F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtes Kapitel

I

Diese ganze Nacht über träumte ich vom Roulett, vom Spiel, von Goldstücken und von Berechnungen. Als säße ich am Spieltisch, berechnete ich fortwährend etwas, einen Einsatz, eine Chance, und das lastete die ganze Nacht auf mir wie ein Alpdruck. Die Wahrheit zu sagen, auch während des ganzen vorhergehenden Tages hatte ich trotz all meiner außerordentlichen seelischen Erregungen alle Augenblicke an den Spielgewinn bei Serschtschikow gedacht. Ich unterdrückte den Gedanken daran; aber die Empfindung konnte ich nicht unterdrücken, und ich zuckte jedesmal bei der bloßen Erinnerung zusammen. Dieser Gewinn hatte mir gleichsam einen Stich ins Herz versetzt. War ich wirklich zum Spieler geboren? Soviel war wenigstens sicher, daß ich die Eigenschaften eines Spielers besaß. Selbst heute noch, wo ich all dies niederschreibe, denke ich ab und zu gern an das Spiel! Es begegnet mir manchmal, daß ich ganze Stunden damit verbringe, schweigend dazusitzen, mich im Kopf mit Spielberechnungen zu beschäftigen und mir auszumalen, wie das alles vor sich gehen, wie ich setzen und gewinnen würde. Ja, ich besitze viele verschiedenartige Eigenschaften, und meine Seele findet keine Ruhe.

Um zehn Uhr beabsichtigte ich, mich zu Stebelkow zu begeben, und zwar zu Fuß. Matwej hatte ich, sobald er erschienen war, gleich wieder nach Hause geschickt. Während ich Kaffee trank, gab ich mir Mühe, alles ordentlich zu überdenken. Ich hatte ein Gefühl der Zufriedenheit, ohne zunächst zu wissen worüber; bei rascher Selbstprüfung merkte ich, daß ich hauptsächlich deshalb so zufrieden war, weil ich heute zu dem Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu gehen vorhatte. Aber dieser Tag sollte in meinem Leben verhängnisvoll werden; er brachte mir viel Unerwartetes und begann sogleich mit einer Überraschung.

Punkt zehn Uhr öffnete sich meine Tür sperrangelweit, und hereingestürzt kam – Tatjana Pawlowna! Alles in der Welt hätte ich eher erwartet als einen Besuch von ihr; erschrocken sprang ich bei ihrem Anblick auf. Ihr Gesicht trug den Ausdruck höchster Wut, ihre Bewegungen waren zerfahren, und wenn man sie gefragt hätte, so hätte sie vielleicht selbst nicht sagen können, warum sie zu mir gelaufen kam. Ich sage vorgreifend: sie hatte soeben eine außerordentliche Nachricht erhalten, von der sie ganz bestürzt war, und stand noch unter dem ersten Eindruck derselben. Und diese Nachricht betraf auch mich. Übrigens blieb sie bei mir nur eine halbe Minute, na, sagen wir, eine ganze Minute, aber jedenfalls nicht länger. Sie stürzte ganz wild auf mich los.

»Also so benimmst du dich!« schrie sie, indem sie sich vor mich hinstellte und sich mit dem ganzen Oberkörper vorbeugte. »Ach, du Grünschnabel! Was hast du da angerichtet? Oder weißt du es noch nicht? Sitzt da und trinkt Kaffee! Ach, du Schwatztante, du Klatschmaul, du papierner Liebhaber ... Solche Buben müßte man mit dem Stock durchhauen, mit dem Stock, mit dem Stock!«

»Aber Tatjana Pawlowna, was ist denn passiert? Was ist denn passiert? Ist Mama? ...«

»Du wirst es schon noch erfahren!« rief sie drohend und lief aus dem Zimmer, kaum daß ich sie ordentlich gesehen hatte. Ich hätte ihr natürlich nacheilen können, aber es hielt mich ein Gedanke zurück, nicht eigentlich ein Gedanke, sondern eine dunkle Unruhe: ich ahnte, daß der »papierne Liebhaber« unter ihren Schimpfworten das schlimmste gewesen war. Natürlich hätte ich allein nicht den Sinn erraten, aber ich ging schnell los, um möglichst bald mit Stebelkow fertig zu werden und mich dann zum Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu begeben. »Dort werde ich den Schlüssel zu all diesen Rätseln finden!« dachte ich instinktiv.

Merkwürdig, wie es zugegangen war, aber Stebelkow wußte schon die ganze Geschichte über Anna Andrejewna, sogar mit vielen Einzelheiten; ich will nicht seine Reden und Gesten schildern, aber er war entzückt, bis zur Begeisterung entzückt über diesen »Meisterstreich«.

