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Vierzehntes Kapitel.

Fort, ohne daß es Jemand weiß. –

– – – – –

Und nun? – was gibt es Neues, welche Hoffnung?

Beaumont und Fletcher: »Der Pilger.«

Als Philipp in seiner Wohnung in London ankam, war es sehr spät, dennoch aber fand er Liancourt seiner wartend. Der Franzose war voll von seinen eigenen Plänen und Aussichten. Er war ein Mann von hohem Rufe und ausgebreiteten Verbindungen, und es waren Verhandlungen wegen seiner Zurückberufung nach Paris eingeleitet worden; er war zwischen übertriebener Unterthanentreue und verständiger Klugheit getheilt und setzte Vaudemont von seinen Zweifeln in Kenntniß. So sehr auch Philipp mit eigenen Gedanken von solcher Wichtigkeit beschäftigt war, konnte er doch seinen Freund geduldig anhören und die Gründe seiner Handlungen abwägen. Und nachdem Beide darin übereingekommen waren, daß Unterthanenpflicht und Klugheit riethen, ein wenig zu warten, um zu sehen, ob die Nation, wie die Carlisten thörichterweise hofften, bald nach ihrem ersten Fieber den Thron und den Purpur dem Abkömmling Ludwig des Heiligen wieder anbieten würden, zündete Liancourt seine Cigarre an, um nach Hause zu gehen, und sagte: »Ich danke Ihnen tausendmal, mein lieber Freund; und wie haben Sie sich bei Ihrem Besuch unterhalten? Ich bin nicht überrascht und auch nicht eifersüchtig, daß Lilburne mich nicht einlud, da ich nicht Karten spiele und ihm einige bittere Wahrheiten sagte.«

»Ich denke, ich werde auch zu einer zweiten Einladung nicht geeignet gefunden werden,« sagte Vaudemont mit strengem Lächeln. »Ich werde Ihnen in wenigen Tagen viel mitzutheilen haben. Für jetzt ist meine Nachricht noch nicht reif. Haben Sie vielleicht Lilburne gesehen? Er verließ uns vor einigen Tagen. Ist er in London?«

»Ja; ich ritt mit unserem Freunde Henri, der ein neues Pferd auf weicherem Boden vor der Stadt probiren wollte, gestern eine kurze Strecke auf's Land. Wir kamen durch N* und H*. Es sind hübsche Oerter. Kennen Sie sie?«

»Ja, ich kenne H*.«

»Und gerade in der Dämmerung, als wir zur Stadt zurückkehrten, begegnete uns Lord Lilburne selber, der auf dem Nebenwege der Landstraße zu Fuß ging. Ich konnte kaum meinen Augen trauen. Ich hielt mein Pferd an, und nachdem ich ihn nach Ihnen gefragt hatte, konnte ich nicht umhin, mein Erstaunen auszusprechen, ihn zu Fuß an einem solchen Orte zu sehen. Sie kennen die spöttischen Bemerkungen des Mannes. ›Ein so galanter Franzose wie Herr von Liancourt,‹ sagte er, ›darf auch über noch größere Wunder nicht erstaunen; der Magnet zieht das Eisen an: ich habe hier ein kleines Abenteuer. Verzeihen Sie, wenn ich Sie bitte, weiter zu reiten!‹ Natürlich wünschte ich ihm einen guten Tag; und etwas weiter den Weg hinauf sah ich einen dunklen, einfachen Wagen ohne Wappen oder Bedienten, nur ein einziger Mann auf dem Bock; aber die Schönheit der Pferde überzeugte mich, daß er Lord Lilburne gehören müsse. Können Sie sich eine solche Tollheit von einem Manne seines Alters denken, der noch dazu nicht ohne Geist ist? Doch wie kommt es, daß man Lord Lilburne deßhalb nicht lächerlich macht, was man doch bei jedem anderen Manne zwischen fünfzig und sechzig thun würde?«

»Weil man ihn nicht belächelt – sondern verachtet.«

»Nein, das ist es nicht. Der Grund liegt darin, daß man Lilburne nicht für alt halten kann. Sein Wesen ist jung – sein Auge ist jung. Ich sah nie einen Mann mit so viel Lebenskraft. Das schlechte Herz und die gute Verdauung sind die beiden Geheimnisse, sich wohl zu befinden – he?«

