F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

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III

Aber bei Makar Iwanowitsch traf ich ganz wider Erwarten noch andere Personen an: Mama und den Doktor. Da ich wunderlicherweise während des Hingehens die bestimmte Vorstellung gehabt hatte, daß ich den alten Mann allein treffen würde wie gestern, so blieb ich auf der Schwelle in stumpfer Verwunderung stehen. Aber ich hatte noch keine Zeit gehabt, ein finsteres Gesicht zu machen, als sogleich auch Wersilow hinzukam und nach ihm auf einmal auch Lisa... Sie hatten sich also zufällig alle bei Makar Iwanowitsch versammelt, und zwar gerade zu einer Zeit, wo es mir unerwünscht war!

»Ich wollte mich nach Ihrem Befinden erkundigen«, sagte ich, indem ich gerade auf Makar Iwanowitsch zuging.

»Danke, Lieber, ich hatte dich erwartet: ich wußte, daß du kommen würdest! Ich habe in der Nacht an dich gedacht.«

Er blickte mir freundlich ins Gesicht, und ich konnte sehen, daß ich wohl derjenige war, den er von allen Anwesenden am liebsten hatte, aber ich bemerkte auch sofort unwillkürlich, daß, wenn auch sein Gesicht heiter aussah, doch die Krankheit in der Nacht Fortschritte gemacht hatte. Der Doktor hatte ihn kurz vorher sehr gründlich untersucht. Ich erfuhr später, daß dieser Doktor (derselbe junge Mensch, mit dem ich mich überworfen hatte und der Makar Iwanowitsch gleich von dessen Ankunft an behandelte) dem Patienten große Aufmerksamkeit zuwandte und bei ihm einen ganzen Komplex verschiedener Krankheiten – ich verstehe nur nicht, sie in der medizinischen Sprache zu bezeichnen – annahm. Makar Iwanowitsch stand, wie ich auf den ersten Blick bemerkte, mit ihm schon auf dem besten freundschaftlichen Fuß; mir mißfiel das sofort – übrigens befand ich mich natürlich in diesem Augenblick auch in recht unangenehmer Stimmung.

»Das wollte ich auch fragen, Alexander Semjonowitsch: wie geht es unserm lieben Kranken heute?« erkundigte sich Wersilow. Wäre ich nicht so verstört gewesen, so wäre es mir vor allen Dingen höchst interessant gewesen, das Benehmen Wersilows diesem alten Mann gegenüber zu beobachten; daran hatte ich schon gestern gedacht. Ganz besonders fiel mir jetzt Wersilows außerordentlich sanfter, angenehmer Gesichtsausdruck auf, der den Eindruck völliger Aufrichtigkeit machte. Ich habe, glaube ich, schon früher einmal bemerkt, daß Wersilows Gesicht immer wunderbar schön wurde, sobald er es mit jemand auch nur einigermaßen gut und freundlich meinte.

»Ach, wir zanken uns immer«, antwortete der Arzt.

»Sie zanken sich mit Makar Iwanowitsch? Das kann ich nicht glauben; mit dem kann man sich nicht zanken.«

»Aber er gehorcht gar nicht; er schläft nachts nicht...«

»Na, nun hör aber auf, Alexander Semjonowitsch, du hast mich ja schon genug gescholten«, sagte Makar Iwanowitsch lachend, »Nun, wie steht's, Väterchen Andrej Petrowitsch, wie ist man denn beim Gericht mit unserm Fräulein verfahren? Die hier ist schon den ganzen Morgen in Angst und Unruhe«, fügte er, auf Mama zeigend, hinzu.

»Ach, Andrej Petrowitsch«, rief Mama, die tatsächlich sehr beunruhigt war, »erzähl es uns doch recht schnell und quäl uns nicht: wie ist denn über die Ärmste entschieden worden?«

»Unser Fräulein ist verurteilt!«

»Ach!« rief Mama.

