn ich Angst bekomme, wer wird mich dann von meiner Furcht heilen, wo werde ich einen guten Engel wie Sonja hernehmen? ... Was habt ihr da für ein Heiligenbild? Ah, ich erinnere mich, es hat dem Verstorbenen gehört. Es ist ein Erbstück, schon von seinem Großvater her; er hat sich sein ganzes Leben nicht davon getrennt; ich weiß, ich erinnere mich, er hat es mir vermacht; ich erinnere mich ganz genau ... ich glaube, es rührt von Altgläubigen her ... laßt es mich doch einmal besehen!«

Er nahm die Ikone in die Hand, hielt sie nahe an die Kerze und blickte sie starr an, aber nachdem er sie nur einige Sekunden lang so gehalten hatte, legte er sie vor sich hin auf den Tisch. Ich war erstaunt, aber all diese sonderbaren Reden, die er führte, kamen mir so überraschend, daß ich noch nicht begreifen konnte, was hier vorging. Ich erinnere mich nur, daß ein krankhaftes Angstgefühl sich meines Herzens bemächtigte. Mamas Schrecken ging in zweifelndes Staunen und in Mitleid über; sie sah in ihm vor allen Dingen den Unglücklichen: es war auch früher schon manchmal vorgekommen, daß er beinahe ebenso seltsam geredet hatte wie jetzt. Lisa wurde auf einmal aus irgendeinem Grund sehr blaß und machte mir in sonderbarer Art ein Zeichen mit dem Kopf nach ihm hin. Aber am meisten von allen war Tatjana Pawlowna erschrocken.

»Aber was ist denn nur mit Ihnen, lieber Andrej Petrowitsch?« fragte sie vorsichtig.

»Wirklich, ich weiß selbst nicht, was mit mir ist, liebe Tatjana Pawlowna. Beunruhigen Sie sich nicht; ich erinnere mich noch, daß Sie Tatjana Pawlowna und ein liebes Wesen sind. Ich bin aber nur auf einen Augenblick hergekommen; ich wollte Sonja gern etwas Freundliches sagen und suche nun nach einem solchen Wort, obwohl mein Herz voll von Worten ist, die ich nur nicht auszusprechen imstande bin; allerdings sind es ja recht sonderbare Worte. Wißt ihr, ich habe die Empfindung, als ob mein ganzer Mensch gleichsam in zwei Teile gespalten würde«, fuhr er fort, indem er uns alle ringsherum mit furchtbar ernstem Gesicht und durchaus aufrichtiger Mitteilsamkeit anblickte. »Wirklich, ich spalte mich geistig in zwei Teile und fürchte mich davor entsetzlich. Es ist, als ob ein Doppelgänger neben einem stünde; man ist selbst klug und verständig, aber der andere will durchaus neben einem irgendeinen sinnlosen Streich begehen, manchmal auch etwas sehr Lustiges, und auf einmal bemerkt man, daß man selbst derjenige ist, der diesen lustigen Streich begehen will, und weiß Gott, warum man es will, das heißt, man will es gewissermaßen ungern, man will es, obwohl man sich dagegen mit aller Kraft sträubt. Ich habe einmal einen Arzt gekannt, der bei dem Begräbnis seines Vaters in der Kirche auf einmal anfing zu pfeifen. Wahrhaftig, ich habe mich heute gefürchtet, zu dem Begräbnis zu kommen, weil sich, ich weiß nicht warum, in meinem Kopf die feste Vorstellung gebildet hatte, ich würde auf einmal lospfeifen oder loslachen wie dieser unglückliche Arzt, der ein recht schlimmes Ende genommen hat ... Und wirklich, ich weiß nicht, warum ich heute immer an diesen Arzt denken muß, und zwar dermaßen, daß ich von dem Gedanken gar nicht loskommen kann. Siehst du, Sonja, da habe ich nun das Heiligenbild wieder in die Hand genommen« (er hatte es vom Tisch genommen und drehte es in den Händen hin und her), »und weißt du, ich habe die größte Lust, es jetzt, in dieser Sekunde, an den Ofen zu schmettern, gleich an diese Ecke da. Ich glaube bestimmt, daß es sich gleich in zwei Stücke zerspaltet, nicht mehr und nicht weniger.«

Das schlimmste dabei war, daß er das alles ohne jeden Schein von Verstellung und sogar ohne jeden herausfordernden Ton vorbrachte; er sagte es ganz einfach und schlicht, aber um so schrecklicher wirkte es; und er schien sich tatsächlich gewaltig vor etwas zu fürchten, denn ich bemerkte plötzlich, daß seine Hände leise zitterten.

»Andrej Petrowitsch!« rief Mama und schlug die Hände zusammen.