»Wo trafen Sie ihn, – doch nicht in der Nähe von H*?«

»Ja, dicht dabei. Ei, haben Sie auch ein Abenteuer dort? Nein, verzeihen Sie, es war nur Scherz. Gute Nacht!«

Vaudemont versank in eine unruhige Träumerei; er wußte sich selber keine Rechenschaft zu geben, warum er unruhig war; aber er war unruhig, weil man Lilburne in der Nähe von H* gesehen hatte. Der Fuß des Gottlosen hatte das Heiligthum entweiht. Ein unerklärlicher Schreck durchzuckte ihn, als er sich Lilburne in Fanny's Nähe vorstellte; aber es war kein Grund zur Furcht. Fanny ging nicht allein aus. Es war überdieß von einem Abenteuer die Rede gewesen. Lord Lilburne mußte einer willigen Zusammenkunft höchst wahrscheinlich mit einer schönen, aber auf Anstand haltenden Schwachen aus London entgegensehen. Man sagte, daß Lord Lilburne's neueste Eroberungen unter Damen seines Ranges waren, und Vorstädte sind zu solchen Bestellungen sehr geeignet. Jeder andere Gedanke war zu schrecklich, um ihn weiter zu verfolgen. Er sah nach der Uhr, es war drei Uhr Morgens. Er wollte in aller Frühe nach H* gehen – ja, selbst ehe er Wilhelm Smith aufsuchte. Mit diesem Entschlusse warf er sich auf sein Bett und schlief ein, denn selbst sein rüstiger Körper war von der Aufregung des Tages ermüdet. Er erwachte erst gegen neun Uhr, und hatte sich eben angekleidet und sein frugales Frühstück zu sich genommen, als der Diener des Hauses ihm sagte, daß eine alte Frau, die in großer Aufregung zu sein scheine, ihn zu sprechen wünsche. Sein Kopf war noch voll von Zeugen und Prozessen, und er erwartete irgend einen Besuch, der mit seinen Zwecken in Verbindung stand, als Sarah in's Zimmer stürzte. Sie sah sich mit raschem und argwöhnischem Blicke um und warf sich dann vor ihm auf die Kniee. »O!« rief sie, »wenn Sie das arme junge Ding mit fortgenommen haben, so möge es Ihnen Gott verzeihen. Lassen Sie sie nur zurückkehren. Es soll vertuscht werden. Richten Sie sie nicht zu Grunde! – Thun Sie es nicht! – Sie sind ein lieber guter Herr!«

»Reden Sie deutlich, Frau – was meinen Sie?« rief Philipp blaß werdend.

Wenige Worte reichten zur Erklärung hin: Fanny's Verschwinden am letzten Abend – Sarah's Unruhe bei ihrem Nichterscheinen – die Gefühllosigkeit des alten Simon, der nicht begriffen, was geschehen, und ruhig zu Bette gegangen sei – die Nachsuchung, die Sarah während der halben Nacht angestellt – die Nachricht, die sie von dem Polizeidiener erhalten, der die Runde gemacht, daß er ein Frauenzimmer in der Nähe der Schule habe schreien hören und bei dem Nebel weiter nichts bemerkt habe als einen Wagen, der rasch an ihm vorübergefahren – wie Sarah in ihrem Verdacht gegen Vaudemont an dem Morgen bestärkt worden, als sie in Fanny's Zimmer getreten und den unvollendeten Brief des armen Mädchens nebst seinem eigenen auf dem Tische gefunden und aus dem letzteren seine Adresse ersehen – und ehe er noch genau verstand, was sie sagte, wurde ihm durch das Nachdenken eines Augenblicks wie ein Blitz Alles klar – der Wagen – Lord Lilburne in der Nachbarschaft am Tage zuvor – der frühere Angriff. Während Sarah noch sprach, stürzte er aus dem Hause – eilte zu Lord Lilburne's Wohnung in Park-Lane – nahm ein gesetztes Wesen an – fragte ruhig nach ihm. Seine Herrlichkeit hatten nicht zu Hause geschlafen – er sei, glaubte man, zu Fernside – Fernside! H* lag in der geraden Richtung zu jener Villa! Kaum zehn Minuten waren vergangen, seit er die Geschichte gehört hatte, als er auch schon auf dem Wege war und mit solcher Schnelligkeit forteilte, als das Versprechen einer Guinee für die Meile den Sporen eines Postillons abnöthigen konnte, die er auf die Seiten der Londoner Postpferde anwendete.


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