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Sechstes Kapitel.

Der Sturm weht in der Höhe, drunten starrt
Vor Frost die Welt. – – – –
– – – – – Der welkende Olivenbaum
Dem Winde preisgegeben, und die Erde
Ist eine Arche ohne Taube.

Laman Blanchard.

Robert Beaufort wurde allgemein für einen sehr würdigen Mann gehalten. Er hatte nie eine Ausschweifung begangen, nie gespielt oder Schulden gemacht – noch war er in einen jener Fehler verfallen, die dem männlichen Geschlecht meistens eigen sind. Er war ein guter Ehemann – ein sorgsamer Vater – ein angenehmer Nachbar – und mildthätig gegen die Armen. Er war redlich und methodisch in seinen Handlungen und hatte sich bei verschiedenen Gelegenheiten ganz hübsch benommen. Robert Beaufort hatte in der That nur die Absicht, stets recht zu handeln – vor den Augen der Welt! Er hatte keine andere Regel, wornach er handelte, als welche die Welt ihm lieferte. Seine Religion war der äußere Anstand – sein Ehrgefühl die Achtung der öffentlichen Meinung. Sein Herz war ein Sonnenzeiger, dessen Sonne die Welt war; wenn das Auge des Publikums darauf fiel, entsprach es so gut wie jedes andere Herz seinem Zwecke; doch war jenes Auge unsichtbar, so war auch an dem Sonnenzeiger nichts zu sehen, als ein Stück Blech und nichts weiter.

Wir thun Robert Beaufort nur Gerechtigkeit an, wenn wir den Leser versichern, daß er die Geschichte seines Bruders von der geheimen Trauung durchaus nicht glaubte. Er betrachtete die Geschichte, als er sie zuerst hörte, wie die leere Erfindung eines Mannes, der den unbesonnenen Schritt, den er zu thun im Begriff war, so respektabel als möglich machen wollte. Der sorglose Ton seines Bruders, als er von dem Gegenstande sprach – sein Geständniß, daß von einer solchen Trauung kein genügender Beweis da sei, mit Ausnahme einer Abschrift aus dem Register, die Robert nicht fand – mußten ihn natürlich ungläubig machen. Er hielt sich daher nicht zur Delikatesse oder zum Respekt gegen ein Frauenzimmer verpflichtet, durch die er beinahe eine große Erbschaft verloren hätte – ein Frauenzimmer, das nicht einmal seines Bruders Namen geführt – und welches Niemand kannte. Wäre Mrs. Morton Mrs. Beaufort und die natürlichen Söhne rechtmäßige Kinder gewesen, so würde sich Robert Beaufort, gesetzt, sie hätten sich in gleicher Lage befunden, mit sorgfältiger und gewissenhafter Großmuth benommen haben. Die Welt hätte gesagt: »Nichts kann schöner sein, als Herrn Robert Beauforts Benehmen.« Wäre Mrs. Morton eine geschiedene Frau von Geburt und Connexionen gewesen, so würde er ganz anders für sie gesorgt haben: er würde nicht zugegeben haben, daß ihre Verwandten ihn hätten schäbig nennen können. Aber hier fühlte er, wenn er alle Umstände erwog, daß die Welt, wenn sie überhaupt sprach – und wahrscheinlich würde sie es nicht der Mühe werth halten – auf seiner Seite sein müsse. Sie mußte für ein listiges Frauenzimmer – von niedriger Geburt und natürlich auch von niedriger Erziehung – gelten, die den reichen und sorglosen Geliebten zur Heirath hatte verlocken wollen – was konnte man von dem Manne erwarten, den sie hatte hintergehen wollen – von dem rechtmäßigen Erben? War es nicht sehr gütig von ihm, überhaupt etwas für sie zu thun; und wenn er gehörig, in Übereinstimmung mit dem ursprünglichen Range der Mutter, für die Kinder sorgte, ging er da nicht weit über jede vernünftige Erwartung hinaus? Gewiß dachte er in seinem Gewissen, wie dies Ding nun auch mochte beschaffen sein, daß er recht gehandelt habe – nicht übertrieben, nicht thöricht, aber recht. Er war gewiß, die Welt würde sich so aussprechen, wenn Alles bekannt wäre: er sei nicht verbunden, das Geringste zu thun. Er war daher nicht auf Katharinens kurze, hochmüthige Antwort vorbereitet, worin sie seine Anerbietungen entschieden zurückwies – ihre Ehe und die Ansprüche ihrer Kinder behauptete – auf gesetzliche Untersuchung hindeutete und ihren Namen Katharina Beaufort unterzeichnete! Beaufort legte den Brief in sein Bureau und überschrieb ihn: »Unverschämte Antwort von Mrs. Morton vom 14. September.« Er war sehr zufrieden, die Existenz der Schreiberin zu vergessen, bis sein Advokat Namens Blackwell ihn benachrichtigte, daß Katharina ein gerichtliches Verfahren eingeleitet habe. Robert wurde blaß, aber Blackwell beruhigte ihn.

»Ei, Herr, Sie haben nichts zu fürchten. Es ist nur ein Versuch, Geld zu erpressen. Der Anwalt hat keine besondere Praxis und nimmt schlechte Sachen an; sie können nichts draus machen.«

