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Elftes Kapitel.

Ihr gebt den Bruder mir zurück!

Casimir Delavigne:
»Die Kinder Eduards.«

Eines Abends, eine Woche nach diesem Ereigniß, klopfte ein wilder, zerlumpter und bleicher Jüngling an Robert Beaufort's Thür.

Der Portier kam langsam angegangen.

»Ist Ihr Herr zu Hause? Ich muß ihn augenblicklich sprechen.«

»Das ist mehr, als Ihr könnt, Mann; mein Herr spricht zu dieser Nachtzeit nicht mit Leuten, wie Ihr seid,« versetzte der Portier, die zerlumpte Erscheinung vor sich mit großer Verachtung ansehend.

»Sprechen will und muß ich ihn,« versetzte der junge Mann, und als der Portier ihm in den Weg trat, faßte er ihn mit eiserner Hand am Kragen und warf ihn, so groß und stark er war, auf die Seite und schritt in den geräumigen Vorsaal.

»Halt! halt!« rief der Portier sich wieder fassend, »James! John! hier ist ein Räuber.«

Robert Beaufort war schon seit mehreren Tagen in die Stadt zurückgekehrt. Mrs. Beaufort, die seine Rückkehr aus seinem Club erwartete, war im Speisezimmer. Als sie ein Geräusch im Vorsaale hörte, öffnete sie die Thür und sah die fremde grimmige Gestalt, die ich beschrieben habe, auf sich zukommen. »Wer sind Sie?« sagte sie. »Was wollen Sie?«

»Ich bin Philipp Morton. Wer sind Sie?«

»Mein Mann, Herr Beaufort, ist nicht zu Hause,« sagte Mrs. Beaufort, sich in das Zimmer zurückziehend, während Morton ihr folgte und die Thür zumachte.

»Sie sind also Mrs. Beaufort! Nun, Sie verstehen mich. Ich will meinen Bruder. Er ist mir auf schändliche Weise geraubt worden. Sagen Sie mir, wo er ist, und ich will Alles verzeihen! Geben Sie mir ihn wieder, und ich will Sie und die Ihrigen segnen.« Und Philipp fiel auf seine Kniee und faßte den Saum ihres Kleides.

»Ich weiß nichts von Ihrem Bruder, Herr Morton,« rief Mrs. Beaufort überrascht und bestürzt. »Arthur, den wir jeden Tag erwarten, schreibt uns, daß alles Suchen vergebens gewesen ist.«

»Ha! Sie gestehen also das Nachsuchen ein?« rief Morton aufstehend und seine Fäuste ballend. »Und wer anders als Sie und die Ihrigen würde einen Bruder von dem andern getrennt haben? Antworten Sie mir, wo ist er? Keine Ausflucht, Madame; ich bin in Verzweiflung!«

Obgleich Mrs. Beaufort eine Frau von jener weltlichen Kälte und Gleichgültigkeit war, die in gewöhnlichen Fällen die Stelle des Muthes ersetzen, erschrak sie doch außerordentlich bei dem Ton und der Miene ihres rauhen Gastes. Sie streckte ihre Hand nach der Klingel aus, aber Morton ergriff ihren Arm, hielt ihn mit finsterem Blicke fest und sagte, während seine dunklen Augen Feuer sprühten: »Ich gehe nicht von der Stelle, bis Sie es mir gesagt haben. Wollen Sie meine Dankbarkeit, meinen Segen verwerfen? Hüten Sie sich! Noch einmal, wo haben Sie meinen Bruder verborgen?«

In dem Augenblick öffnete sich die Thür und Robert Beaufort trat ein. Mit einem Freudenschrei machte sich die Dame von Philipp los und eilte auf ihren Mann zu.

»Rette mich von diesem Schurken!« sagte sie mit hysterischem Schluchzen.

Beaufort, der Blackwell's seltsame Berichte von Philipp's Hartnäckigkeit, von seinem gemeinen Umgange und seinem unverbesserlichen Charakter gehört hatte, wurde durch die Bitte seiner Frau von seiner gewohnten Schüchternheit abgebracht.

»Verworfener Mensch!« sagte er, indem er sich Philipp näherte; »nach aller übertriebenen Güte von mir und meinem Sohne, nachdem Sie alle unsere Anerbietungen zurückgewiesen und bei Ihrer elenden und lasterhaften Handlungsweise beharren, wagen Sie, sich in dies Haus zu drängen? Gehen Sie, oder ich lasse Sie von Polizeidienern fortbringen!«

»Mann, Mann,« rief Philipp, die Wuth mäßigend, die ihn vom Kopf bis zu den Füßen erbeben machte; »ich achte nicht auf Ihre Drohungen – ich höre kaum Ihre Vorwürfe – Ihr Sohn oder Sie selber haben meinen Bruder fortgestohlen; sagen Sie mir nur, wo er ist; lassen Sie mich ihn nur noch einmal sehen. Treiben Sie mich nicht fort, ohne eine Wort der Gerechtigkeit und des Mitleids. Ich flehe Sie an – auf meinen Knieen flehe ich Sie an – ja, ich flehe Sie an, Robert Beaufort, Mitleid mit dem Sohne Ihres Bruders zu haben. Wo ist Sidney?«

Gleich allen niedrigen und feigen Männern wurde Robert Beaufort durch Philipp's plötzliche Unterwürfigkeit mehr ermuthigt als besänftigt.

