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Fünftes Kapitel.

Der ist ein geschickter Kutscher, der in einem engen Zimmer umwenden kann.

Altes Schauspiel.

Hier sind zwei Pilger
Und keiner kennt vom Weg nur einen Fußbreit.

Heywood: Die Herzogin von Suffolk.

Die Kutsche war eben von der Thür des Gasthauses abgefahren, als eine andere Kutsche anhielt, um auf der letzen Station zu der Stadt, wohin Philipp wollte, die Pferde zu wechseln. Der Name des Bestimmungsortes, der mit vergoldeten Buchstaben am Kutschenschlage stand, fiel ihm in's Auge, als er von der Laube zu dem Wege ging, und in wenigen Augenblicken saß er als vierter Passagier in dem Wagen. Unter seiner Mütze hervor schoß er jene raschen, ruhigen Blicke, die ein Mann, welcher jagt, oder vielmehr gejagt wird, der beobachtet oder scheut, sich bald aneignet. Zu seiner Linken saß ein junges Frauenzimmer mit einem gelb gefütterten Mantel; sie hatte ihren Hut abgenommen und ihn mit Stecknadeln an die Decke des Wagens geheftet und sah frisch und hübsch aus in dem seidenen Taschentuch, welches sie um ihren Kopf gebunden, wahrscheinlich, daß es ihr bei der weiten Reise als Schlafhaube diene. Ihr gegenüber saß ein Mann von mittlerem Alter, der ein bleiches Gesicht und einen ernsten, gedankenvollen und gelehrten Ausdruck hatte, und Philipp gegenüber befand sich ein geputzter, sehr gut aussehender Herr von etwa zwei- oder dreiundvierzig Jahren. Dieser Herr trug einen Backenbart, der unter dem Kinn zusammenging, eine Reisemütze mit einer goldenen Quaste, eine sammtne Weste, über welcher eine goldene Kette hing, an deren Ende eine Lorgnette befestigt war, die er von Zeit zu Zeit in sein rechtes Auge gleichsam hineinschob; er trug auch eine blauseidene Halsbinde und ein sehr zerdrücktes Jabot, schmutzige lederne Handschuhe, und auf seinen Knieen lag ein Mantel, der mit rothem Seidenzeug gefüttert war. Als Philipp diese Person anblickte, wurde das Glas mit forschendem Blicke auch auf ihn gerichtet, welches machte, daß Philipps dunkles Auge Feuer sprühte. Der Mann ließ sein Glas sinken und sagte in halb bellendem, halb ländlichem Dialekt, gleich dem ersten Helden auf einem Provinzialtheater: »Verzeihen Sie, machen Sie mir ein wenig Platz für meine Füße!« Und hierauf streckte er dieselben nach der beliebten Weise der Passagiere im Innern des Wagens aus. Jetzt kam ein junger Mann in einem großen weißen Mantel mit einem Glase warmen Xeres und Wasser an die Thür des Wagens.

»Sie müssen dies jetzt trinken – Sie müssen, es wird Sie erwärmen,« sagte er zu dem jungen Frauenzimmer – es war nämlich sehr heißes Wetter.

»Mein Himmel!« war die Antwort, »aber ich trinke Morgens nie Wein, James; er würde mir in den Kopf steigen.«

»Mir zu gefallen!« sagte der junge Mann mit Gefühl, worauf die junge Dame das Glas nahm und sagte, indem sie ihn sehr freundlich ansah: »Ihr Wohl!« dann nippte sie davon, machte ein saures Gesicht – sah die Passagiere an, lächelte zimperlich und sagte: »Ich kann keinen Wein ertragen!« Dann trank sie sehr langsam und geziert das Uebrige aus. Ein schweigender und bedeutungsvoller Händedruck, als sie das Glas zurückgab, belohnte den jungen Mann und bewies die heilsame Wirkung seiner Vorschrift.