Dies war die Wahrheit. So großes Recht Katharina auch haben mochte, so war sie doch ohne Beweise – ohne Zeugniß – welche einen achtbaren Advokaten rechtfertigen konnten, ihr zu einem Proceß zu rathen. Sie nannte zwei Zeugen ihrer Trauung, wovon der Eine todt und der Andere nicht aufzutreiben war. Sie nannte als den Ort, wo die Trauung sollte vollzogen sein, ein sehr entferntes Dorf, wo das Trauungsregister war vernichtet worden. Es war keine beglaubigte Abschrift davon zu finden, und Katharina erschrak, als sie hörte, selbst wenn man sie finde, sei es zweifelhaft, ob sie als gültiger Beweis könne angesehen werden, wenn sie nicht durch wirkliches persönliches Zeugniß bestätigt würde. Als Philipp dieselbe vor vielen Jahren erhalten, hatte er sie Katharinen nicht gezeigt, noch auch den Herrn Jones als Abschreiber genannt. Da er damals erst drei Jahre mit Katharinen verheirathet gewesen war, so hatte die Ueberzeugung von ihrer Großmuth seine weltliche Vorsicht noch nicht ganz überwunden. Ihre Proklamation in London galt als kein Beweis, und bei einer Nachfrage in A* erinnerten sich die walisischen Dorfleute, daß vor etwa fünfzehn Jahren ein hübscher Herr den Pfarrer Price besucht habe, und einige meinten auch, daß Price ihn mit einer Dame aus London getraut habe, welches Zeugniß gegen die verurtheilende Thatsache durchaus unzulässig war, daß Katharina seit fünfzehn Jahren ganz offen einen andern Namen geführt und mit Herrn Beaufort allem Anscheine nach als seine Maitresse gelebt hatte. Ihre Großmuth machte, daß sie ihre Sache verlieren mußte. Dennoch fand sie einen unbedeutenden Rechtsgelehrten, der ihr Geld annahm und ihre Sache vernachlässigte; so wurde ihre Klage angehört und mit Verachtung zurückgewiesen. Von jetzt an war Katharina in den Augen des Gesetzes und des Publikums eine unverschämte Abenteurerin und ihre Söhne namenlose Ausgestoßene.

Und nun von aller Furcht befreit, gab sich Robert Beaufort dem vollen Genusse seines glänzenden Vermögens hin. Das Haus in Berkeley-Square wurde neu möblirt. Große Diners und heitere Abendgesellschaften wurden im folgenden Frühling gegeben. Herr und Madame Beaufort wurden Personen von beträchtlicher Wichtigkeit. Der reiche Mann war schon früher ehrgeizig gewesen; sein Ehrgeiz concentrirte sich jetzt auf seinen einzigen Sohn. Arthur war stets als ein Knabe von vielversprechenden Talenten betrachtet worden – und wornach konnte er nicht jetzt streben? Der Termin zu seiner Prüfung wurde abgekürzt und Arthur Beaufort sogleich nach Oxford geschickt.

Ehe er auf die Universität ging, besuchte Arthur seinen Vater und sprach mit ihm von den Mortons.

»Was ist aus ihnen geworden, Vater? und was hast du für sie gethan?«

»Für sie gethan!« sagte Beaufort mit großen Augen. »Was sollte ich für Personen thun, die mich so eben mit dem schmachvollsten Proceß heimgesucht haben? Mein Betragen gegen sie ist nur zu großmüthig gewesen, wenn man Alles berücksichtigt. Aber wenn du zu meinem Alter kommst, Arthur, wirst du finden, daß sehr wenig Dankbarkeit in der Welt ist.«

»Aber Vater,« sagte Arthur mit der Gutmüthigkeit, die ihm eigen war, »mein Onkel hielt sehr viel von ihnen, und die Knaben wenigstens sind schuldlos.«

»Nun, nun!« versetzte Beaufort ein wenig ungeduldig. »Ich denke, es fehlt ihnen an nichts: sie werden wohl bei den Verwandten der Mutter sein. Wenn sie sich auf gehörige Weise an mich wenden, sollen sie mich nicht rachsüchtig oder hartherzig finden; aber da wir von der Sache reden,« fuhr der Vater fort, indem er seinen gefalteten Busenstreif mit einer Sorgfalt glättete, die seine Pünktlichkeit selbst in Kleinigkeiten zeigte, »ich hoffe, du siehst die Folgen solcher Verbindungen ein und wirst dir das Beispiel deines armen Onkels als Warnung dienen lassen. Und nun wollen wir von etwas Anderem reden; die Sache ist nicht sehr angenehm und je weniger du in deinem Alter deine Gedanken dabei verweilen lässest, desto besser.«

Mit der sorglosen Großmuth der Jugend, welche die Handlungsweise anderer Menschen nach ihren eigenen Gesinnungen beurtheilt, glaubte Arthur Beaufort, daß sein Vater, der nie karg gegen ihn selbst gewesen war, wirklich so gehandelt habe, wie seine Worte vermuthen ließen, und mit seiner neuen und glänzenden Laufbahn beschäftigt – ob nun mit den Vergnügungen oder den Studien, mag dahin gestellt bleiben – dachte er nicht wieder an den Gegenstand, wornach er gefragt.

Inzwischen hatte Mrs. Morton, denn diesen Namen müssen wir ihr jetzt noch beilegen, mit ihren Kindern eine kleine Wohnung in einer höchst bescheidenen Vorstadt gemiethet, die an der Straße zwischen Fernside und der Hauptstadt lag. Sie hatte von ihrem hoffnungslosen Prozeß nach dem Verkauf ihrer Juwelen und Schmucksachen eine Summe übrig behalten, die sie in den Stand setzte, anständig, aber mit Sparsamkeit, wenigstens ein oder zwei Jahre zu leben, während welcher Zeit sie ihre Pläne für die Zukunft entwerfen konnte. Sie rechnete sicher auf den Beistand ihrer Verwandten; doch wendete sie sich nur mit Scham und Widerstreben an sie. Sie hatte mit ihrem Vater correspondirt, so lange er gelebt. Ihm hatte sie nie das Geheimniß ihrer Liebe offenbart, obgleich sie nicht schrieb wie eine Person, die sich eines Fehlers bewußt ist. Vielleicht hatte sie, wie sie stets zu ihrem Sohne sagte, ihrem Manne ein feierliches Versprechen gegeben, nie das Geheimniß zu entdecken oder nur darauf hinzudeuten, bis er ihr es erlauben werde, denn weder er noch Katharina hatten je an Trennung oder Tod gedacht. Ach! wie sicher schlafen wir alle, wenn wir glücklich sind, in dem dunklen Schatten, der uns warnen sollte vor dem Kummer, der uns bevorsteht! Katharinens Vater, ein Mann von rauher Gemüthsart und nicht sehr strengen Grundsätzen, nahm sich eine Verbindung nicht sehr zu Herzen, die er für unerlaubt hielt. Sie war versorgt, das war einiger Trost für ihn: ohne Zweifel würde Herr Beaufort wie ein Mann von Ehre handeln, dachte er, und sie vielleicht zuletzt zu einem ehrlichen Weibe und einer Dame machen. Inzwischen hatte sie ein hübsches Haus, einen hübschen Wagen und hübsche Diener; und weit entfernt, Geld von ihm zu begehren, schickte sie ihm beständig kleine Geschenke. Aber Katharina sah nur in der Erlaubniß, an ihn schreiben zu dürfen, gütige, verzeihende und vertrauensvolle Zärtlichkeit und liebte ihn aufrichtig; doch als er starb, war das Band zwischen ihr und der Familie zerrissen. Ihr Bruder übernahm das Geschäft; ein ehrenvoller und rechtlicher Mann, aber etwas hart, und wenig liebenswürdig. In dem einzigen Briefe, den sie von ihm erhalten hatte, worin er ihr den Tod ihres Vaters meldete, sagte er offen und mit Anstand, daß er das Leben, welches sie führe, nicht billigen könne: daß er erwachsene Kinder habe, und daß aller Umgang zwischen ihnen zu Ende sei, wenn sie nicht Herrn Beaufort verlasse; dann würde er, wenn sie ihr Leben aufrichtig bereue, ihr zärtlicher Bruder sein!

