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Einundzwanzigstes Kapitel.

Des Himmels Lieder wohnen in den Saiten;
Wir wünschen, daß sie nie verhallen möchten;
Sie sind verstummt, und einer stillen Zelle
Gleicht unsre Seel', wo nie Musik erschallt.
Traum folgt dem Traum in Stunden dunkler Nacht.

Wilson: »Die Vergangenheit.«

Philipps Selbstbeherrschung, die er auf eine Weile erlangt hatte, verließ ihn, als er außerhalb des Hauses war. Sein Geist glich einem Chaos – er eilte mechanisch zu Fuß weiter – er ging durch eine Straße nach der andern, die jetzt einsam und verlassen waren, während die Laternen auf den hohen Schnee schienen. Er ließ die Stadt hinter sich zurück und stand nicht eher still, als bis er athemlos und erschöpft den Kirchhof erreichte, wo Katharinens Staub ruhte. Der Schnee hatte aufgehört zu fallen, aber er lag hoch auf den Gräbern – die Eibenbäume, wie mit weißen Leichentüchern bedeckt, schimmerten geisterhaft durch die Dämmerung. An der Einzäunung des Grabes hing noch ein Kranz, den Fanny's Hand dort hingehängt. Aber die Blumen waren mit Schnee bedeckt! Durch die Zwischenräume der ungeheuren und stillen Wolken schimmerten einige schwermüthige Sterne. Selbst die Ruhe des geheiligten Ortes erschien unaussprechlich traurig. Der Tod des Jahres schwebte über dem Tode des Menschen. Und als Philipp sich über das Grab neigte, war innen und außen Alles Eis und Nacht!

Wie lange er an der Stelle blieb, welches seine Bewegungen oder seine Gebete waren, konnte er sich später nicht mehr erinnern. Lange nach Mitternacht hörte Fanny seinen Schritt auf der Treppe, und wie er die Thür seines Zimmers mit ungewohnter Heftigkeit zumachte. Sie hörte ihn auch noch mehrere Stunden in seinem Zimmer auf und ab gehen, bis plötzlich Alles still war. Als Sarah am nächsten Morgen zur gewöhnlichen Stunde eintrat, um die Fensterladen zu öffnen und das Feuer anzuzünden, erschrak sie, als sie wilde Ausrufungen und noch wilderes Lachen hörte. Das Fieber war ihm in's Gehirn gestiegen – er phantasirte.

Mehrere Wochen lang war Philipp Beaufort in drohender Gefahr, denn einen beträchtlichen Theil dieser Zeit lag er bewußtlos, und als die Gefahr vorüber war, ging seine Genesung nur langsam und allmälig vor sich. Es war die erste und einzige Krankheit, der seine kräftige Gestalt je unterworfen gewesen, und das Fieber hatte ihn vielleicht mehr erschöpft, als bei einem Andern würde geschehen sein, in dessen Constitution die Krankheit weniger Widerstand gefunden hätte. Sein Bruder, welcher glaubte, daß er in's Ausland gegangen sei, war mit seiner Gefahr unbekannt. Niemand wartete und pflegte ihn, als die gedungene Wärterin, der bezahlte Arzt und das unverkäufliche Herz des einzigen Wesens, für welches der Reichthum und der Rang des Erben von Beaufort-Court nichts war. Hier war ihm die höchste Lehre des Schicksals in der Eitelkeit jener menschlichen Wünsche vorbehalten, die sich auf Gold und Macht gründen. Denn wie viele Jahre hatte der Verbannte und Ausgestoßene mit Qual und Unwillen nach seinem Geburtsrecht gestrebt! Siehe! es war gewonnen, und mit demselben kam das verwundete Herz und der von Krankheit erschütterte Körper. Als er langsam den Gebrauch seines Verstandes wieder erhielt, fielen ihm diese Gedanken schwer auf's Herz. Er fühlte, daß er mit Recht bestraft sei, weil er während seiner früheren Jugend die Genüsse verachtet hatte, die in seinem Bereiche gewesen. Lag nicht eine Wonne in der festen Gesundheit – in der unbesiegbaren Hoffnung in dem Herzen, welches, wenn gleich verwundet, gequält und schwer geprüft, wenigstens frei war von der schwersten Qual der Leidenschaften, von getäuschter und eifersüchtiger Liebe? Obgleich gewiß, wenn sein Leben erhalten würde, reich und mächtig zu sein, seinen Namen und seine Ehre gerechtfertigt zu sehen, konnte er nicht auf seinem Krankenbette seine frühere Vergangenheit beneiden? Selbst als er mit seinem mitverwaisten Bruder durch die einsamen Felder wanderte und fühlte, mit welcher Energie wir begabt sind, wenn wir etwas zu beschützen haben, oder als er, liebend und geliebt, aus den Augen Eugeniens sich Leben entgegenlächeln sah – oder als er nach jenem traurigen Verlust in einem fernen Lande kühn mit dem Schicksal gekämpft und sich Ehre und Unabhängigkeit errungen? Es liegt etwas in der schweren Krankheit, besonders wenn sie in auffallendem Gegensatz zu der gewohnten Körperstärke steht, was oft die heilsamste Wirkung auf den Geist hervorbringt – was uns oft durch körperliches Leiden von den allzu kränklichen Qualen des Herzens befreit – was uns zu der Einsicht bringt, daß im Leben, wie die Kräftigen es genießen, Gottes großes Prinzip des Guten athmet und sich bewegt. Wir erheben uns vom Krankenbette besänftigt und gedemüthigt, und mehr geeignet, uns nach solchen Segnungen umzusehen, die uns noch zu Gebote stehen.

