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Zwanzigstes Kapitel.

Vec.
Ihr seht, was folgt.

Herzog.
O edler Herr, noch einmal die Gestalt!

Die Wechselfälle.

An jenem Abende kam Sidney Beaufort in London an. Die Einsamkeit hat das Eigene, daß sie die Leidenschaften ruhig auf der Oberfläche, aber aufgeregt in der Tiefe macht. Sidney hatte sein ganzes Dasein auf einen Gegenstand gesetzt. Als der Brief ankam, der ihm seine Hoffnung raubte, empfand er tief die schreckliche und furchtbare Leere, in die seine Zukunft plötzlich verwandelt war, ohne jedoch zu heftiger und stürmischer Leidenschaft aufgeregt zu werden. Aber Camilla's Brief hatte, wie wir gesehen haben, seinen Muth erhoben und sein Herz neu belebt. Inmitten seiner Verzweiflung hing er mit dem Instinkte der Hoffnung an dem Gedanken, daß sie ihm treu sei. Die Nachricht, daß sie in so kurzer Zeit, nachdem sie ihn verworfen, mit einem Andern verlobt sei, nahm seinen dunkleren und stürmischeren Leidenschaften allen Zwang. In einem Gemüthszustande, der an Wahnsinn grenzte, eilte er nach London – sie aufzusuchen – sie zu sehen; in welcher Absicht, in welcher Hoffnung, wenn es Hoffnung war – konnte er selber nicht sagen. Aber welcher Mann, der glühend und vertrauensvoll geliebt hat, wird zufrieden sein, das Urtheil der ewigen Trennung von anderen Lippen als Derjenigen zu empfangen, die er so verehrt hat und die so treulos geworden ist.

Das Wetter war sehr kalt. Gegen Abend fiel dichter Schnee. Sidney war seit seiner Kindheit nicht in London gewesen, und die ungeheure Stadt, mit winterlichem und eisigem Nebel bedeckt, durch den die eiligen Fußgänger und die langsamen Wagen sich gespensterartig auf den unheimlichen und schlüpfrigen Straßen fortbewegten, öffnete dem Fremden keine gastlichen Arme. Er wußte keinen Schritt von dem Wege – er wurde hin und her gedrängt – seine kaum verständlichen Fragen wurden ungeduldig beantwortet – der Schnee bedeckte ihn – der Frost durchdrang seine Adern. Endlich verschaffte ihm ein Mann, der freundlicher war als die Andern, eine Miethkutsche und befahl dem Kutscher, zu dem entfernten Stadtviertel Berkeley-Square zu fahren. Der Schnee ballte sich unter den Hufen der Pferde – der knarrende Wagen bewegte sich mit der Langsamkeit eines Leichenwagens vorwärts. Endlich, nach einer Zeit so lebhafter Erwartung und Aufregung, deren sich Sidney später nicht ohne Schauder erinnern konnte, hielt der Wagen an – der von Frost erstarrte Kutscher stieg schwerfällig herunter – der Klopfer erschallte laut durch die nebelige Luft, und das Licht in Beauforts Vorsaal blendete die Augen des Fremden. Er schob den Portier auf die Seite und sprang in's Haus. Zum Glück erkannte ihn einer von den Bedienten, die Mrs. Beaufort zu den Seen begleitet hatten, und antwortete auf seine athemlose Frage: »Nun ja, Herr Spencer, Miß Beaufort ist freilich zu Hause – oben im Gesellschaftszimmer bei dem Herrn und der Madame und Herrn von Vaudemont; aber –«

Sidney wartete nicht länger. Er sprang die Treppe hinauf – öffnete die Thür, die sich ihm zeigte, und drängte sich unangemeldet und unerwartet in die Gesellschaft ein, die dort saß. Er sah nicht den Schrecken Robert Beauforts – er bemerkte nicht den matten Ausruf der Mutter – er beachtete nicht den finstern und verwunderten Blick des Fremden, der neben Camilla saß – er sah nur Camilla und lag im ersten Augenblicke zu ihren Füßen.