Obgleich Katharina diesen Brief zu jener Zeit für gefühllos erklärt hatte, so erkannte sie doch jetzt, als sie gedemüthigt und von Kummer niedergedrückt war, die richtigen Grundsätze, die derselbe enthielt. Ihr Bruder war wohlhabend für seinen Stand – sie wollte ihm ihre wirkliche Lage offenbaren, und er mußte ihrer Aussage glauben. Sie wollte an ihn schreiben und ihn bitten, wenigstens ihren armen Kindern Beistand zu gewähren.

Aber diesen Schritt that sie erst, als sie bereits einen beträchtlichen Theil der kleinen ihr noch übrigen Summe verzehrt hatte – erst als drei Vierteljahre nach Beauforts Tode vergangen waren und sie an verschiedenen Anzeichen bemerkte, daß ihr eigener Tod nicht mehr ferne sei. Seit ihrem sechzehnten Jahre, als Beaufort sie an die Spitze seines Haushalts gestellt, hatte sie, wenn nicht in Ueppigkeit, doch in bequemem Luxus gelebt, wobei sie natürlich keine Sparsamkeit gelernt hatte und nicht im Stande war, für ihren Unterhalt zu sorgen. Sie konnte sich Alles versagen, aber gegen ihre Kinder – gegen seine Kinder, deren leisester Wunsch war erfüllt worden, konnte sie nicht karg sein. Sie hätte auf einer Dachkammer Hunger leiden können, wäre sie allein gewesen, doch konnte sie nicht sehen, daß es den Kindern an einer Bequemlichkeit fehlte, so lange sie noch eine Guinee besaß. Philipp, um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zeigte eine Rücksicht, die man nicht von seiner früheren stolzen Nachlässigkeit hätte erwarten sollen. Aber Sidney, wer konnte Rücksicht von einem solchen Kinde erwarten? Was konnte er von der Aenderung der Umstände – von dem Werthe des Geldes wissen? Wenn er niedergeschlagen schien, schlich sich Katharina fort und wendete so viel Geld, wovon sie eine ganze Woche hätte leben können, an einen Schooß voll Spielsachen, die sie ihm heimbrachte. Sah er ein wenig blässer aus – klagte er über die geringste Unpäßlichkeit, so mußte ein Arzt kommen. Ach! ihre eigene Krankheit nahm, vernachlässigt und unbeachtet, zu, so daß es mit jeder Arznei zu spät war. Aengstlich – furchtsam - [an]genagt von der Reue wegen der Vergangenheit – von dem Gedanken an die Noth der Zukunft – rieb sie sich täglich mehr und mehr auf. Sie hatte während ihres abgeschiedenen Aufenthalts mit Beaufort ihren Geist gebildet, aber keine von den Künsten gelernt, wodurch eine heruntergekommene Dame den Hunger von ihrer Thür fern hält; keine kleinen Fertigkeiten, die am Tage der Noth zu einem nützlichen Geschäfte werden! sie verstand nicht mit Wasserfarben oder auf Sammet zu malen, keine Spielereien, keine Stickereien oder dergleichen zu verfertigen. Sie war hülflos – gänzlich hülflos – nicht einmal stark genug zu einer Magd, und hätte sie selbst in dieser Eigenschaft eine Stelle bekommen können! Zu jener Zeit war eine große Veränderung an Philipp zu bemerken. Wäre er in freundliche Hände und unter sorgsame Augen gekommen, so möchten seine Leidenschaften und Kräfte zu seltenen Fähigkeiten und großen Tugenden herangereift sein. Aber vielleicht, wie Göthe irgendwo sagt, ist die Erfahrung am Ende die beste Lehrerin. Er übte eine beständige Wachsamkeit über sein heftiges Temperament, über seinen schwankenden Willen; er hätte seine Mutter um alle Welt nicht betrübt. Aber seltsam genug – und es ist ein großes Geheimniß in dem weiblichen Herzen – nach Maßgabe, wie er liebenswürdiger wurde, schien seine Mutter ihn weniger zu lieben. Vielleicht erkannte sie in jener Veränderung nicht den Liebling früherer Zeit wieder; vielleicht machten die Schwächen und der Ungestüm Sidney's, die beständigen Opfer, die das Kind von ihr forderte, ihn ihr um so theurer wegen des natürlichen Gefühls der Abhängigkeit und des Schutzes, welches das große Band zwischen Mutter und Kind bildet; vielleicht auch, da Philipp ihr eben so viel Stolz als Zärtlichkeit eingeflößt hatte, verschwand der Stolz mit den Erwartungen, die denselben genährt, und führte einen Theil der Zärtlichkeit in seinem Untergange mit fort, die damit verschlungen gewesen. Wie dem auch sei, Philipp hatte früher der am meisten verzogene und begünstigte von den Beiden geschienen. So wuchs unter der liebkosenden Milde des jüngeren Sohnes eine gewisse Eigenliebe auf; sie war verborgen und nahm liebenswürdige Farben an; sie hatte sogar einen gewissen Reiz und eine Anmuth bei einem so lieblichen Kinde, aber Eigenliebe war es nichts desto weniger. Darin unterschied er sich von seinem Bruder: Philipp war eigenwillig, Sidney eigenliebig. Eine gewisse Schüchternheit des Charakters, die dem ängstlichen Herzen der Mutter entsprach, trug dazu bei, daß dieser Fehler bei dem jüngern Knaben Wurzel faßte; denn in kühnen Naturen liegt eine ungebundene und unberechnende Sorglosigkeit, welche die Eigenliebe unbewußt verachtet: und was ist Furcht in physischer Hinsicht anders als die Rücksicht für die eigene Person, und in moralischer die Besorgniß für die eigenen Interessen?