«Aber nicht zur Verschickung nach Sibirien, beruhige dich, sondern nur zu fünfzehn Rubeln Strafe; es war die reine Komödie!«

Er setzte sich hin und der Doktor ebenfalls. Dieses Gespräch bezog sich auf Tatjana Pawlowna, und ich hatte von dieser Geschichte noch gar nichts erfahren. Ich saß links von Makar Iwanowitsch, und Lisa setzte sich mir gegenüber an seine rechte Seite; sie hatte offenbar einen eigenen, besonderen, erst von heute herrührenden Kummer, mit dem sie eben zu Mama gekommen war; der Ausdruck ihres Gesichts war unruhig und aufgeregt. In diesem Augenblick trafen sich zufällig unsere Blicke, und ich dachte auf einmal im stillen: ›Wir haben beide Schmach erlitten, und ich muß den ersten Schritt zur Annäherung tun.‹ Ein mildes Gefühl ihr gegenüber erfüllte plötzlich mein Herz. Unterdessen begann Wersilow zu erzählen, was sich an diesem Morgen zugetragen hatte.

Die Sache war die, daß Tatjana Pawlowna an diesem Morgen beim Friedensgericht einen Prozeß mit ihrer Köchin gehabt hatte. Es war eine höchst unbedeutende Geschichte; ich habe schon erwähnt, daß die boshafte Finnin manchmal, wenn sie sich ärgerte, wochenlang schwieg und auf die Fragen ihrer Herrin kein Wort erwiderte; ich habe ebenfalls erwähnt, wie schwach sich ihr gegenüber Tatjana Pawlowna zeigte, die sich von ihr alles gefallen ließ und sich um keinen Preis dazu entschließen konnte, sie ein für allemal wegzujagen. Alle solchen psychologischen Kapricen alter Jungfern und alter Weiber sind in meinen Augen im höchsten Grade verächtlich und verdienen keinerlei Aufmerksamkeit, und wenn ich mich trotzdem entschlossen habe, diese Geschichte hier vorzutragen, so tue ich es einzig und allein deswegen, weil es dieser Köchin beschieden ist, später, im weiteren Verlauf meiner Erzählung, eine nicht unbedeutende und verhängnisvolle Rolle zu spielen. Also endlich hatte Tatjana Pawlowna denn doch die Geduld verloren, und sie hatte der eigensinnigen Finnin, die ihr schon ein paar Tage lang nicht geantwortet hatte, eine Ohrfeige gegeben, was früher noch nie vorgekommen war. Die Finnin hatte auch da nicht den geringsten Laut hören lassen, war aber gleich an demselben Tage mit einem ehemaligen Schiffsfähnrich namens Osjotrow in Verbindung getreten, der an derselben Hintertreppe unten in einer Schlafstelle wohnte, sich mit allerlei Vertretungen vor Gericht abgab und natürlich im Kampf ums Dasein die Leute zum Prozessieren antrieb. Schließlich war Tatjana Pawlowna vor den Friedensrichter zitiert worden, und auch Wersilow hatte aus irgendeinem Grund bei der Untersuchung der Sache als Zeuge erscheinen müssen.

