F. M. Dostojewskij
Der Jüngling
F. M. Dostojewskij

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

II

Der alte Fürst saß vor dem Kamin, die Beine mit einer Decke umwickelt. Er empfing mich mit einem fragenden Blick, als wundere er sich darüber, daß ich gekommen war, während er doch selbst fast alle Tage zu mir geschickt hatte, ich möchte kommen. Im übrigen begrüßte er mich freundlich, antwortete aber auf meine ersten Fragen etwas mißmutig und zerstreut. Ab und zu schien er über etwas nachzudenken und blickte mich unverwandt an, als hätte er etwas, was sich jedenfalls auf mich bezog, vergessen und suchte sich nun daran zu erinnern. Ich sagte ihm geradeheraus, daß ich schon alles gehört hätte und mich sehr darüber freute. Sogleich erschien ein freundliches, gutherziges Lächeln auf seinen Lippen, und er wurde lebhafter; seine Vorsicht und sein Mißtrauen waren mit einem Schlag verschwunden, wie wenn er sie ganz vergessen hätte. Und er hatte sie natürlich auch vergessen.

»Mein lieber Freund, das habe ich ja doch gewußt, daß du der erste sein würdest, der zu mir käme, und weißt du, noch gestern habe ich bei mir gedacht: »Wer wird sich darüber freuen? Er wird sich darüber freuen.« Na, sonst wird es niemand weiter tun, aber das schadet auch nichts. Die Leute haben böse Zungen, aber das ist ja ganz gleichgültig ... Cher enfant, all das ist so großartig und so reizend ... Aber du kennst sie ja selbst recht gut. Und von dir hat Anna Andrejewna sogar eine sehr hohe Meinung. Sie hat das ernste, reizvolle Gesicht eines englischen Stahlstichs. Das ist der reizendste englische Stich, den es nur geben kann ... Vor zwei Jahren hatte ich eine ganze Sammlung solcher Stiche ... Ich habe immer diese Absicht gehabt, immer; ich wundere mich nur darüber, daß ich nie daran gedacht habe.«

»Sie haben, soviel ich mich erinnere, Anna Andrejewna von jeher sehr liebgehabt und sie besonders bevorzugt.«

»Mein Freund, wir wollen niemandem Schaden zufügen. Das Leben mit Freunden, mit Verwandten, mit Menschen, die unserm Herzen nahestehen, ist ein Paradies. Wir haben alle etwas von einem Dichter an uns ... Kurz, das ist schon seit den Urzeiten bekannt. Weißt du, wir wollen im Sommer zuerst nach Soden gehen und dann nach Badgastein. Aber du bist ja so lange nicht hier gewesen, mein Freund, was ist denn das mit dir? Ich habe auf dich gewartet. Und nicht wahr, wie vieles, vieles hat sich seitdem ereignet! Schade nur, daß ich eine solche Unruhe habe; sowie ich allein bin, werde ich unruhig. Darum darf ich auch gar nicht allein bleiben, nicht wahr? Das ist doch so klar wie zweimal zwei vier. Das habe ich sofort eingesehen, gleich bei den ersten Worten, die sie sprach. Oh, mein Freund, sie hat mir nur ganz wenige Worte gesagt, aber die ... die waren wie das herrlichste Gedicht. Aber du bist ja ihr Bruder, beinahe ihr Bruder, nicht wahr? Mein Lieber, es hat schon seinen Grund, daß ich dich so liebgewonnen habe! Ich versichere dir, ich habe das alles vorausgeahnt. Ich küßte ihr die Hand und fing an zu weinen.«

Er zog das Taschentuch heraus, als ob er wieder zu weinen anfangen wollte. Er war sehr ergriffen und befand sich anscheinend in einem so üblen Zustand, wie ich ihn bei ihm meiner Erinnerung nach während der ganzen Zeit unserer Bekanntschaft noch nicht wahrgenommen hatte. Gewöhnlich und sogar fast immer war er unvergleichlich frischer und munterer gewesen.