»Ich weiß nichts von Ihrem Bruder, und wenn dies nicht irgend ein Schurkenstreich ist, so bin ich herzlich froh, daß das arme Kind aus der Nähe eines solchen Menschen entfernt ist,« antwortete Beaufort.

»Ich liege noch zu Ihren Füßen und hänge mich zum letztenmal als Bittender an Sie; ich bitte Sie, mir die Wahrheit zu sagen.«

Beaufort, der bei Morton's Zurückhaltung immer muthiger wurde, erhob seine Hand, als wollte er ihn schlagen, als in dem Augenblick ein anderes Wesen, das man bisher nicht bemerkt hatte, und das sich erschrocken über eine Scene, die es nicht begreifen konnte, in einen dunklen Winkel des Zimmers zurückgezogen hatte, jetzt plötzlich vortrat. Eines Kindes sanfte Stimme sagte: »Schlagen Sie ihn nicht, Papa! – Geben Sie ihm seinen Bruder zurück!«

Beaufort's Arm fiel an seiner Seite nieder, denn vor ihm, an der Seite des Ausgestoßenen, kniete seine eigene junge Tochter; sie hatte sich unbemerkt in's Zimmer geschlichen, als ihr Vater eingetreten war. Im trüben Schatten, der nur durch das rothe und plötzlich aufflackernde Feuer im Kamin erhellt wurde, sah er ihr schönes sanftes Gesicht, welches mit Thränen der Aufregung und vielleicht des Mitleids – denn Kinder haben eine rasche Einsicht in den Kummer derjenigen, die nicht weit von ihren Jahren entfernt sind – auf das seine gerichtet war. Philipp sah sich verwirrt um und erblickte das Gesicht, welches ihm zu der Zeit wie das Gesicht eines Engels erschien.

»Hören Sie sie an!« murmelte er; »o, hören Sie sie an! Um ihretwillen trennen Sie nicht eine Waise von der andern!«

»Bringe das Kind fort, Mrs. Beaufort,« rief Robert zornig. »Soll sie sich so entehren? Und Sie, Herr, gehen Sie aus diesem Hause, und wenn Sie sich mit schuldigem Respekt mir nähern können, so will ich Ihnen die Mittel geben, ein ehrliches Leben zu führen!«

Philipp stand auf; Mrs. Beaufort hatte ihre Tochter schon weggeführt, und sie benutzte die Gelegenheit, die Diener hineinzusenden, die jetzt in der Thür standen.

»Wollen Sie gehen,« fuhr Beaufort noch kühner fort, als er die Diener in der Nähe sah, »oder soll ich Sie hinausbringen lassen?«

»Es ist genug, Herr,« sagte Philipp, mit einer plötzlichen Ruhe und Würde, die seinen Oheim überraschte und fast erschreckte: »Wenn die Todten die Lebenden noch überwachen, so hat mein Vater Sie gesehen und Sie gehört. Es wird ein Tag der Gerechtigkeit kommen! – Aus dem Wege, Söldlinge!«

Er machte eine Bewegung mit der Hand, und die Bedienten wichen scheu von ihm zurück. Dann schritt er durch die ungastliche Halle und verschwand.

Als er die Straße erreicht hatte, wendete er sich um und blickte zu dem Hause auf. Seine dunklen und hohlen Augen schimmerten durch das lange rabenschwarze Haar, welches verwirrt über sein Gesicht fiel, und sie vereinten einen Ausdruck fast übernatürlicher Drohung mit einer festen Ruhe; die wilde und ungebändigte Majestät, die bei Lumpen und Schmutz seine Gestalt nie verließ – der ausgestreckte Arm, die hohlen aber edlen Züge, die blütenlose und verwelkte Jugend, Alles gab seinen Zügen und seiner Statur einen Anblick, der majestätisch war in seiner unheimlichen und stummen Wuth. Dort stand er einen Augenblick gleich einem Manne, dem Weh und Unrecht die Macht eines Propheten gegeben, der das Auge des unerbittlichen Schicksals auf das Dach des Unterdrückers lenkt. Dann wendete er sich langsam und mit halbem Lächeln ab und schritt durch die Straßen, bis er in einer von den Gassen ankam, welche die zweideutigeren Quartiere der ungeheuren Stadt durchschneiden. Er stand vor dem Privateingange des kleinen Ladens eines Pfandverleihers still; die Thür wurde von einem Knaben geöffnet, der auf Pantoffeln ging; er stieg die dunkle Treppe hinauf, und dort fand er in einem kleinen Hinterzimmer den Kapitän Burgh Smith, der, ein paar Lichter vor sich, eine Cigarre rauchend und mit sich selber Karten spielend, an einem Tische saß.