In einem kleinen Zimmer in der Vorstadt H. saß Mrs. Morton am Fenster und erwartete ängstlich das Klopfen des Briefträgers, der ihres Bruders Antwort auf ihren Brief bringen sollte. Es war zwischen zehn und elf Uhr Morgens im lustigen Monat Junius. Es war heiß und schwül, was in England im Junius selten ist. Eine weiß und roth bemalte Fliegenfalle hing von der Decke, von Fliegen umschwärmt, Fliegen saßen an der Decke, Fliegen summten an den Fenstern; das Sopha und die Stühle von Roßhaar schienen mit Fliegen gepolstert zu sein. Die dichten, festen Vorhänge von wollenem Moor hatten ein unfreundliches Ansehen, die grellen Tapeten, der hellfarbige Teppich, selbst der Spiegel über dem Kamin, wo ein schmales Stück Spiegelglas in einem Rahmen hing, der mit gelbem Mousselin bedeckt war, Alles hatte etwas Unerquickliches. Wir reden von der Langweiligkeit des Winters, und ohne Zweifel ist der Winter trostlos. Aber was in der Welt ist unerfreulicher für Augen, die an das Grün der blühenden Natur – an den Pomp der Wälder und die Teppiche der Felder gewöhnt sind – als ein enges Zimmer in einem Hause in der Vorstadt; wo die Sonne in jeden Winkel dringt, wo nichts Frisches, nichts Kühles, nichts Duftiges zu sehen, zu fühlen oder einzuathmen ist; nichts als Staub, blendendes Licht, Geräusch, und neben dran vielleicht ein Seifensiederladen? Sidney, mit einer Scheere bewaffnet, schnitt die Bilder aus einem Geschichtenbuche, welches seine Mutter ihm am Tage zuvor gekauft hatte. Philipp, der sich in der letzten Zeit viel auf den Straßen umhertrieb – vielleicht in der Hoffnung, einem von jenen wohlwollenden, excentrischen, ältlichen Herren zu begegnen, wovon er in alten Romanen gelesen, die plötzlich der nothleidenden Tugend zu Hülfe kommen, oder wahrscheinlicher aus Ruhelosigkeit, die seinem abenteuerlichen Temperamente angehörte – Philipp hatte das Haus seit dem Frühstück verlassen.

»O wie heiß dies garstige Zimmer ist!« rief Sidney plötzlich, von seiner Beschäftigung aufblickend. »Werden wir nie wieder auf's Land gehen, Mama?«

»Nicht jetzt, mein Lieber.«

»Ich wollte, ich hätte mein Pferdchen. Warum kann ich nicht mein kleines Pferdchen haben?«

»Weil – weil – das Pferd verkauft ist, Sidney.«

»Wer verkaufte es?«

»Dein Onkel.«

»Er ist ein sehr garstiger Mann, mein Onkel, nicht wahr? Aber kann ich nicht ein anderes Pferd haben? Es wäre so hübsch bei diesem schönen Wetter.«

»Ach, lieber Junge, ich wollte, ich könnte dir eins kaufen; aber du sollst noch diese Woche ausreiten! Ja,« fuhr die Mutter fort, als wollte sie sich wegen dieser Verschwendung bei sich selber entschuldigen, »er sieht nicht wohl aus, der arme Kleine! Er muß nothwendig Bewegung haben!«

»Ausreiten! – O! du bist meine liebe, gute Mutter!« rief Sidney, in die Hände klatschend. »Aber nicht auf einem Esel – auf einem Pferdchen. Der Mann dort unten in der Straße vermiethet Pferde. Ich muß den kleinen Weißen mit einem langen Schweif haben. Aber bitte, Mama, sage es Philipp ja nicht, er würde neidisch werden.«

»Nein, nicht neidisch, mein Lieber. Warum denkst du das?«

»Weil er immer ärgerlich ist, wenn ich dich um etwas bitte. Es ist sehr unfreundlich von ihm, denn meinetwegen kann er auch ein Pferd haben – nur nicht das weiße.«

In diesem Augenblick klopfte der Briefträger laut und plötzlich, so daß Mrs. Morton von ihrem Sitze auffuhr. Sie drückte ihre Hände fest auf's Herz, als wollte sie das Klopfen desselben hemmen, und ging in nervöser Aufregung zur Thür, um dem langsamen Schritte der auf Pantoffeln gehenden Magd zuvorzukommen.

»Gib ihn mir, Hanne, gib ihn mir!«

»Einen Schilling und acht Pence – doppeltes Porto – wenn's beliebt, Madame! Danke Ihnen.«

»Mama, darf ich Hanne sagen, daß sie das Pferdchen miethet?«

»Noch nicht, mein Lieber; setze dich nieder; sei ruhig, ich – bin nicht wohl.«

Sidney, der zärtlich und gehorsam war, schlich ruhig zum Fenster zurück und nahm nach einem kurzen und ungeduldigen Seufzer die Scheere und das Geschichtenbuch wieder vor. Ich entschuldige mich nicht bei dem Leser wegen der verschiedenen Briefe, die ich genöthigt bin, ihm vorzulegen; denn der Charakter verräth sich oft mehr in Briefen, als in der Rede. Roger Morton's Antwort war in folgenden Ausdrücken abgefaßt:

»Liebe Katharina!