»Ich möchte allen Menschen verzeihen, mein Freund«, lallte er weiter. »Ich möchte allen Menschen verzeihen und bin schon seit langer Zeit niemandem mehr böse. Die Kunst, la poésie dans la vie, die Wohltätigkeit gegen Unglückliche und sie, die biblische Schöne. Quelle charmante personne, ah? Les chants de Salomon ... non, ce n'est pas Salomon, c'est David, qui mettait une jeune belle dans son lit pour se chauffer dans sa vieillesse. Enfin David, Salomon, das alles geht mir im Kopf bunt durcheinander – der reine Wirrwarr. Jedes Ding, cher enfant, kann sowohl erhaben als auch gleichzeitig lächerlich sein. Cette jeune belle de la vieillesse de David – c'est tout un poème, aber bei Paul de Kock würde daraus so eine scène de bassinoire geworden sein, und wir würden alle darüber lachen. Paul de Kock hat kein Gefühl für das richtige Maß und keinen Geschmack, obwohl er Talent besitzt ... Katerina Nikolajewna lächelt über uns ... Ich habe ihr gesagt, daß wir sie nicht stören werden. Wir haben unsern Roman begonnen, und da soll man uns ihn nun auch beenden lassen. Mag es auch nur eine Träumerei sein; aber man soll uns diese Träumerei nicht nehmen!«

»Aber Fürst, wieso denn eine Träumerei?«

»Eine Träumerei! Wieso es eine Träumerei ist? Nun, mag es immerhin eine Träumerei sein, aber man soll uns in dieser Träumerei sterben lassen!«

»O Fürst, warum reden Sie denn vom Sterben? Jetzt müssen Sie leben, nur leben!«

»Aber was habe ich denn anderes gesagt? Das ist es ja eben, was ich immer wiederhole. Ich weiß wahrhaftig nicht, warum das Leben so kurz ist. Der Zweck ist gewiß, daß es einem nicht langweilig werden soll, denn das Leben ist ebenfalls ein künstlerisches Produkt des Schöpfers selbst, in der vollendeten, tadellosen Form eines Puschkinschen Gedichts. Kürze ist das erste Erfordernis eines Kunstwerks. Aber wem das Leben nicht langweilig ist, dem sollte es vergönnt sein, länger zu leben.«

»Sagen Sie, Fürst, ist die Sache schon öffentlich?«

»Nein, mein Lieber, durchaus nicht! Wir alle sind übereingekommen, daß es noch nicht veröffentlicht werden soll. Es bleibt in der Familie, in der Familie, in der Familie. Fürs erste. Ich habe nur Katerina Nikolajewna vollständig eingeweiht, weil ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Oh, Katerina Nikolajewna ist ein Engel, ein Engel!«

»Ja, das ist sie, ja!«

»Ja? Auch du sagst ja? Und ich dachte, du seist ihr Feind. Ach ja, beiläufig, sie hat mich ja gebeten, dich nicht mehr zu empfangen. Und denke dir nur, als du hereinkamst, hatte ich das auf einmal ganz vergessen.«

»Was sagen Sie da?« rief ich und sprang auf. »Warum? Wann hat sie das gesagt?«

(Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht; ja, gerade etwas von dieser Art hatte ich, gleich als Tatjana bei mir gewesen war, erwartet!)

»Gestern, mein Lieber, gestern, und ich verstehe nicht einmal, wie du jetzt hast hereinkommen können, denn es sind Anordnungen getroffen worden. Wie bist du denn hereingekommen?«

»Ich bin ganz einfach hereingegangen.«

»Das war auch das praktischste. Hättest du mit List hereinzukommen gesucht, so hätten sie dich gewiß abgefangen, aber da du ganz einfach hereingegangen bist, so haben sie dich durchgelassen. Die Harmlosigkeit, mon cher, ist in Wahrheit die höchste Schlauheit.«

»Ich verstehe noch nichts: also hatten auch Sie beschlossen, mich nicht mehr zu empfangen?«

»Nein, mein Freund, ich habe gesagt, daß ich mich daran nicht beteilige ... Das heißt, ich habe meine volle Zustimmung gegeben. Und du kannst mir glauben, mein lieber Junge, daß ich dich sehr gern habe. Aber Katerina Nikolajewna verlangte es sehr, sehr nachdrücklich ... Ah, da ist sie ja!«

In diesem Augenblick erschien plötzlich Katerina Nikolajewna in der Tür. Sie war zum Ausfahren angekleidet und kam, wie sie das auch früher zu tun pflegte, bei ihrem Vater vorbei, um ihn zum Abschied zu küssen. Als sie mich erblickte, stutzte sie, wurde verlegen, drehte sich schnell um und ging hinaus.