»Nun, und welche Nachricht haben Sie von Ihrem Bruder, Phil Eisenfresser?«

»Keine; sie wollen nichts entdecken.«

»Geben Sie ihn auf?«

»Nimmermehr! Ich setze jetzt meine Hoffnung auf Sie!«

»Nun, ich dachte mir wohl, Sie würden genöthigt sein, zu mir zu kommen, und ich will etwas für Sie thun, was ich nicht gerne für mich selber thäte. Ich sagte Ihnen, daß ich den Polizeidiener gekannt, der in der Droschke war. Ich will ihn ausfindig machen. Der Himmel weiß, daß das leicht zu thun ist, und wenn Sie zahlen können, so wollen wir Ihnen schon Nachrichten genug liefern.«

»Sie sollen Alles haben, was ich besitze, wenn Sie mir meinen Bruder wieder verschaffen. Sehen Sie, was es ist, hundert Pfund (es war sein Vermögen) – ohne ihn ist es mir unnütz. Hier sind jetzt fünfzig, und wenn –«

Philipp hielt inne, denn seine Stimme erbebte zu sehr, um ihm zu erlauben weiter zu sprechen. Kapitän Smith steckte die Banknoten in die Tasche und sagte: »Wir wollen es als abgemacht ansehen.«

Kapitän Smith erfüllte sein Versprechen. Er sprach mit dem Polizeioffizier. Sharp hatte zu viel Bestechungen von der Gegenpartei erhalten, um den Angeber zu spielen, und gerne bestätigte er den Verdacht, daß Sidney in der Macht der Beauforts sei. Für zehn Guineen aber versprach er Philipp einen Brief von Sidney zu verschaffen. Dies war Alles, was er unternehmen konnte.

Philipp war damit zufrieden. Nach Verlauf der nächsten Woche übergab Sharp dem Kapitän einen Brief, den dieser wieder an Philipp abgab. Es war Sidney's kritzliche Handschrift, und lautete folgendermaßen:

»Lieber Bruder Philipp!

»Man sagt mir, daß du zu erfahren wünschest, wie es mir geht, und daher ergreife ich die Feder und versichere dir, daß ich Alles aus meinem eigenen Kopfe schreibe. Ich lebe sehr bequem und glücklich – viel besser als je, seitdem die arme liebe Mutter todt ist; darum bitte ich, dich zu beruhigen und nicht zu versuchen, mich aufzufinden, denn ich möchte um die Welt nicht mehr mit dir gehen. Ich wünsche, du mögest ein guter Knabe sein und von deinen bösen Wegen ablassen; denn ich weiß wahrlich nicht, was aus mir hätte werden sollen, wenn ich bei dir geblieben wäre. Herr« – der Name war ausgekratzt – »der Herr bei dem ich bin, sagt, wenn du dich bessern wollest, so wolle er auch als Freund gegen dich handeln; aber er räth dir, wie ein guter Knabe zu Arthur Beaufort zu gehen und ihn wegen des Vorgefallenen um Verzeihung zu bitten, und dann wird Arthur sehr gütig gegen dich sein. Ich schicke dir die große Summe von zwanzig Pfund und der Herr sagt, er würde dir noch mehr schicken, aber es möchte dich nur noch unartiger machen. Ich gehe jetzt jeden Sonntag in die Kirche, lese gute Bücher und bitte Gott immer, daß er deine Augen öffnen möge. Ich habe ein schönes Pferdchen mit einem langen Schweif. So, nicht mehr für jetzt von deinem zärtlichen Bruder

»Am 8. Oktober 18..
»Sidney Morton.«

»Ich bitte dich dringend, suche mich nicht wieder auf. Du weißt, ich wäre beinahe daran gestorben, wenn mir nicht der liebe gute Herr, bei dem ich bin, zu Hülfe gekommen wäre.«


Dies war also die Belohnung für alle seine Leiden und alle seine Liebe. Da war der Brief, offenbar nicht dictirt, mit allen seinen orthographischen Fehlern und von dem Kinde selber mit Mühe geschrieben; der Schlangenzahn drang tief in sein Herz und ließ sein dauerndes Gift zurück.

»Da bin ich auf immer mit ihm fertig,« sagte Philipp, seine bittern Thränen trocknend. »Ich will ihn nicht weiter belästigen; ich will nicht weiter in sein Geheimniß dringen. Für ihn ist es besser so – er ist glücklich! Gut, und ich – ich will mich nimmermehr wieder um ein menschliches Wesen kümmern.«

Er beugte seinen Kopf über seine Hände nieder, und als er sich wieder erhob, war es ihm, als sei sein Herz von Stein. Es schien ihm, als sei das Gewissen selber auf den Flügeln der dahingeschiedenen Liebe aus seiner Seele entflohen.


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