»Ich habe deinen Brief vom 14. dieses empfangen und beantworte ihn dir jetzt. Deine betrübte Lage hat mich sehr bekümmert; aber du magst sagen, was du willst, so kann ich mich doch nicht überzeugen, daß der verstorbene Herr Beaufort wie ein gewissenhafter Mann handelte, indem er vergaß, sein Testament zu machen und seine Kleinen ohne Unterstützung ließ. Es ist Alles recht schön, von seinen Absichten zu reden; aber nur wenn man ihn kostet, kann man beurtheilen, ob der Pudding gut gerathen. Es ist eine schwere Sache für mich, der ich selber eine große Familie habe und mir meinen Lebensunterhalt durch redlichen Fleiß verdiene, die Kinder eines reichen Herrn erhalten zu sollen. Was deine Geschichte von der geheimen Trauung betrifft, so mag sie wahr sein oder nicht. Vielleicht wurdest du von jenem charakterlosen Manne hintergangen, denn eine wirkliche Trauung konnte es nicht sein. Und wie du sagst, hat das Gesetz über diesen Punkt entschieden; darum je weniger du von der Sache sprichst, desto besser. Es kommt Alles auf dasselbe heraus. Die Leute sind nicht verbunden, zu glauben, was du sagst, so bist du mehr zu tadeln als zu bedauern, weil du so viele Jahre geschwiegen und eine redliche Familie, als welche die unsre stets ist betrachtet worden, in Schande gebracht hast. Ich bin gewiß, meine Frau würde nicht dergleichen für den schönsten Herrn gethan haben, der je Schuhleder getragen. Indessen will ich deine Gefühle nicht verletzen, und auf jeden Fall bin ich bereit, zu thun was recht und passend ist. Du kannst nicht erwarten, daß ich dich in mein Haus einladen soll. Du weißt, meine Frau ist sehr religiös – was man evangelisch nennt; doch darum handelt es sich hier nicht: ich verkehre mit allen Leuten, sie mögen der Staatskirche angehören oder nicht – selbst mit Juden – und kümmere mich nicht viel um Verschiedenheit der Ansichten. Ich denke, es gibt viele Wege, die zum Himmel führen; wie ich auch neulich zu Herrn Thwaites, einem unserer Mitglieder, sagte. Aber ich muß dir sagen, meine Frau will nichts davon hören, daß du hieherkommst, und in der That könnte es meinem Geschäfte Nachtheil bringen, denn verschiedene ältliche unverheirathete Frauenzimmer kaufen Flanell für die Armen in meinem Laden und sie sind sehr eigen in solchen Dingen, was auch ganz recht ist, denn die Moral ist sehr strenge in dieser Grafschaft und besonders in dieser Stadt, wo wir freilich sehr hohe Kirchenabgaben zahlen. Nicht als murrte ich darüber, denn wenn ich gleich so liberal bin, wie es nur irgend ein Mann sein kann, so bin ich doch für eine vom Staat anerkannte Kirche, wie es auch meine Pflicht sein muß, da der Dekan mein bester Kunde ist. Aus Rücksicht für deine Bedürfnisse schließe ich zehn Pfund bei; theile mir mit, wenn sie ausgegeben sind, und ich will sehen, was ich mehr thun kann. Du sagst, es gehe dir sehr dürftig, was mir sehr leid thut; aber du solltest Muth fassen und gerade zu Werke gehen, und ich denke wirklich, du dürftest dich wohl an Robert Beaufort wenden. Er steht in sehr gutem Rufe, und ungeachtet deines Processes mit ihm, den ich nicht billigen kann, denke ich, würde er dir vierzig bis fünfzig Pfund jährlich aussetzen, wenn du dich gehörig an ihn wendetest. So viel von dir. Was die Knaben betrifft – die armen vaterlosen Waisen! – so ist es sehr hart, daß sie wegen eines Fehlers so hart bestraft werden sollen, den sie nicht selbst gemacht, und meine Frau, die zwar strenge aber gutherzig ist, zeigt sich bereit zu thun, was ich hinsichtlich ihrer wünsche. Du sagst, der älteste ist beinahe sechzehn und hat gute Fortschritte in seinen Studien gemacht. Ich kann ihm ein sehr gutes, leichtes Fortkommen verschaffen. Der Bruder meiner Frau, Herr Christoph Plaskwith, ist Buchhändler und hat ein hübsches Geschäft in R*. Er ist ein gewandter Mann und gibt eine Zeitung heraus, die er mir aus Gefälligkeit jede Woche sendet, und obgleich sie nicht meiner Grafschaft angehört, so hat sie doch eine gute Richtung und wird oft in Londoner Blättern als ein sehr gutes Provinzialblatt erwähnt. Herr Plaskwith schuldigt mir einiges Geld, welches ich ihm vorstreckte, als er die Zeitung begann, und er hat sich mehrmals auf die ehrlichste Weise erboten, mir einen Antheil an dem Ertrage seiner Zeitung dafür abzutreten. Doch da das Ding ein Ende nehmen könnte und da ich mich nicht gern auf Sachen einlasse, die ich nicht verstehe, so habe ich seine sehr vortheilhaften Anträge nicht angenommen. Plaskwith schrieb mir vor zwei Tagen, er wünsche einen anständigen, hübschen Burschen als Lehrling und Gehülfen anzunehmen, und fragte an, ob mein ältester Sohn dazu Lust hätte; aber ich kann ihn nicht entbehren. Ich schreibe mit dieser Post an Christoph, und wenn dein Sohn auf dem Omnibus herunterfahren will – es kostet nicht viel – und bei Herrn Plaskwith anfragen, so zweifle ich nicht, daß er ihn sogleich annehmen wird. Aber du wirst fragen: es ist das Eintrittsgeld zu berücksichtigen! Nichts von dem; Christoph wird das Eintrittsgeld von dem mir schuldigen Gelde abrechnen, und so hast du nichts zu bezahlen. Dies ist eine sehr hübsche Sache, und da der Bursche schon einige Fortschritte gemacht hat, wird es schon gehen; darum darfst du dir also keine Sorge machen. Was den jüngsten betrifft, den will ich sogleich zu mir nehmen. Du sagst, er ist ein hübscher Junge, und ein hübscher Junge ist stets eine Hülfe im Laden eines Leinwandhändlers. Er soll Alles mit meinen Kindern theilen, und Mrs. Morton wird für seine Wäsche und Moral sorgen. Ich setze voraus – dies ist Mrs. Morton's Erinnerung – daß er die Masern, die Kuhpocken und den blauen Husten gehabt hat, was ich mir zu melden bitte. Wenn er sich gut beträgt, was in seinem Alter ihm schon noch anzugewöhnen ist, so ist für sein Leben hinlänglich gesorgt. So hast du für zwei Personen weniger zu sorgen und darfst nur an dich selber denken, was gewiß eine große Beruhigung sein muß. Vergiß nicht, an Herrn Beaufort zu schreiben, und wenn er nicht etwas für dich thut, so ist er nicht der Herr, für den ich ihn halte. Aber du bist mein eigenes Fleisch und Blut und sollst nicht verhungern; denn wenn ich es gleich nicht für recht halte für einen Geschäftsmann, zu dem aufzumuntern, was unrecht ist, so glaube ich doch, wenn Jemand in der Welt heruntergekommen ist, so ist eine Unze Hülfe besser als ein Pfund gute Lehren und Predigten. Meine Frau denkt anders und will dir einige Traktätchen senden; doch nicht Jeder kann so nach der Schnur handeln. Doch, wie ich schon oben sagte, das gehört nicht zur Sache. Laß es mich wissen, wenn dein Knabe herunterkommt, und auch das von den Masern, den Kuhpocken und dem blauen Husten, und auch ob mit Herrn Plaskwith