»Camilla – hier bin ich! – ich, der ich dich so liebe – ich, der ich nichts weiter in der Welt habe, als dich! – hier bin ich – von dir und allein von dir zu hören, ob du mich in der That aufgegeben hast und die Gattin eines Andern werden willst!«

Während er vorwärts geeilt war, hatte er seinen Hut vom Kopfe geworfen – sein langes blondes Haar, naß vom Schnee, fiel verwirrt über seine Stirn – seine Augen waren starr auf das bleiche Gesicht und die bebenden Lippen Camilla's gerichtet, als erwarte er das Urtheil über Leben und Tod. Robert Beaufort, der Philipps heftiges Temperament kannte und einen raschen Ausbruch erwartete, richtete in großer Bestürzung seinen Blick auf seinen erwählten Schwiegersohn. Doch es war kein zorniger Stolz in dem Gesichte zu bemerken, welches er sah. Philipp war aufgestanden, aber seine Gestalt war gebeugt – seine Kniee schlotterten – seine Lippen waren halb geöffnet und seine Augen waren starr auf das Gesicht des knieenden Mannes gerichtet.

Camilla, die ihres Vaters Furcht theilte, erhob sich plötzlich und streckte mit unbewußter Bewegung eine Hand über Sidney's Kopf aus, als wollte sie ihn schützen, und sah Philipp an. Sidney's Augen folgten den ihrigen. Er sprang auf.

»Was, so ist es also wahr! Und dieß ist der Mann, für den ich aufgegeben werde! Aber wenn du mir nicht mit deinen eigenen Lippen sagst, daß du mich nicht mehr liebst – daß du einen Andern liebst – so will ich dich nur mit meinem Leben aufgeben.«

Er schritt finster und ungestüm auf Philipp zu, der zurückwich, als sein Nebenbuhler sich näherte. Die beiden Männer schienen plötzlich ihre Charaktere vertauscht zu haben. Der schüchterne Träumer schien in den furchtlosen Soldaten verwandelt zu sein. Der Krieger erbebte in namenlosem Schrecken. Sidney ergriff jenen starken Arm mit seinen dünnen und zarten Fingern, – als Philipp sich noch immer zurückzog – ergriff ihn drohend und heftig, und indem er in das Gesicht blickte, aus dem das dunkle Blut hinweggescheucht war, sagte er mit dumpfem Geflüster: »Hören Sie mich? Verstehen Sie mich? Ich sage, sie soll nicht zu einer Heirath gezwungen werden, gegen welche, wie ich noch immer glaube, ihr Herz sich empört. Mein Anspruch ist heiliger, als der Ihre. Sie müssen ihr entsagen, oder sie mit meinem Blute gewinnen.«

Philipp schien die Worte nicht zu hören, die an ihn gerichtet wurden. Alle seine Sinne schienen sich in den Gesichtssinn zu concentriren. Er fuhr fort, den Redenden anzusehen, bis sein Auge sich auf die Hand niedersenkte, die noch seinen Arm gefaßt hielt, und während, er darauf hinblickte, stieß er einen unartikulirten Laut aus. Er nahm die Hand in die seine und deutete auf einen Ring an dem Finger, blieb aber sprachlos. Beaufort näherte sich und begann einige Worte zu stammeln, um Sidney zu beruhigen; aber Philipp winkte ihm, zu schweigen, und sagte endlich, wie mit heftiger Anstrengung, nicht zu Sidney, sondern zu Beaufort: »Sein Name – sein Name?«

»Herr Spencer – Herr Charles Spencer,« rief Beaufort. »Hören Sie mich an – ich will Alles erklären – ich –«

»Still, still!« rief Philipp, wendete sich zu Sidney, legte seine Hand auf seine Schulter, sah ihm scharf in's Gesicht und sagte: »Haben Sie nicht einen andern Namen geführt? Sind Sie nicht – ja es ist so! Folgen Sie mir!«

Indem er ihn noch festhielt, führte er Sidney, – der jetzt erschrocken sich neuem und wildem Argwohn hingab – langsam und Schritt für Schritt weiter – indem seine Augen sich auf jenes schöne Gesicht richteten und seine Lippen unverständliche Worte murmelten – bis die Thür sich hinter Beiden schloß und die andern drei Personen in unbeschreiblicher Erwartung und Furcht zurückblieben. Philipp führte seinen Nebenbuhler in das anstoßende Zimmer. Es war nur von einer kleinen Studirlampe und von dem Feuer im Kamin erleuchtet, und bei diesem Lichte sahen sich Beide wie bezaubert und in völligem Schweigen an. Endlich stürzte Philipp mit unwiderstehlichem Antriebe an Sidney's Brust, drückte ihn krampfhaft an sich und rief: »Sidney! – Sidney! – meiner Mutter Sohn!«