»Ist das ein Frauenzimmer! Nein, so ein Frauenzimmer!« rief er aus. »Nein, die ist eine andere Sorte als wir; wir sitzen ahnungslos da, sie aber bekommt Lust, Wasser unmittelbar aus der Quelle zu trinken, und – schon ist es geschehen! Das ... das ist eine antike Statue! Das ist eine antike Minervastatue, nur daß sie umhergeht und ein modernes Kleid trägt!«

Ich ersuchte ihn, zur Sache zu kommen; die ganze Sache bestand, wie ich mir gleich gedacht hatte, nur darin, daß ich den Fürsten Sergej dazu überreden möchte, zum Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu fahren und diesen um eine definitive Unterstützung zu bitten. »Sonst kann es ihm sehr, sehr schlecht gehen, und die Sache liegt dann nicht mehr in meiner Hand. Nicht wahr?«

Er sah mir ins Gesicht, nahm aber wohl nicht an, daß mir über die Lage des Fürsten Sergej mehr bekannt sei, als ich bei unserm vorigen Gespräch gewußt hatte. Und er konnte das auch nicht annehmen, da ich selbstverständlich mit keinem Wort und keiner Andeutung verriet, daß ich etwas von den Aktien wußte. Unsere Erörterungen dauerten nicht lange; er versprach mir sogleich Geld, »eine bedeutende Summe, eine ganz bedeutende Summe«, wenn ich es nur dahin brächte, daß der Fürst hinführe. Die Sache sei eilig, sehr eilig; das sei eben das Unglück, daß die Sache so eilig sei.

Mich lange mit ihm herumzustreiten wie das vorige Mal, hatte ich keine Lust und stand auf, um fortzugehen, nachdem ich für alle Fälle die Bemerkung hingeworfen hatte, ich würde es versuchen. Aber auf einmal versetzte er mich in unaussprechliches Erstaunen: ich ging schon zur Tür, als er mich plötzlich freundlich mit dem Arm um die Taille faßte und ... die unverständlichsten Dinge zu reden anfing.

Ich lasse die Einzelheiten weg und reproduziere nicht den ganzen Gang des Gesprächs, um den Leser nicht zu ermüden. Der Inhalt war: er schlug mir vor, ihn mit Herrn Dergatschew bekannt zu machen, da ich ja mit diesem umginge.

Ich verstummte für einen Augenblick und gab mir die größte Mühe, mich durch keine Gebärde zu verraten. Ich antwortete dann übrigens sofort, ich sei mit ihm überhaupt nicht weiter bekannt; ich sei zwar dagewesen, aber nur ein einziges Mal und nur zufällig.

»Aber wenn Sie einmal zugelassen worden sind, so können Sie doch auch ein zweites Mal hingehen, nicht wahr?«

Ich fragte ihn geradeheraus, aber sehr kaltblütig, warum er denn diesen Wunsch habe. Und da kann ich nun bis auf den heutigen Tag nicht begreifen, wie ein anscheinend nicht dummer Mensch und nach Wassins Ausdruck ein »Geschäftsmann« eine so weitgehende Naivität bekunden konnte. Er erklärte mir ganz offen, er vermute, daß bei Dergatschew gewiß etwas Verbotenes, etwas streng Verbotenes vorgehe; somit könnte ich, wenn ich das auskundschaften wolle, einen schönen Gewinn für mich erzielen. Und lächelnd zwinkerte er mir mit dem linken Auge zu.

Ich antwortete ihm darauf nichts, was wie eine Bejahung geklungen hätte, sondern tat, als wolle ich mir die Sache überlegen, und versprach, darüber nachzudenken; dann entfernte ich mich so schnell wie möglich. Die Dinge komplizierten sich; ich eilte zu Wassin und traf ihn glücklicherweise zu Hause an.

»Ah, auch Sie!« sagte er rätselhaft, als er mich erblickte.

Ohne über diesen Ausdruck nachzudenken, kam ich sogleich zur Sache und erzählte ihm von Stebelkows Verlangen. Er war augenscheinlich befremdet, obwohl er seine Kaltblütigkeit in keiner Weise verlor. Er erkundigte sich nach allen Einzelheiten.

»Ist es nicht sehr möglich, daß Sie ihn mißverstanden haben?«

»Nein, ich habe ihn richtig verstanden; der Sinn war vollkommen klar.«

»Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar«, fügte er aufrichtig hinzu. »Ja, in der Tat, wenn das alles so war, so hat er gemeint, daß Sie einer gewissen Summe Geldes nicht widerstehen können.«

»Zudem kennt er meine Lage nur zu gut: ich habe viel gespielt und einen schlechten Lebenswandel geführt, Wassin.«

»Ich habe davon gehört.«

»Das Rätselhafteste ist mir, daß er von Ihnen weiß, daß Sie dort verkehren.« Das war von meiner Seite eine riskante Frage.