Alles richtig ist. So, nun hoffe ich, wirst du dich beruhigter fühlen,
und verbleibe, liebe Katharina,

dein verzeihender und liebender Bruder

Roger Morton.

High-Street Nr. –, 13. Junius.

Nachschrift. – Mrs. Morton sagt, sie will eine Mutter für
den kleinen Knaben sein, und es sei gut, wenn du all sein Leinzeug
ausbesserst, ehe du ihn schickst.«


Als Katharina diesen Brief geendet hatte, erhob sie ihre Augen und erblickte Philipp. Er war geräuschlos eingetreten, stand schweigend an der Wand gelehnt da und beobachtete das Gesicht seiner Mutter, welches, während sie las, von der schmerzlichen Erniedrigung erglühte. Philipp war nicht mehr der zierlich geputzte Knabe, den wir zuerst dem Leser vorstellten. Er war aus seinem abgeschlossenen Trauerkleide herausgewachsen; sein lange vernachlässigtes Haar hing struppig an seinen Wangen nieder; es war ein düsterer Blick in seinen funkelnden, dunkeln Augen. Die Armuth verräth sich nie mehr als in den Zügen und der Körpergestalt des Stolzen. Es war klar, daß sein Geist viel litt und sich in seine erniedrigte Lage nicht finden konnte, und ungeachtet seiner beschmutzten und fadenscheinigen Kleidung und dem bleichen, abgemagerten Gesicht, welches den Jahren der rosigen Jugend so übel steht, lag in seiner ganzen Miene und Person eine wilde und phantastische Größe, die ausdrucksvoller war, als die frühere Arroganz seines Wesens.

»Nun, Mutter,« sagte er mit einer seltsamen Mischung der Strenge in seinem Gesichte und des Mitleids in seiner Stimme, »nun, Mutter, was sagt dein Bruder?«

»Du hast schon einmal für uns entschieden, entscheide wieder. Aber ich darf dich nicht erst fragen, du würdest nimmermehr –«

»Ich weiß nicht,« fiel Philipp ein; »laß sehen, worüber wir entscheiden sollen!«

Mrs. Morton war von Natur ein Weib von hohem Muthe und Geiste, aber Kummer und Krankheit hatten beide niedergedrückt. Und obgleich Philipp erst sechszehn Jahre alt war, so liegt doch etwas in der Natur des Weibes – besonders bei einer Verlegenheit – was sie bewegt, sich auf einen andern Willen als auf ihren eigenen zu stützen. Sie gab Philipp den Brief und setzte sich ruhig zu Sidney nieder.

»Dein Bruder meint es gut,« sagte Philipp, als er den Brief gelesen hatte.

»Ja, aber es läßt sich nicht machen; ich kann doch unmöglich den armen Sidney fortschicken zu – zu – –.« Und Mrs. Morton schluchzte.

»Nein, liebe Mutter, nein; es wäre schrecklich, dich von ihm zu trennen. Aber dieser Buchhändler – Plaskwith – vielleicht werde ich im Stande sein, Euch Beide zu unterstützen.«

»Ei, du denkst doch nicht daran, Philipp, ein Lehrling zu werden! – Du, der du so erzogen bist – der du so stolz bist!«

»Mutter, für dich werde ich die Uebergänge über die Gassen kehren; Mutter, für dich werde ich zu meinem Onkel Beaufort mit dem Hut in der Hand gehen und ihn um einen halben Penny bitten. Mutter, ich bin nicht stolz – ich möchte gern ehrlich sein, wenn ich kann – aber wenn ich dich so hinwelken sehe und so verändert, da versucht mich der Teufel, und ich denke oft mit Schauder daran, daß ich ein Verbrechen begehen könnte – welches, weiß ich nicht!«

»Komm her, Philipp – mein lieber Philipp – mein Sohn, meine Hoffnung, mein Erstgeborner!« – Und das Herz der Mutter gab sich der ganzen Zärtlichkeit früher Tage hin. »Sprich nicht so furchtbare Worte aus, du erschreckst mich!«

Sie umschlang seinen Hals mit ihren Armen und küßte ihn besänftigend. Er legte seine glühenden Schläfe an ihren Busen und schmiegte sich an sie an, wie er früher zu thun pflegte, nach einem stürmischen Ausbruch seiner leidenschaftlichen und ungestümen Kindheit. In dieser Stellung blieben sie eine Weile – ihre Lippen schwiegen und ihre Herzen redeten zu einander – Eins schöpfte aus dem Andern Unterstützung und heilige Stärke – bis Philipp ruhig und mit stillem Lächeln aufstand und sagte: »Lebe wohl, Mutter, ich will sogleich zu Plaskwith gehen.«

»Aber du hast kein Geld zur Fahrt; hier, Philipp.« Und sie gab ihm ihre Börse in die Hand, woraus er mit Widerstreben einige Schillinge auswählte. »Und bedenke, wenn der Mann rauh ist und dir nicht gefällt, so darfst du dich nicht der Unverschämtheit und Kränkung unterwerfen.«

»O, Alles wird gut gehen, fürchte nichts,« sagte Philipp heiter und verließ das Haus.