»Was!« rief Sidney, sich mit Anstrengung aus seiner Umarmung losmachend, »bist du es also! – du, mein eigener Bruder! Du – der du bisher der Dorn auf meinem Wege – die Wolke in meinem Schicksal gewesen bist! Du, der du jetzt gekommen bist, mich für mein ganzes Leben elend zu machen! Ich liebe jenes Mädchen, und du nimmst sie mir! Du – der du meine Kindheit der Mühseligkeit unterworfen, und, hätte es die Vorsehung nicht verhindert, meine Jugend durch dein Beispiel mit Schmach und Schuld würdest belastet haben!«

»Halt ein! – halt ein!« rief Philipp mit so durchdringender und qualvoller Stimme, daß sie den Personen im anstoßenden Zimmer gleich dem Schrei einer verzweifelnden Seele klang. Sie sahen einander an, doch keines hatte den Muth, sich in ihre Unterredung einzudrängen. Sidney selber erschrak über den Ton. Er warf sich auf einen Stuhl, wurde von so neuen Leidenschaften und so seltsamer Aufregung überwältigt – verbarg sein Gesicht und schluchzte wie ein Kind. Philipp ging einige Augenblicke im Zimmer auf und ab; endlich blieb er Sidney gegenüber stehen und sagte mit der tiefen Ruhe eines verwundeten und gequälten Geistes: »Sidney Beaufort, höre mich an! Als meine Mutter starb, vertraute sie dich meiner Sorgfalt, meiner Liebe und meinem Schutze an. – In den letzten Zeilen, die ihre Hand schrieb, bat sie mich, weniger an mich selber, als an dich zu denken, ein Vater, so wie ein Bruder für dich zu sein. In der Stunde, als ich jenen Brief las, fiel ich auf meine Kniee und gelobte jenen Auftrag zu erfüllen – mich selbst aufzuopfern, wenn ich dir dadurch Glück verschaffen könnte. Und dieß nicht um deinetwillen allein, Sidney – nein! sondern wie meine Mutter – unsere beleidigte, gemißhandelte und verleumdete Mutter – o Sidney, Sidney! hast du nicht auch Thränen für sie?« Er fuhr mit der Hand über die Augen und setzte dann hinzu: »sondern wie unsere Mutter in jenem letzten Briefe mir sagte: ›Laß meine Liebe zu ihm in deine Brust übergehen,‹ so, Sidney, so glaubte ich in Allem, was ich für dich thun konnte, das Lächeln meiner Mutter auf mich niederblicken zu sehen, und meiner Mutter zu gehorchen, indem ich dir diente. Vielleicht später, Sidney, wenn wir über jene Zeit meines früheren Lebens reden, wo ich für dich arbeitete, wo ich die Erniedrigung, von der du redest – es war kein Verbrechen darin – um deinetwillen freudig ertrug und dir der Feiertag, mir die Arbeit zu Theil wurde – vielleicht wirst du mir später mehr Gerechtigkeit widerfahren lassen. Du verließest mich, oder wurdest mir geraubt, und ich gab das kleine Vermögen hin, welches meine Mutter hinterlassen hatte, um Nachrichten von dir zu erhalten. Ich erhielt deinen Brief – jenen bittern Brief – und es lag mir nichts daran, ein Bettler zu sein, da ich allein war. Du sprichst davon, was ich dich gekostet habe – dich! – und jetzt forderst du von mir, daß ich – gütiger Himmel! rede deutlicher – liebst du Camilla? Liebst du Camilla? Liebt sie dich? Rede – rede – erkläre mir – welche neue Qual wartet meiner?«

Jetzt erzählte Sidney, gedemüthigt bei seinem selbstsüchtigeren Kummer durch die Rede und das Wesen seines Bruders, so kurz er konnte, die Geschichte seiner Liebe zu Camilla, die Umstände, unter welchen ihre Verlobung stattgefunden, und endete damit, ihm den Brief vorzulegen, den er von Herrn Beaufort erhalten hatte.

Ungeachtet aller seiner Anstrengungen, sich Gewalt anzuthun, war Philipps Seelenqual so groß und so sichtbar, daß Sidney, nachdem er einen Augenblick seine aufgeregten Gesichtszüge, seine zitternden Hände angesehen, fühlte, wie die irdischeren Theile seiner Natur in einem Ergusse edelmüthiger Theilnahme und Reue schmolzen. Er warf sich an die Brust, von der er vorher zurückgewichen, und rief: »Bruder! Bruder! verzeihe mir; ich sehe, wie sehr ich dir Unrecht gethan habe. Wenn sie mich vergessen hat, wenn sie dich liebt, so nimm sie und sei glücklich!«

Philipp erwiderte seine Umarmung, aber ohne Wärme, wendete sich dann ab und schritt wieder in großer Aufregung im Zimmer auf und ab. Sein Bruder hörte nur unzusammenhängende Ausrufungen, die ihm unwillkürlich zu entschlüpfen schienen: »Sie sagten mir, sie liebe mich! der Himmel gebe mir Stärke! Mutter – Mutter! Laß mich mein Gelübde erfüllen! – O, wäre ich doch vorher gestorben!« Endlich stand er still und große Schweißtropfen rollten von seiner Stirne nieder.