Das alles erzählte Wersilow außerordentlich munter und scherzhaft, so daß sogar Mama lachte; er stellte sowohl Tatjana Pawlowna als auch den Schiffsfähnrich und die Köchin mit schauspielerischer Kunst dar. Die Köchin hatte dem Gericht gleich von vornherein erklärt, sie beantrage eine Geldstrafe, »denn wenn das gnädige Fräulein sitzen muß, für wen soll ich dann kochen?« Auf die Fragen des Richters hatte Tatjana Pawlowna überaus hochmütig geantwortet und es sogar verschmäht, sich zu verteidigen; vielmehr hatte sie ihre Aussage mit den Worten geschlossen: »Ich habe sie geschlagen und werde sie auch wieder schlagen«, wofür ihr sofort wegen ungebührlicher Antwort vor Gericht eine Geldstrafe von drei Rubeln auferlegt worden war. Der Schiffsfähnrich, ein langaufgeschossener, magerer junger Mensch, hatte angefangen, zur Verteidigung seiner Klientin eine lange Rede zu halten, war aber schmählich aus dem Konzept gekommen und hatte den ganzen Saal zum Lachen gebracht. Die Verhandlung war bald zu Ende, und Tatjana Pawlowna war verurteilt worden, der beleidigten Marja fünfzehn Rubel zu zahlen. Sie hatte unverzüglich ihr Portemonnaie herausgeholt und das Geld hingeben wollen, wobei der Schiffsfähnrich sofort herangetreten war und die Hand ausgestreckt hatte, um es in Empfang zu nehmen, aber Tatjana Pawlowna hatte seine Hand beinahe mit einem Stoß weggeschoben und sich an Marja gewandt. »Lassen Sie doch, gnädiges Fräulein, bemühen Sie sich deswegen nicht, schreiben Sie es auf die Rechnung; mit dem hier werde ich schon selbst abrechnen.« – »Nun sieh mal bloß, Marja, was hast du dir da für einen langen Laban genommen!« hatte Tatjana Pawlowna, auf den Schiffsfähnrich zeigend, gesagt; sie hatte sich furchtbar darüber gefreut, daß Marja endlich wieder mit ihr redete. – »Ja, ein langer Laban ist er schon, gnädiges Fräulein«, hatte Marja mit schlauer Miene geantwortet, »haben Sie die Kotelette heute mit Erbsen befohlen? Ich habe vorhin nicht ordentlich hingehört, ich mußte schnell hierher.« – »Ach nein, mit Kohl, Marja, aber bitte, laß sie nicht wieder anbrennen wie gestern.« – »Nein, ich werde mir heute besondere Mühe geben, gnädiges Fräulein; bitte, gestatten Sie mir Ihre Hand!« und sie hatte zum Zeichen der Versöhnung ihrem gnädigen Fräulein die Hand geküßt. Kurz, sie hatte den ganzen Saal erheitert.

»Nein, was ist sie nur für eine!« sagte Mama kopfschüttelnd, sehr zufrieden sowohl mit der Nachricht als auch mit Andrej Petrowitschs Art zu erzählen, aber sie blickte verstohlen und voller Unruhe nach Lisa hin.

»Sie hat schon von klein auf einen starken Charakter gehabt«, sagte Makar Iwanowitsch lächelnd.

»Galle und Müßiggang«, bemerkte der Doktor.

»Bin ich das, die mit dem starken Charakter und mit der Galle und dem Müßiggang?« sagte Tatjana Pawlowna, welche plötzlich zu uns ins Zimmer trat; sie war anscheinend sehr guter Laune. »Aber du, Alexander Semjonowitsch, solltest nicht solchen Unsinn reden; du kennst mich doch schon von der Zeit an, als du erst zehn Jahre alt warst; da wirst du ja gesehen haben, was ich für eine Müßiggängerin bin, und an der Galle behandelst du selbst mich schon ein ganzes Jahr lang und kannst mich nicht gesund machen; du also bist es, der sich da zu schämen hat. Na, nun habt ihr euch wohl genug über mich lustig gemacht; ich danke dir, Andrej Petrowitsch, daß du dich meinetwegen auf das Gericht bemüht hast. Na, und was machst du, Makaruschka; ich bin nur hergekommen, um mich nach dir zu erkundigen, nicht nach dem da« (sie zeigte auf mich, schlug mir aber sofort freundschaftlich mit der Hand auf die Schulter; ich hatte sie noch nie in so heiterer Stimmung gesehen). »Nun, wie steht es mit ihm?« schloß sie, indem sie sich plötzlich mit besorgtem, ernstem Gesicht an den Doktor wandte.

»Er will sich ja nicht ins Bett legen, und wenn er so aufsitzt, schwächt er nur seine Kräfte.«

»Aber ich sitze ja nur ein klein bißchen da, wenn Leute hier sind«, murmelte Makar Iwanowitsch mit kindlich bittendem Gesicht.

»Ja, das haben wir gern, das haben wir gern; wir haben es gar zu gern, wenn die Leute um uns herumsitzen und wir ein bißchen schwatzen können; ich kenne doch meinen Makaruschka«, sagte Tatjana Pawlowna.