Gegen Abend hatte er seine Bestimmung erreicht. Der Laden hatte ein hübsches Aussehen und einen besondern Eingang; oben darüber stand geschrieben: »Christoph Plaskwith, Buchhändler.« An der Thür war eine Platte mit der Inschrift: »Expedition des Merkur.« Philipp trat durch den besondern Eingang ein und wurde von einer zierlichen Phillis in ein kleines Geschäftszimmer geführt. In wenigen Minuten öffnete sich die Thür und der Buchhändler trat ein.

Herr Christoph Plaskwith war ein kurzer, untersetzter Mann mit hellbraunen Beinkleidern und ähnlichen Kamaschen, schwarzem Rock und Weste, einer starken Uhrkette mit einem ungeheuren Bündel von Petschaften, die mit kleinen Schlüsseln und altmodischen Trauerringen abwechselten. Seine Gesichtsfarbe war bleich und aufgedunsen, sein Haar kurz, schwarz und glatt. Der Buchhändler rühmte sich seiner Aehnlichkeit mit Napoleon und hatte ein kurzes, rasches und gebieterisches Wesen angenommen, welches er für ein Hauptmerkmal des kräftigen und entschiedenen Charakters seines Vorbildes hielt.

»Sie sind also der junge Herr, den mir Herr Roger Morton empfiehlt?« Hier nahm Herr Plaskwith ein ungeheures Taschenbuch, öffnete es langsam und starrte Philipp mit einem Blicke an, der durchdringend und forschend sein sollte.

»Dies ist der Brief – nein! dies ist Sir Thomas Champerdown's Bestellung auf fünfzig Exemplare der letzten Nummer des Merkur, die seine Rede bei der Versammlung der Grafschaft enthält. – Ihr Alter, junger Mann? – Erst sechszehn? – Sehen älter aus – das ist er nicht – das ist er auch nicht – dieser da ist's! – Setzen Sie sich nieder. Ja, Herr Roger Morton empfiehlt Sie – ein Verwandter – in unglücklichen Umständen – wohl erzogen – hm! nun, junger Mann, was haben Sie von sich selber zu sagen?«

»Wie beliebt, mein Herr?«

»Können Sie Rechnungen ausschreiben? – Verstehen Sie das Buchhalten?«

»Ich verstehe etwas von der Algebra, mein Herr.«

»Algebra! – so, was weiter?«

»Französisch und Latein.«

»Hm! – mag nützlich sein. Warum tragen Sie Ihr Haar so lang? – Sehen Sie mich an. Wie ist Ihr Name?«

»Philipp Morton.«

»Philipp Morton, Sie haben ein verständiges Gesicht – ich gehe sehr auf Gesichter. Sie kennen die Bedingungen? – sehr günstig für Sie. Kein Eintrittsgeld – mache das mit Roger ab. Ich gebe Tisch und Bett – Ihre Wäsche haben Sie selber besorgen zu lassen. Regelmäßige Gewohnheiten – die Lehrzeit nur fünf Jahre; mit der Bedingung, daß Sie sich später nicht in derselben Stadt etabliren. Ich will für den Lehrbrief sorgen. Wann können Sie kommen?«

»Wann Sie wollen, Herr.«

»Uebermorgen mit dem Omnibus, der um sechs Uhr ankommt.«

»Aber, Herr,« sagte Philipp, »werde ich keinen Gehalt bekommen? – Etwas, so wenig es auch ist, damit ich meiner Mutter etwas schicken kann?«

»Gehalt mit sechszehn Jahren! – Tisch und Bett – kein Eintrittsgeld! Gehalt! für was? Lehrlinge haben keinen Gehalt! – Sie werden jede Bequemlichkeit haben.«

»Geben Sie mir weniger Bequemlichkeit, damit ich meiner Mutter mehr schicken kann – ein wenig Geld, so wenig es auch ist, und ziehen es mir an meinem Tische ab; ich bedarf nur einer Mahlzeit täglich, Herr.«

Der Buchhändler wurde gerührt, nahm eine ungeheure Prise Schnupftabak aus seiner Westentasche und sann einen Augenblick nach. Dann sagte er, nachdem er Philipp noch einmal genau angesehen:

»Nun, junger Mann, ich will Ihnen sagen, was wir thun wollen. Sie sollen zuerst auf die Probe hieherkommen – wir wollen sehen, ob wir einander gefallen, ehe wir den Vertrag unterzeichnen – inzwischen gebe ich Ihnen fünf Schilling die Woche. Wenn Sie Talent zeigen, so will ich sehen, ob Roger und ich uns über einen kleinen Gehalt verständigen können. Ist Ihnen das recht?«

»Ich danke Ihnen, Herr, ja,« sagte Philipp mit dankbarem Ausdruck.