»Alles richtig!« rief der Kutscher, der Hausknecht nahm den Pferden die Decken ab, und fort ging der Wagen, als wollte er zehn Meilen in einer Stunde zurücklegen. Der blasse Herr zog eine kleine Büchse aus seiner Westentasche, die Gummi Arabicum enthielt, und nachdem er ein paar Stücke davon zwischen seine Lippen gesteckt hatte, zog er ein kleines dünnes Buch hervor, welches nach der Art, wie die Zeilen gedruckt waren, Gedichte zu enthalten schien.

Der feine Herr, der seit dem Zwischenspiel mit dem Xeres und Wasser sein Augenglas beständig auf die junge Dame gerichtet hatte, sagte jetzt mit gezierter Miene: »Der junge Herr scheint sehr aufmerksam, Miß!«

»Er ist ein sehr guter junger Mann, Herr, und trägt viel Sorge für mich.«

»Nicht Ihr Bruder, Miß – he?«

»Nun, Herr! – warum nicht?«

»Keine Familienähnlichkeit – ein ganz hübscher junger Mensch! Aber Ihre Augen und Ihr Mund – ah, Miß!«

Miß wendete ihren Kopf ab und sprach mit schnippischer Lebhaftigkeit:

»Ich liebe keine Complimente, Herr! aber der junge Mann ist nicht mein Bruder.«

»Ein Geliebter – he? O, pfui, Miß! Ha! ha!« Und der Adonis mit dem braunen Backenbart stieß Philipp mit der einen Hand an's Knie und den blassen Herrn mit der andern in die Rippen. Der Letztere blickte vorwurfsvoll auf und der Erstere zog seine Kniee zurück und stieß einen ärgerlichen Ausruf aus.

»Nun Herr, was liegt denn dran? Ist es denn unrecht, einen Geliebten zu haben?«

»Nicht im geringsten, Miß; ich rathe Ihnen, die Anzahl zu verdoppeln. Es ist ja viel hübscher, zwei schöne Herren am Bändel zu haben.«

Während er sich so witzig aussprach, nahm er seine Mütze ab und fuhr mit den Fingern durch ein lockiges und sehr schönes Haar; die junge Dame sah ihn mit kokettem Blicke an und sagte: »Sie fangen gut an, mein Herr.«

»Ich höre aber nicht so bald auf, Miß, Ihnen meine Huldigung darzubringen;« war die galante Antwort.

Der bleiche Herr, den es belästigte, daß man quer über den Wagen sprach, machte das Buch zu und sah sich um, sein Blick fiel auf Philipp, der entweder wegen der Hitze oder aus Gedankenlosigkeit seine Mütze weiter aus der Stirn gezogen hatte. Und nachdem der Herr ihn einige Augenblicke sehr scharf angesehen, stieß er einen so tiefen Seufzer aus, daß er die Aufmerksamkeit aller Passagiere auf sich zog.

»Sind Sie unwohl, mein Herr?« fragte die junge Dame mitleidig.

»Ein geringer Schmerz in meiner Seite, nichts weiter!«

»Wollen wir die Plätze wechseln, mein Herr?« rief der Andere dienstfertig. »Nun, thun Sie es nur!« Nach kurzem Zögern und einer Entschuldigung, wobei er erröthete, nahm der bleiche Herr den Vorschlag an. In wenigen Minuten waren die junge Dame und der feine Herr in tiefer und leiser Unterhaltung, indem sie ihre Köpfe zu den Fenstern wendeten. Der bleiche Herr sah Philipp beständig an, bis es dieser bemerkte, roth wurde und seine Mütze wieder über's Gesicht zog.

»Sie gehen nach N*?« fragte der Herr in sanftem und schüchternem Tone.

»Ja!«

»Ist es das erstemal, daß Sie dort waren?«

»Herr!« entgegnete Philipp mit einer Stimme, die Erstaunen und Unwillen über die Neugierde seines Nachbars ausdrückte.