»Na aber, was bist du kribblig«, sagte wieder, zum Doktor gewandt, lächelnd der Alte, »du läßt ja gar nicht mit dir reden; warte einen Augenblick und erlaube, daß ich etwas sage: ich werde mich schon hinlegen, mein Teuerster, ich gehorche schon, aber bei uns pflegt man zu sagen: ›Wenn sich einer hinlegt, steht er am Ende nicht wieder auf‹ – das ist es, mein Freund, was für mich im Hintergrund steht.«

»Na ja, wußte ich es doch, daß ein Volksaberglaube dahintersteckt: ›Wenn ich mich hinlege, stehe ich am Ende nicht wieder auf‹ – das ist es, was die Leute aus dem Volk sehr oft fürchten, und da wollen sie dann während der Krankheit lieber auf den Beinen bleiben, als sich im Krankenhaus ins Bett legen. Sie aber, Makar Iwanowitsch, haben einfach Sehnsucht, Sehnsucht nach der Freiheit, nach der Landstraße, das ist Ihre ganze Krankheit; Sie haben sich des längeren Wohnens an einem Ort entwöhnt. Sie sind ja ein sogenannter Pilger! Na, und das Vagabundieren wird ja bei unserem Volk beinahe zur Leidenschaft. Das habe ich nicht selten bei Leuten aus dem Volk beobachtet. Unser Volk ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Vagabund.«

»Also ist Makar deiner Ansicht nach ein Vagabund?« fiel ihm Tatjana Pawlowna ins Wort.

»Oh, so meine ich es nicht; ich habe den Ausdruck in allgemeinem Sinne gebraucht. Na, er ist ja ein religiöser Vagabund, ein gottesfürchtiger Vagabund, aber doch immerhin ein Vagabund... Ich sage das vom medizinischen Standpunkt aus...«

»Ich kann Ihnen versichern«, wandte ich mich auf einmal an den Doktor, »daß Vagabunden eher Sie und ich und alle hier Anwesenden genannt zu werden verdienen, aber nicht dieser alte Mann, von dem Sie und ich noch viel lernen können, denn er hat einen festen Halt im Leben, wir aber, so viele wir hier sind, haben keinen festen Halt... Übrigens, wie könnten Sie das verstehen!«

Ich hatte das offenbar in scharfem Ton gesagt, aber das hatte ich auch gewollt. Ich weiß eigentlich nicht, weshalb ich immer noch dasaß, ich war wie von Sinnen.

»Was hast du bloß?« fragte Tatjana Pawlowna und sah mich mißtrauisch an. »Na, wie findest du ihn, Makar Iwanowitsch?« fragte sie, indem sie mit dem Finger auf mich zeigte.

»Gott segne ihn, er ist ein heller Kopf«, erwiderte der Alte mit ernster Miene; aber bei den Worten »ein heller Kopf« fingen fast alle an zu lachen. Ich bezwang mich mit Anstrengung; am lautesten von allen lachte der Doktor. Recht übel war es, daß ich damals nichts von der Verabredung wußte, die sie vorher getroffen hatten. Wersilow, der Doktor und Tatjana Pawlowna hatten sich schon vor drei Tagen verabredet, Mama mit aller Macht von den schlimmen Ahnungen und Befürchtungen hinsichtlich Makar Iwanowitschs abzubringen, dessen Zustand viel schlimmer und hoffnungsloser war, als ich damals vermutete. Dies war der Grund, weshalb alle Scherze machten und sich Mühe gaben zu lachen. Nur war der Doktor dumm und verstand es natürlich nicht, Scherze zu machen: daher kam denn danach auch die ganze Geschichte. Wenn ich ebenfalls von ihrer Verabredung Kenntnis gehabt hätte, so hätte ich den Skandal, der sich zutrug, nicht hervorgerufen. Lisa wußte auch nichts davon.