»Laß das Bild, laß das Bild, Andrej Petrowitsch, laß es, leg es hin!« rief Tatjana Pawlowna aufspringend. »Zieh dich aus und leg dich ins Bett! Arkadij, hol den Arzt!«

»Aber ... aber, warum regt ihr euch so auf?« sagte er ruhig und ließ seinen starren Blick von einem zum andern gehen. Dann setzte er plötzlich beide Ellbogen auf den Tisch und stützte den Kopf in die Hände. »Ich habe euch erschreckt, aber wißt ihr was, meine Freunde; macht mir eine kleine Freude, setzt euch wieder hin und beruhigt euch alle wieder – wenn auch nur auf eine Minute! Sonja, ich bin keineswegs hergekommen, um davon zu reden; ich bin hergekommen, um dir etwas mitzuteilen, aber etwas ganz anderes. Leb wohl, Sonja, ich begebe mich wieder auf die Wanderschaft, wie ich schon mehrmals von dir weggegangen bin ... Nun, natürlich werde ich einmal wieder zu dir kommen – in diesem Sinne bist du für mich unentrinnbar. Zu wem könnte ich denn auch kommen, wenn alles aus ist? Glaub mir, Sonja, daß ich jetzt zu dir als meinem guten Engel gekommen bin und durchaus nicht als zu einem Feind: wie könntest du denn auch mein Feind sein, wie könntest du mein Feind sein? Denk nicht, daß ich hergekommen bin, um dieses Heiligenbild zu zerschlagen, denn weißt du was, Sonja, ich habe doch große Lust, es zu zerschlagen ...«

Als Tatjana Pawlowna kurz zuvor gerufen hatte: »Laß das Bild!«, da hatte sie ihm die Ikone aus den Händen genommen und hielt sie nun in ihrer Hand. Auf einmal sprang er bei dem letzten Wort hastig auf, riß Tatjana Pawlowna das Bild blitzschnell aus der Hand, holte wütend aus und schmetterte es aus aller Kraft gegen die Ecke des Kachelofens. Das Heiligenbild zersprang genau in zwei Teile ... Er wandte sich plötzlich nach uns um, und sein blasses Gesicht war auf einmal rot geworden, beinahe purpurrot, und jeder Muskel in seinem Gesicht zitterte und zuckte.

»Faß es nicht als sinnbildliche Handlung auf, Sonja! Ich habe es nicht zerschlagen, weil es ein Stück aus Makars Erbschaft war, sondern nur einfach so, um es zu zerschlagen ... Aber ich werde doch zu dir zurückkehren, zu meinem letzten guten Engel! Übrigens, meinetwegen kannst du es auch als sinnbildliche Handlung auffassen, denn das ist es ja doch unbedingt! ...«

Nach diesen Worten verließ er eilends das Zimmer, wieder durch die Küche (wo er seinen Pelz und seine Mütze gelassen hatte). Ich will nicht im einzelnen schildern, was mit Mama vorging: zu Tode erschrocken stand sie da, hob die Arme in die Höhe, faltete die Hände und rief ihm nach:

»Andrej Petrowitsch, komm doch wenigstens noch einmal zurück, um Abschied zu nehmen, Lieber!«

»Er wird schon zurückkommen, Sofja, er wird schon zurückkommen! Sei unbesorgt!« schrie Tatjana Pawlowna; sie zitterte am ganzen Leib in einem furchtbaren Anfall von geradezu tierischer Wut. »Du hast ja gehört, er hat selbst versprochen zurückzukommen! Laß den tollen Menschen sich nur noch zum letztenmal herumtreiben! Wenn er erst alt ist und nicht mehr laufen kann, wer wird ihn dann pflegen, wer anders als du, seine alte Wärterin? Das hat er ja selbst geradezu ausgesprochen, er schämt sich nicht ...«

Was uns andere anlangt, so lag Lisa in Ohnmacht. Ich wollte ihm schon nachlaufen, stürzte dann aber zu Mama hin. Ich schlang die Arme um sie und hielt sie so. Lukerja kam mit einem Glas Wasser für Lisa herbeigelaufen. Aber Mama kam bald wieder zu sich; sie ließ sich auf das Sofa sinken, bedeckte das Gesicht mit den Händen und brach in Tränen aus.

»Aber, aber ... aber, so lauf ihm doch nach!« schrie Tatjana Pawlowna, wie wenn sie auf einmal zur Besinnung kam, aus voller Kehle. »Lauf ... lauf ... hol ihn ein, bleib auf Schritt und Tritt bei ihm, lauf lauf!« rief sie und suchte mich mit aller Kraft von Mama wegzuzerren. »Ach, da laufe ich schon lieber selbst!«

»Arkascha, ach, lauf ihm doch recht schnell nach!« rief plötzlich auch Mama.

Ich rannte Hals über Kopf hinaus, ebenfalls durch die Küche und über den Hof, aber er war nirgends mehr zu sehen. In der Ferne bewegten sich in der Dunkelheit auf dem Gehsteig die schwarzen Gestalten von Passanten; ich machte mich daran, ihnen nachzulaufen, und wenn ich einen eingeholt hatte, blickte ich ihm im Vorbeilaufen ins Gesicht. So lief ich bis zur nächsten Straßenkreuzung.

›Irrsinnigen zürnt man nicht‹, fuhr es mir durch den Kopf, ›Tatjana Pawlowna war ja aber ganz grimmig vor Wut auf ihn; also kann er doch gar nicht irrsinnig sein ...‹ Oh, ich habe immer die Empfindung gehabt, daß das doch eine sinnbildliche Handlung war, und daß er beabsichtigte, mit etwas unter allen Umständen ein Ende zu machen wie mit diesem Heiligenbild und uns, Mama und allen, das zu zeigen. Aber auch der »Doppelgänger« hatte sicherlich neben ihm gestanden; daran war kein Zweifel ...


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