»Verzeihen Sie mir,« sagte der Herr, indem er sich zurückzog; »aber Sie erinnern mich – an eine Familie, die ich einst in jener Stadt kannte. Kennen Sie die Mortons?«

Ein Mensch in Philipps Lage, welcher glaubte, daß die Polizeidiener ihm auf der Spur seien – denn Gawtrey hatte aus eigenen Gründen seine Furcht eher vergrößert als vermindert – durfte wohl argwöhnisch sein. Er erwiderte daher kurz: »Ich bin durchaus nicht bekannt in jener Stadt,« und legte sich dann in die Ecke, als wollte er schlafen. Ach! diese Antwort war eine von den vielen Hindernissen, die sich zwischen ihm und seinem besseren Schicksal aufthürmen sollten.

Der ältliche Herr seufzte wieder und sprach bis zum Ende der Reise kein Wort. Als die Kutsche vor dem Gasthause anhielt – es war dasselbe, wo die arme Katharina Schutz gefunden, öffnete der junge Mann mit dem weißen Rock die Thür und bot der jungen Dame seinen Arm an. »Halten Sie sich hier auf, mein Herr?« sagte sie zu dem feinen Manne, während sie ihren Hut von der Decke losmachte.

»Vielleicht; ich warte auf meinen Phaeton, den mein Bursche hieher bringen wird, um einen kleinen Abstecher zu machen.«

»Wir werden sehr glücklich sein, Sie bei uns zu sehen, mein Herr,« sagte die junge Dame, auf welche der Phaeton einen noch größern Eindruck machte, als die früheren Galanterien des Herrn, und mit diesen Worten steckte sie ihm eine sehr zierliche Karte in die Hand, worauf gedruckt stand: »Wavers und Snow, Damenschneider, High-Street.«

Der feine Herr steckte sie mit einer zierlichen Bewegung in die Tasche – sprang aus der Kutsche – drängte seinen Nebenbuhler mit dem weißen Rock auf die Seite und bot der Dame seinen Arm an, die sich zärtlich darauf lehnte, indem sie ausstieg.

»Dieser Herr ist so höflich gegen mich gewesen, James,« sagte sie. James berührte seinen Hut. Der feine Herr klopfte ihm auf die Schulter: »Ah! Sie sind kein glücklicher Mann, nicht wahr? O, nein, durchaus kein glücklicher Mann! – Ich wünsche Ihnen einen guten Tag! Kutscher, meine Hutschachtel.«

Während Philipp den Kutscher bezahlte, kam der feine Herr an ihm vorüber und flüsterte ihm zu:

»Erinnern Sie sich des alten Gregg – hier steht Alles auf dem Spiel – verderben Sie mir den Spaß nicht, wenn wir uns wiedertreffen!« Dann ging er in den Gasthof und pfiff: »Gott segne den König!«

Philipp stutzte und als er sich der Gesichter erinnerte, die er an dem seltsamen Orte gesehen, glaubte er die Züge seines Reisegefährten zu erkennen. Indessen suchte er die Bekanntschaft nicht zu erneuern, sondern fragte nur nach Herrn Morton's Hause und machte sich dorthin auf den Weg.

Man zeigte ihm als einen näheren Weg einen engen Gang, an dessen Enden Pfosten standen, welche andeuteten, daß er nur für Fußgänger bestimmt sei. Eine weiße Mauer, die den Garten des Arztes schützte, lief auf der einen Seite hin und ein hoher Zaun auf der andern; der Gang war einsam, denn es war die Stunde, wo in einer Provinzialstadt wenig Leute in Geschäften oder zum Vergnügen ausgehen, und er hörte weiter kein Geräusch, als das seiner Fußtritte auf den breiten Pflastersteinen. Am Ende des Ganges, in der Hauptstraße, wohin derselbe führte, erblickte er schon den großen zierlichen Laden und die Sonne schien hell auf die vergoldeten Buchstaben des Namens Morton, als plötzlich das Schweigen durch ein schmerzliches Schluchzen unterbrochen wurde. Er wendete sich um, und unter einem Portal, welches die Thür des Arztes schmückte, sah er ein Kind auf den steinernen Stufen sitzen und bitterlich weinen. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte Philipps Herz! Erkannte er die vom Schmerz und Kummer entstellte Stimme? Er stand still und legte seine Hand auf des Kindes Schulter: »O nicht – nicht – ich bitte – ich gehe ja!« rief das Kind, noch immer seine Hände vor dem Gesichte haltend.