Ich saß da und hörte nur mit halbem Ohr zu; sie redeten und lachten, ich aber hatte Darja Onissimowna mit ihren Nachrichten im Kopf und konnte die Vorstellung von dieser Person nicht loswerden; es war mir immer, als säße sie noch vor mir und sähe mich an und stünde vorsichtig auf und würfe einen Blick in das andere Zimmer. Schließlich lachten sie auf einmal alle laut auf. Tatjana Pawlowna hatte, ich weiß absolut nicht aus welchem Anlaß, den Doktor einen gottlosen Menschen genannt. »Na, ihr Herren Doktoren, ihr seid doch sämtlich gottlose Menschen!...«

»Makar Iwanowitsch!« rief der Doktor, indem er auf sehr dumme Art so tat, als sei er beleidigt worden und suche nun einen Schiedsrichter, »bin ich ein gottloser Mensch oder nicht?«

»Du ein gottloser Mensch? Nein, du bist kein gottloser Mensch«, antwortete der Alte ruhig und ernst und blickte ihn unverwandt an. »Nein, Gott sei Dank!« fügte er kopfschüttelnd hinzu, »du bist ein heiterer Mensch.«

»Und wer heiter ist, der ist auch nicht gottlos!« bemerkte der Doktor ironisch.

»Darin steckt etwas Wahres«, sagte Wersilow ohne eine Spur von Lachen.

»Das ist ein vorzüglicher Gedanke!« rief ich unwillkürlich, von dieser Idee frappiert. Der Doktor blickte uns fragend an.

»Vor diesen Gelehrten, vor eben diesen Professoren« (wahrscheinlich hatten sie vorher etwas von den Professoren gesagt), begann Makar Iwanowitsch, die Augen ein wenig niederschlagend, »vor denen hatte ich zuerst große Furcht; ich war ihnen gegenüber ängstlich, denn mehr als alles andere fürchtete ich die Gottlosen. Ich dachte: ›Ich habe nur eine einzige Seele in mir; wenn ich die zugrunde richte, kann ich mir keine andere suchen.‹ Na, aber dann faßte ich Mut: ›Ach was‹, dachte ich, ›sie sind ja keine Götter, sondern ebensolche Menschen mit ihren Leidenschaften wie wir.‹ Und ich war auch sehr neugierig: ›Ich werde da erfahren‹, dachte ich, ›was es mit der Gottlosigkeit für eine Bewandtnis hat.‹ Nur ist mir nachher selbst diese Neugier vergangen, mein Freund.«

Er verstummte, hatte aber offenbar die Absicht, immer mit demselben stillen, ruhigen Lächeln weiterzureden. Es gibt eine Treuherzigkeit, die allen und jedem Vertrauen schenkt und nicht argwöhnt, daß jemand über sie spotten könne. Solche Menschen sind immer beschränkt, denn sie tragen kein Bedenken, das Wertvollste, was ihr Herz enthält, dem ersten besten zu zeigen. Aber mit Makar Iwanowitsch stand es meines Erachtens doch anders, und es war etwas anderes, was ihn zum Reden trieb, nicht nur harmlose Treuherzigkeit: man merkte, daß er für seine Ansichten Propaganda machen wollte. Ich bemerkte mit Vergnügen auf seinem Gesicht ein leises, anscheinend sogar schlaues Lächeln, wenn er sich an den Doktor, und vielleicht auch, wenn er sich an Wersilow wandte. Das Gespräch war offenbar eine Fortsetzung der Diskussionen, die sie vorher in dieser Woche geführt hatten; aber in diesem Gespräch kam unglücklicherweise wieder derselbe verhängnisvolle Ausdruck vor, der mich am vorhergehenden Tage so elektrisiert hatte; nun veranlaßte er mich zu einem Streich, den ich bis auf den heutigen Tag bedauere.