»Er weiß recht gut«, erwiderte Wassin ganz schlicht, »daß ich da völlig unbeteiligt bin. Und überhaupt sind alle diese jungen Leute eigentlich nur Schwätzer, weiter nichts; Sie wissen das ja selbst am besten von Ihrem damaligen Besuch her.«

Es schien mir, daß er mir nicht vollkommen traute.

»Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar«, fügte er hinzu.

»Ich habe gehört, daß Herrn Stebelkows geschäftliche Angelegenheiten nicht zum besten stehen«, bemerkte ich wieder versuchsweise, »wenigstens habe ich etwas von gewissen Aktien gehört ...«

»Von was für Aktien haben Sie etwas gehört?«

Ich hatte absichtlich von den »Aktien« gesprochen, aber natürlich nicht in der Absicht, ihm das Geheimnis zu erzählen, das mir der Fürst tags zuvor anvertraut hatte. Ich wollte nur eine Andeutung machen und an seinem Gesicht und seinen Augen sehen, ob er etwas von den Aktien wisse. Ich erreichte meinen Zweck: aus einer kaum merklichen, momentanen Bewegung in seinem Gesicht konnte ich entnehmen, daß wohl auch ihm davon etwas bekannt war. Auf seine Frage, von was für Aktien ich etwas gehört hätte, antwortete ich nicht, sondern sprach von etwas anderem weiter; er aber (und das war bemerkenswert) verblieb ebenfalls nicht bei den Aktien.

»Wie befindet sich Lisaweta Makarowna?« erkundigte er sich teilnehmend.

»Sie ist gesund. Meine Schwester hat Sie immer sehr hochgeschätzt ...«

Seine Augen glänzten vor Freude: ich hatte schon längst gemerkt, daß er sich für Lisa sehr interessierte.

»Neulich war Fürst Sergej Petrowitsch bei mir«, teilte er mir plötzlich mit.

»Wann war das?« rief ich.

»Vor genau vier Tagen.«

»Nicht gestern?«

»Nein, nicht gestern.« Er sah mich fragend an. »Später werde ich Ihnen vielleicht Näheres über dieses unser Zusammensein mitteilen, aber jetzt halte ich es für nötig, Sie darauf aufmerksam zu machen«, sagte Wassin rätselhaft, »daß er mir damals den Eindruck machte, als sei sein Gemütszustand und ... sogar sein Geisteszustand nicht normal. Übrigens hatte ich«, fuhr er lächelnd fort, »soeben, bevor Sie kamen, noch einen andern Besuch und sah mich auch hier genötigt, auf einen nicht ganz normalen Zustand des Besuchers zu schließen.«

»War der Fürst eben hier?«

»Nein, der Fürst nicht, ich rede jetzt nicht vom Fürsten. Derjenige, der mich soeben besuchte, war Andrej Petrowitsch Wersilow, und ... Sie wissen von nichts? Mit ihm ist nichts Auffälliges geschehen?«

»Möglicherweise ist mit ihm etwas geschehen, aber was hat er denn gerade bei Ihnen gewollt?« fragte ich hastig.

»Allerdings müßte ich darüber eigentlich Stillschweigen bewahren ... Sie und ich, wir führen heute ein sonderbares Gespräch, es ist reichlich geheimnisvoll«, sagte er und lächelte wieder. »Übrigens hat mir Andrej Petrowitsch kein Stillschweigen auferlegt. Aber Sie sind sein Sohn, und da ich Ihre Gesinnung kenne, so glaube ich diesmal sogar gut daran zu tun, wenn ich Ihnen ein Warnzeichen gebe. Stellen Sie sich vor, er kam zu mir mit der Frage: wenn er in diesen Tagen, in allernächster Zeit in die Lage kommen sollte, sich duellieren zu müssen, ob ich dann bereit sei, das Amt seines Sekundanten zu übernehmen. Selbstverständlich habe ich das entschieden abgelehnt.«

Ich war grenzenlos erstaunt; diese Neuigkeit war die beunruhigendste von allen: da war etwas geschehen, da hatte sich etwas ereignet, da hatte sich unbedingt etwas zugetragen, was ich noch nicht wußte! Plötzlich ging mir flüchtig die Erinnerung daran durch den Kopf, daß Wersilow am vorhergehenden Tag zu mir gesagt hatte: »Ich werde nicht zu dir kommen, aber du wirst zu mir gelaufen kommen.« Ich brach schnell auf, um zum Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu eilen, da ich mit noch größerer Bestimmtheit spürte, daß das Rätsel sich mir dort lösen werde. Als Wassin mir Lebewohl sagte, bedankte er sich noch einmal bei mir.


 << zurück weiter >>