»Sidney!« sagte Philipp. Der Knabe sprang auf, stieß ein Freudengeschrei aus und sank an seines Bruders Brust.

»O Philipp! lieber, lieber Philipp! Du kommst, um mich zu meiner lieben Mama zurückzubringen; ich will so gut sein; ich will sie nie wieder kränken, nie – nie – nie wieder! Ich bin so schlecht behandelt worden!«

»Setze dich nieder und erzähle mir, was sie dir gethan haben,« sagte Philipp, indem er seine Bewegung bei dem Namen seiner Mutter unterdrückte.

Da saßen die beiden Waisen auf dem kalten Steine unter dem Portal des Fremden. Philipp hatte den Arm um den Leib seines Bruders geschlungen, Sidney lehnte sich an seine Schulter und theilte ihm – vielleicht mit verzeihlicher Uebertreibung – alle die Leiden mit, die er erfahren, und als er von der Züchtigung sprach, die ihm an jenem Morgen widerfahren war, und die Schwiele an seinen kleinen Händen zeigte, die er vergebens bittend emporgehalten, erbebte Philipp vor Leidenschaft an allen Gliedern. Sein erster Antrieb war, geradezu in Mortons Laden zu gehen und ihn an der Kehle zu fassen, und der Unwille, den er zeigte, ermuthigte Sidney, die Schilderung des erlittenen Unrechts und Schmerzes noch zu übertreiben.

Als er ausgeredet und sich fest an seines Bruders breite Brust hing, sagte er:

»Aber denke nicht daran, Philipp; jetzt wollen wir heimgehen zur Mama.«

Philipp erwiderte:

»Höre mich an, lieber Bruder. Wir können nicht zur Mutter gehen. Ich will dir später sagen warum nicht. Wir stehen allein in der Welt da – wir beide. Wenn du mit mir gehen willst – Gott helfe dir! denn du wirst viel Müheseligkeiten zu überstehen haben – so müssen wir uns durch die Welt schlagen, aber du wirst Kälte, Hunger und Ermüdung zu erdulden haben, Sidney! Aber du weißt, daß ich in früherer Zeit, wo ich so leidenschaftlich war, niemals mit Absicht unfreundlich gegen dich gewesen bin, und jetzt erkläre ich, daß ich mir lieber die Zunge herausreißen, als ein hartes Wort gegen dich aussprechen wollte. Das ist Alles, was ich versprechen kann. Bedenke dich wohl. Wirst du nie alle die Bequemlichkeiten vermissen, die du jetzt hast?«

»Bequemlichkeiten!« wiederholte Sidney kläglich, indem er die Schwiele an seiner Hand betrachtete. »O! laß mich mit dir gehen; ich werde sterben, wenn ich hier bleibe. Ja in der That das werde ich.«

»Still,« sagte Philipp, denn in dem Augenblick hörte er einen Schritt und der bleiche Herr kam langsam den Gang herunter, stutzte und sah sich theilnehmend um, als er die Knaben erblickte.

Als er fort war, stand Philipp auf.

»Es ist also abgemacht,« sagte er mit Festigkeit. »Komm sogleich mit mir. Du sollst nicht in das Haus zurückkehren. Komm schnell: wir werden heute noch viele Meilen zu gehen haben.«


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