»Vor einem gottlosen Menschen«, fuhr der Alte mit ernster, gesammelter Miene fort, »würde ich mich vielleicht auch jetzt fürchten; die Sache ist nur die, Freund Alexander Semjonowitsch: einem wirklich Gottlosen bin ich überhaupt noch nie begegnet, wohl aber statt dessen manchem Ruhelosen, denn so muß man sie richtiger nennen. Dazu gehören allerlei Leute; man kann sich gar nicht vorstellen, eine wie bunte Gesellschaft das ist: da sind große und kleine, dumme und gelehrte; sogar Leute aus dem niedrigsten Stand finden sich darunter, und alle sind sie ruhelos. Denn ihr ganzes Leben lang lesen sie und legen das Gelesene aus, sich an der Süßigkeit der Bücher sättigend; sie selbst aber verbleiben immer in Verständnislosigkeit und Zweifel und können keine Lösung finden. Der eine hat sich ganz und gar entblößt, nimmt das aber selbst nicht mehr wahr. Ein anderer hat sich härter gemacht als Stein, aber in seinem Herzen gären allerlei Phantasien. Wieder ein anderer ist gefühllos und leichtsinnig und will weiter nichts als spotten und lachen. Mancher hat sich aus den Büchern nur die Blümchen herausgesucht, und zwar nach seinem eigenen Geschmack; er selbst aber ist ruhelos und kann zu keinem Urteil kommen. Und ich sage noch einmal: es gibt da viel Mißbehagen. Ein geringer Mensch leidet Not; er hat kein Brot, weiß nicht, wie er seine Kinderchen ernähren soll, schläft auf hartem Stroh, aber das Herz in der Brust ist ihm heiter und leicht; und auch wenn er sündigt und sich grob benimmt, ist ihm doch das Herz leicht. Aber ein großer Herr hat sein gutes Essen und Trinken und sitzt auf einem Haufen Gold, aber in seinem Herzen steckt doch immer dieselbe Unruhe. Manch einer hat alle Wissenschaften durchstudiert, aber aus der Unruhe kommt er doch nicht heraus. Und ich denke mir, je mehr der Verstand zunimmt, um so mehr nimmt auch das Mißbehagen zu. Und wenn man noch bedenkt: sie lehren nun schon, solange die Welt steht, aber was haben sie denn Gutes gelehrt, wodurch die Welt ein recht schöner, heiterer, freudenreicher Wohnsitz würde? Und ich will noch eins sagen: sie haben keine edle Schönheit und wollen sie auch nicht haben; alle sind sie ins Verderben geraten, aber ein jeder lobt die Art des Verderbens, und sich der einigen Wahrheit zuzuwenden, daran denkt er nicht; das Leben ohne Gott aber ist nur eine einzige Qual. Und so kommt es darauf hinaus, daß wir eben das verfluchen, wodurch wir erleuchtet werden, und das selbst nicht wissen. Und was liegt auch für ein Sinn darin: der Mensch kann überhaupt nicht existieren, ohne sich vor etwas zu beugen; ein solcher Mensch erträgt sich selbst nicht, kein Mensch kann das. Und wenn der Mensch Gott absetzt, so beugt er sich vor einem Götzen – einem hölzernen oder einem goldenen oder einem bloß gedachten. Götzendiener sind das alles, nicht Gottlose, so muß man sie nennen. – Na, aber wie sollte es keine Gottlosen geben? Es gibt Menschen, die wirklich gottlos sind, aber die sind viel furchtbarer als jene, weil sie mit dem Namen Gottes auf den Lippen einhergehen. Ich habe wiederholt von ihnen gehört, aber zusammengetroffen bin ich mit ihnen überhaupt noch nicht. Es gibt aber solche, mein Freund, und ich meine, es ist sogar notwendig, daß es welche gibt.«

»Es gibt solche, Makar Iwanowitsch«, bekräftigte Wersilow dies plötzlich, »und es ist notwendig, daß es welche gibt.«

»Sicherlich gibt es welche, und es ist notwendig, daß es welche gibt!« rief ich unwillkürlich, unhemmbar und leidenschaftlich; ich weiß nicht, warum, aber Wersilows Ton bezauberte mich, und in dem Satz: »Es ist notwendig, daß es welche gibt«, lag für mich ein Gedanke, der mich fesselte. Dieses Gespräch war mir ganz unerwartet gekommen. Aber in diesem Augenblick geschah etwas ebenfalls ganz Unerwartetes.


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