Philipps Rückkehr, seine Gefahr, die Notwendigkeit der Anstrengung, um ihn zu pflegen, hatte Fanny aus einem Zustande erweckt, der sonst auf die Dauer für das erst kürzlich in ihr gereifte Bewußtsein möchte gefährlich gewesen sein. Mit welcher Geduld, mit welcher Standhaftigkeit, mit welcher unaussprechlichen Vorsicht und Hingebung sie jene erste und heiligste Pflicht der Frauen erfüllte, mag sich der Mann vorstellen, dessen Kampf mit dem Leben und dem Tode mit einer wachsamen und liebenden Wärterin gesegnet gewesen ist. Und bei all' ihrer Angst und ihrem Schrecken hatte sie Augenblicke des Glücks, was sich selber einzugestehen ihr fast verbrecherisch erschien. Denn selbst bei seinen Fieberphantasien schien ihre Stimme einen besänftigenden Einfluß auf ihn auszuüben, und er war ruhiger in ihrer Gegenwart. Und als er endlich wieder zum Bewußtsein kam, war ihr Gesicht das erste, welches er sah, und ihr Name der erste, den seine Lippen aussprachen. Als er dann nach und nach stärker wurde und das Bett mit dem Sopha vertauschte, fand er mehr Vergnügen daran, als früher, sie vorlesen zu hören, was sie mit einem Gefühle that, das Vorleser nicht lehren können. Und einmal, in einer Pause dieser Beschäftigung, sprach er offen mit ihr – theilte ihr seine frühere Geschichte mit – und erzählte ihr, welches Opfer er seinem Bruder gebracht. Und während Fanny weinte, erfuhr sie, daß er nicht mehr einer Andern angehöre!

Wir haben bereits erwähnt, daß dieser Mann bei seinem von Natur thätigen und ungeduldigen Temperamente wenig gewohnt gewesen war, jene Hülfsquellen aufzusuchen, die man in Büchern findet. Aber in jenem Krankenzimmer lehrte ihn Fanny's Stimme – die Stimme derjenigen, deren Geist er einst so stolz beklagt hatte – wie viel Hülfe und Trost die große Masse der Menschen von dem ewigen Genius der Wenigen entlehnt.