»Voila!« rief der Fürst überrascht und in starker Aufregung.

»Das ist ein Mißverständnis!« rief ich. »Nur einen Augenblick ... Ich ... ich bin gleich wieder bei Ihnen, Fürst!«

Und ich lief hinaus, hinter Katerina Nikolajewna her.

Alles, was nun folgte, spielte sich so schnell ab, daß ich weder die Möglichkeit hatte, mir die Sache zu überlegen, noch auch mich vorzubereiten, wie ich mich zu benehmen hatte. Hätte ich mich darauf vorbereiten können, so würde ich mich gewiß anders benommen haben! Aber ich hatte wie ein kleiner Junge alle Fassung verloren. Ich wollte nach ihren Zimmern eilen, aber ein Diener sagte mir unterwegs, Katerina Nikolajewna habe die Wohnung bereits verlassen und steige in den Wagen. Ich lief Hals über Kopf nach der Haupttreppe. Katerina Nikolajewna stieg gerade, in ihren Pelz gehüllt, hinab, und neben ihr ging, oder vielmehr es führte sie ein hochgewachsener, schlanker Offizier in Uniform, mit Säbel, ohne Mantel; den Mantel trug ihm ein Diener nach. Das war der Baron; er war Oberst, etwa fünfunddreißig Jahre alt, der Typ eines eleganten Offiziers, hager, mit etwas zu länglichem Gesicht und rötlichem Schnurrbart; selbst die Augenwimpern waren rötlich. Sein Gesicht war zwar in keiner Weise schön, hatte aber scharf geschnittene Züge und einen herausfordernden Ausdruck. Ich schildere ihn hier nur flüchtig, so wie ich sein Bild in jenem Augenblick erfaßte. Ich hatte ihn vorher niemals gesehen. Ich lief ihnen ohne Hut und Pelz die Treppe hinab nach. Katerina Nikolajewna bemerkte mich zuerst und flüsterte ihm schnell etwas zu. Er wollte schon den Kopf nach mir umdrehen, besann sich aber sofort eines anderen und gab dem Diener und dem Portier einen Wink. Der Diener trat auf mich zu, als ich schon dicht bei der Haustür war, aber ich schob ihn mit der Hand beiseite und lief ihnen nach auf die Außentreppe. Bjoring war Katerina Nikolajewna beim Einsteigen in den Wagen behilflich.

»Katerina Nikolajewna, Katerina Nikolajewna!« rief ich außer mir (wie ein Dummkopf, wie ein Dummkopf! Oh, ich erinnere mich an alles; ich hatte keinen Hut auf!).

Bjoring wandte sich von neuem wütend zu dem Diener und rief ihm laut etwas zu – ein oder zwei Worte, aber ich verstand sie nicht. Ich fühlte, daß mich jemand an den Ellbogen faßte. In diesem Augenblick setzte sich der Wagen in Bewegung; ich schrie wieder etwas und stürzte ihm nach. Ich sah, daß Katerina Nikolajewna durch das Wagenfenster blickte und sich anscheinend in großer Aufregung befand. Aber bei meiner schnellen Bewegung, als ich dem Wagen nachstürzte, stieß ich plötzlich unversehens heftig gegen Bjoring und trat ihm dabei, wie es schien, sehr schmerzhaft auf den Fuß. Er stieß einen leichten Schrei aus, knirschte mit den Zähnen, faßte mich mit kräftigem Griff bei der Schulter und stieß mich grimmig von sich, so daß ich etwa drei Schritte weit wegflog. In diesem Augenblick wurde ihm sein Mantel gereicht; er warf ihn um, setzte sich in seinen Schlitten und schrie vom Schlitten aus noch einmal den Dienern und dem Portier etwas in drohendem Ton zu, wobei er auf mich wies. Diese ergriffen mich und hielten mich fest: ein Diener warf mir meinen Pelz um, ein anderer reichte mir meinen Hut, und – ich erinnere mich nicht mehr, was sie dabei sagten, aber sie sagten etwas, und ich stand da und hörte es, verstand aber nichts davon. Doch dann ließ ich sie stehen und lief fort.


 << zurück weiter >>