»Sidney!« sagte er, »hier ist ein Geheimniß, welches ich nicht begreife. Aber mein Geist ist jetzt sehr verwirrt. Wenn sie dich liebt – wenn – ist es möglich, daß ein Weib zwei lieben kann? – Nun, ich will dieses Räthsel lösen, warte hier!«

Er ging in das nächste Zimmer, und Sidney war beinahe eine halbe Stunde allein. Er hörte durch die Thür leise Stimmen; er vernahm deutlicher Camilla's Schluchzen. Den Inhalt jener Unterredung zwischen Philipp und Camilla, die anfangs allein waren, bis später Robert Beaufort wieder eingelassen wurde, entdeckte Philipp Niemandem, auch konnte Sidney niemals genaue Auskunft von Camilla erhalten, die sich derselben selbst nach Jahren nur mit großer Aufregung erinnerte. Endlich aber wurde die Thür geöffnet. Philipp trat ein und führte Camilla an der Hand. Sein Gesicht war ruhig und ein Lächeln umspielte seine Lippen, eine mehr als gewohnte Würde war über seine ganze Person ausgegossen. Camilla hielt ihr Taschentuch vor die Augen und weinte leidenschaftlich. Beaufort folgte ihnen mit gekränkter und demüthiger Miene.

»Sidney,« sagte Philipp, »es ist vorüber. Alles ist geordnet. Ich weiche deinem früheren und daher gültigeren Anspruche. Herr Beaufort willigt in deine Verbindung. Er wird dir zu gelegener Zeit sagen, daß unser Geburtsrecht endlich klar ist, und daß kein Makel auf dem Namen ruht, den wir von jetzt an führen werden. – Sidney, umarme dein Braut!«

Erstaunt, entzückt und noch halb ungläubig ergriff und küßte Sidney Camilla's Hand, und als er sie an seine Brust drückte, sagte sie, indem sie auf Philipp deutete: »O! wenn du mich liebst, wie du sagst, so erkenne in ihm den großmüthigen, den edlen –« neues Schluchzen unterbrach ihre Rede, aber als Sidney wieder ihre Hand zu ergreifen suchte, flüsterte sie ihm mit rührendem weiblichen Gefühle zu: »O! achte ihn; sieh' nur!« – Und als Sidney seinen Bruder ansah, bemerkte er, daß, obgleich er zu lächeln versuchte, sein Gesicht sich verzog und seine ganze Gestalt Folterqual zu erdulden schien. Er eilte auf Philipp zu, der seine Hand ergriff, ihn von sich zurückhielt und sagte: »Ich habe mein Gelübde erfüllt! Ich habe dir die einzige Wonne abgetreten, die mein Leben gekannt hat. Genug, du bist glücklich, und ich werde es auch sein, wenn es Gott gefällt, mich diesen Schlag überstehen zu lassen. Und jetzt mußt du dich nicht wundern, noch mich tadeln, wenn ich dich, obgleich ich dich erst eben wieder gefunden, auf eine Weile verlasse. Erweisen Sie mir eine Gefälligkeit, Sie, Herr Beaufort – du, Sidney, lassen Sie die Trauung zu H* in der Dorfkirche stattfinden, neben welcher meine Mutter ruht; schieben Sie dieselbe auf, bis der Rechtsstreit beendet ist; bis zu der Zeit hoffe ich Ihnen Allen – Ihnen, Camilla, begegnen zu können, wie ich der Gattin meines Bruders begegnen sollte. Bis dahin wird meine Gegenwart Ihr Glück nicht trüben. Suche mich nicht auf, Sidney – erwarte nichts von mir zu hören. Still! seien Sie alle ruhig – mein Herz ist noch verwundet. O Du,« hier wurde seine Stimme tiefer und er erhob seine Arme, »Du, der Du meine Jugend aus solchen Schlingen und Gefahren errettet, der Du meine Schritte von dem Abgrunde abgelenkt hast, zu dem sie gerichtet waren, und unter dessen Hand ich mich jetzt dankbar, wenn gleich gezüchtigt, beuge – nimm dieses Opfer an und segne diese Verbindung! – Leben Sie alle wohl!«


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