Nach und nach, und Schritt für Schritt, da sie so auf einander beschränkt waren und alle anderen Gedanken ausschlossen – denn so heftig auch der Schlag für Philipp gewesen war, der ihm auf eine Zeitlang Gesundheit und Vernunft geraubt hatte, so war er doch nicht so sehr der Sklave der Phantasie, daß er nicht ernstlich alle Gefühle zu vermeiden suchte, die sich noch mit unheiligem Verlangen zu der Verlobten seines Bruders wendeten – nach und nach, und langsam, sage ich, kamen jene fortschreitenden und köstlichen Zeiträume, welche eine Umwälzung in den Neigungen bezeichnen – unaussprechliche Dankbarkeit, brüderliche Zärtlichkeit, die vereinte Stärke des Mitleids und der Achtung, die er für Fanny empfunden, schienen, als er seine Gesundheit wieder erlangte, in noch lebhaftere und innigere Gefühle überzugehen. Er konnte sich nicht länger mit dem eitlen und hochmüthigen Glauben täuschen, daß es ein mangelhafter Geist sei, den sein Herz beschützte; die seltene Schönheit jenes zarten Gesichts – liebenswürdiger vielleicht wegen der Blässe, welche an die Stelle des blühenden Roths getreten war – begann wieder Eindruck auf ihn zu machen. Die Liebe, die er früher so gebieterisch unterdrückt hatte, ehe er Camilla gesehen, kehrte jetzt zurück, und weder Stolz und Ehre hatten ein Recht, sie zu verscheuchen. Eines Abends, als er sich allein glaubte, versank er in tiefe Träumerei und erwachte dann plötzlich mit dem Ausruf: »Empfand ich je wahre Liebe für Camilla, oder war es Leidenschaft, Wahnsinn oder Täuschung?«

Dieser Ausruf wurde von einem Tone beantwortet, der zugleich Freude und Kummer auszudrücken schien. Er blickte auf und sah Fanny vor sich; das Licht des eben aufgegangenen Mondes fiel voll auf ihre Gestalt, aber sie drückte die Hände vor ihr Gesicht, und er hörte sie schluchzen.

»Fanny, liebe Fanny,« rief er und wollte sich vom Sopha herunter zu ihren Füßen werfen. Doch sie zog sich zurück und entfloh aus dem Zimmer wie ein Traum. Philipp stand auf und ging zum ersten Mal nach seiner Krankheit mit schwachen Schritten im Zimmer auf und ab. Mit wie verschiedenen Regungen hatte er, in heftiger und unerträglicher Qual, diesen engen Raum durchschritten! Die zurückkehrende Gesundheit ergoß sich durch seine Adern – eine heitere, wonnevolle, himmlische Freude verbreitete sich um sein Herz. Hatte sich dennoch, nachdem die alte Liebe ihn verlassen, eine Gestalt in warmem Leben, in zarter Schönheit und Fülle, mädchenhafter Zärtlichkeit vor seinen Hoffnungen erhoben? Er blieb am Fenster stehen; das Zimmer schien ihm so beengt, die Nacht draußen so ruhig und lieblich, daß er seine noch nicht ganz überstandene Krankheit vergaß und das Fenster öffnete. Die Luft umwehte sanft und frisch seine Schläfe, und der Kirchthurm schien ihm zum ersten Mal nicht dunkel gegen den Himmel abzustechen. Selbst Katharinens Grabstein, der halb im Mondlicht, halb im Schatten lag, blickte ihn lächelnd an. Das Andenken an seine Mutter hatte sich mit der lebenden Fanny verbunden.

»Du bist gerechtfertigt – dein Sidney ist glücklich,« murmelte er; » ihr haben wir es zu danken!«

Schöne Hoffnungen und milde Gedanken waren in ihm geschäftig, und er blieb am Fenster, bis die zunehmende Kälte ihn vor der Gefahr warnte, der er sich aussetzte. Als der Arzt ihn am nächsten Tage besuchte, fand er, daß das Fieber zurückgekehrt war. Viele Tage lang war Philipp wieder in Gefahr, ohne sich des Schrittes und der Stimme Fanny's bewußt zu sein. Endlich erwachte er wie aus einem langen und tiefen Schlafe – so erfrischt und neubelebt, daß er sogleich fühlte, wie eine große Krisis vorüber und er endlich an die sonnigen Küsten des Lebens zurückgeschwommen sei.

Neben seinem Bette saß Liancourt, der, schon längst beunruhigt durch sein Verschwinden, ihn endlich mit Barlows Hülfe aufgefunden und seit mehreren Tagen die Wache mit der armen Fanny getheilt hatte. Während er noch dieß Alles Philipp erklärte und ihm zu seiner Genesung Glück wünschte, trat der Arzt ein, um den Glückwunsch zu bestätigen. In wenigen Tagen war der Patient im Stande, sein Zimmer zu verlassen, und nichts als Veränderung der Luft schien nöthig, um seine Genesung zu vollenden. Liancourt, der schon seit zwei Tagen ungeduldig geschienen, sich einer Mittheilung zu entledigen, redete ihn jetzt folgendermaßen an: »Mein lieber Freund, ich habe jetzt Ihre Geschichte von Barlow gehört, der mehrmals während Ihres Rückfalles hier war, und um so besorgter für Sie ist, da die Entscheidung Ihrer Sache nahe bevorsteht. Je eher Sie dieses Haus verlassen, desto besser.«

»Dieses Haus verlassen! Und warum? Ist nicht eine Person in diesem Hause, der ich mein Glück und mein Leben verdanke?«

»Ja, und aus demselben Grunde sage ich: Gehen Sie! Es ist die einzige Vergeltung, die Sie ihr leisten können.«

»Pah! – Reden Sie verständlich.«

»Das will ich,« sagte Liancourt ernst. »Ich habe mit ihr an Ihrem Krankenbette gewacht, und weiß, was Sie bereits fühlen müssen; ja ich gestehe, daß selbst die alte Dienerin mit mir darüber zu sprechen gewagt hat. Sie haben diesem armen Mädchen Gefühle eingeflößt, die ihrem Frieden gefährlich sind.«

»Ha!« rief Philipp mit solcher Freude, daß Liancourts Gesicht sich verfinsterte und er sagte:

»Bisher habe ich Sie für zu ehrenvoll gehalten, um –«

»So glauben Sie also, daß sie mich liebt?« unterbrach ihn Philipp.

»Ja, und was dann? Sie, der Erbe von Beaufort-Court – einer jährlichen Rente von 20,000 Pfund – eines historischen Namens – Sie können doch dieses arme Mädchen nicht heirathen?«

»Nun – ich will über das nachdenken, was sie sagen, und auf alle Fälle das Haus verlassen, um der Entscheidung des Prozesses beizuwohnen. Lassen Sie uns jetzt nicht mehr über diesen Gegenstand reden.«

Philipp bemerkte vermöge seines Scharfblicks, daß Liancourt, der von der Schönheit, Unschuld und der unbeschützten Lage Fanny's sehr gerührt war, seine Warnung nicht für sich behalten, sondern, mit der ihm eigenen Biederkeit und der Freiheit eines Mannes in etwas vorgerückten Jahren, mit Fanny gesprochen habe; denn Fanny schien ihn jetzt zu vermeiden – ihre Augen waren schwer und ihr Benehmen verlegen. Er sah die Veränderung, doch war ihm dieselbe nicht leid, sondern er freute sich der Schlüsse, die er daraus zog. Und endlich entfernte er sich mit Liancourt. Er war drei Wochen abwesend, während welcher Zeit die Förmlichkeiten des freundschaftlichen Rechtsstreits entschieden wurden, und das Publikum gerieth in Entzücken über das edle und erhabene Benehmen Robert Beauforts, der, sobald er ein Dokument entdeckt, welches so leicht auf immer in Vergessenheit zu begraben gewesen wäre, sich freiwillig erboten, das Vermögen abzutreten, welches er so lange besessen, indem er ein reines Gewissen dem Gewinn vorgezogen. Einige Personen machten die Bemerkung, wie das Gerücht gehe, daß Philipp Beaufort auch großmüthig gewesen – daß er das Vermögen auf die Lebenszeit seines Oheims abtreten und sich inzwischen mit dem vierten Theile der Einkünfte begnügen wolle. Aber die allgemeine Bemerkung war: er habe nicht weniger thun können! Robert Beaufort war, wie Lord Lilburne einst bemerkt hatte, ein Mann, der dazu geboren, geschaffen und erzogen war, daß die Welt gut von ihm reden mußte, und jetzt war es auch ein Trost für den armen Mann, zu sehen, daß sein Charakter so hoch geschätzt wurde. Wenn Philipp auch hundert Jahre alt werden sollte, so wird er doch nie bei der Menge ein so respektabler und beliebter Mann werden, wie sein würdiger Oheim. Aber am Ende liegt nicht viel daran. Philipp kehrte am Vorabende des Tages, der zu seines Bruders und Camillens Hochzeit bestimmt war, nach H* zurück.


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