»Abgemacht also. Folgen Sie mir – will Sie Mrs. Plaskwith vorstellen.«

Mit diesen Worten legte Herr Plaskwith den Brief wieder in das Taschenbuch und steckte es in die Tasche; dann legte er seine Arme auf den Rücken, erhob sein Kinn und schritt durch den Gang in ein kleines Zimmer, welches die Aussicht auf einen kleinen Garten gewährte. Hier saßen um einen runden Tisch eine sehr hagere, schielende Dame, Mrs. Plaskwith, und zwei kleine Mädchen, die Fräulein Plaskwith, welche auch schielten und Lätzchen vorhatten, ein junger Mann von drei- oder vierundzwanzig Jahren, der ziemlich schmutzige Nankingbeinkleider und eine schwarze Jacke und Weste von Manchester trug. Dieser junge Herr, der sehr viele Sommersprossen hatte, trug sein schwarzes und krauses Haar auf der einen Seite hinauf und auf der andern Seite herunter, hatte eine kurze, dicke Nase, volle Lippen und roch, wenn man sich ihm näherte, nach Cigarren. Dies war Herr Plimmins, Herrn Plaskwith's Faktotum, erster Commis und Mitherausgeber des Merkur. Herr Plaskwith machte in formeller Weise die Runde bei der Vorstellung; Mrs. Plaskwith nickte mit dem Kopfe; die Fräulein Plaskwith stießen einander an und lächelten; Herr Plimmins fuhr mit der Hand durch sein Haar, sah in den Spiegel und verbeugte sich sehr höflich.

»Nun, Mrs. Plaskwith, meine zweite Tasse, und gib Herrn Morton auch seine Tasse Thee. Müssen ermüdet sein, Herr – ein heißer Tag. Jemina, klingele – nein, geh' zur Treppe und rufe: mehr geröstetes Brod mit Butter. Das ist der kürzere Weg – Promptheit ist meine Lebensregel, Herr Morton. Sagen Sie – hm, hm – haben Sie je zufällig die Lebensbeschreibung des großen Napoleon Bonaparte studirt?«

Herr Plimmins schluckte seinen Thee hinunter und stieß Philipp unter dem Tische an. Philipp sah den Commis zornig an und erwiderte mürrisch: »Nein, Herr.«

»Das ist Schade. Napoleon Bonaparte war ein sehr großer Mann! Sie haben doch seine Büste gesehen? – Dort steht sie auf dem Nebentische! Sehen Sie sie an! Finden Sie eine Aehnlichkeit, he?«

»Ähnlichkeit, Herr? Ich sah Napoleon Bonaparte nie.«

»Nein, so meine ich es nicht. Aber sehen Sie sich im Zimmer um. An wen erinnert Sie jene Büste? Wem gleicht sie?«

Hier stand Herr Plaskwith auf und nahm eine Stellung an: seine Hand in der Weste und sein Gesicht nachdenkend zu dem Theetische geneigt. »Nun denken Sie sich mich auf St. Helena; dieser Tisch ist der Ocean. Nun also, wem gleicht jene Büste, Herr Philipp Morton?«

»Ich denke, Ihnen, Herr!«

»Ja, so ist es! Das fällt Jedem auf! Nicht wahr, Mrs. Plaskwith, nicht wahr? Und wenn Sie mich länger kennen, werden Sie auch eine moralische Aehnlichkeit finden – eine moralische, Herr! Gerade heraus – kurz – gerade auf's Ziel los – kühn – entschlossen!«

»Ich bitte dich, Plaskwith,« sagte Mrs. Plaskwith in sehr zänkischem Tone, »beeile dich mit dem Thee; der junge Herr will vermuthlich nach Hause und der Omnibus kommt in einer Viertelstunde vorüber.«

»Haben Sie Kean in Richard dem Dritten gesehen, Herr Morton?« fragte Plimmins.

»Ich sah nie ein Schauspiel.«

»Nie ein Schauspiel! Wie seltsam!«

»Durchaus nicht seltsam, Herr Plimmins,« sagte der Buchhändler. »Herr Morton ist in einer bedrängten Lage gewesen – reichen Sie ihm das geröstete Brod.«

Schweigend und mürrisch, aber mehr verächtlich als traurig, horchte Philipp dem Geplauder um ihn her und beobachtete die widerwärtigen Charaktere, in deren Nähe er seine Zeit zubringen sollte. Er bemühte sich nicht, zu gefallen – das hatte er leider nie zu seinem besonderen Studium gemacht – es war genug für ihn, daß er mit dem Auge des Geistes jenseits der Wände des düstern Zimmers die weiten Aussichten auf besseres Glück sehen konnte. Welcher Kummer kann im sechszehnten Jahre die Hoffnung verscheuchen, oder welche prophetische Furcht den Ehrgeiz einen Thoren schelten? Er wollte die geliebten Wesen, die er zu Hause gelassen, wieder in Ruhe und Wohlstand, wenn auch nicht in Ueberfluß und hohen Rang versetzen. Fünf Schilling die Woche war eine Höhe, von der er das verheißene Land überblickte.

Endlich zog Herr Plaskwith seine Uhr heraus und sagte: »Gerade zur rechten Zeit, um mit dem Omnibus fortzukommen; machen Sie Ihre Verbeugung und dann fort!« Philipp stand auf, nahm seinen Hut, machte eine steife Verbeugung gegen die ganze Gruppe zugleich und entfernte sich mit seinem Wirth.

Mrs. Plaskwith athmete leichter, als er fort war.

»Ich sah nie einen so seltsamen, finsteren, schlecht erzogenen jungen Mann! Ich muß sagen, ich fürchtete mich ordentlich vor ihm. Was er für ein Auge hat!«

»Ungewöhnlich finster; ich möchte sagen, wie ein Zigeuner,« sagte Plimmins.

»Hi, hi! Sie machen immer so gute Bemerkungen, Plimmins. Wie ein Zigeuner! Hi, hi! So ist es. Es soll mich wundern, ob er nicht wahrsagen kann?«

»Da sollte er sich lieber zuerst etwas Gutes wahrsagen. Ha, ha!« sagte Plimmins.

»Hi, hi! sehr gut! Sie sind sehr witzig, Plimmins.«

Während diese Bemerkungen über sein Aeußeres noch fortgingen, hatte Philipp bereits die Höhe des Wagens erstiegen, winkte mit seiner früheren Herablassung seinem künftigen Herrn mit der Hand zu und wurde von dem Omnibus in einem Wirbelwinde von Staub davongeführt.

»Ein sehr warmer Abend, Herr,« sagte ein Passagier, der zu seiner Rechten saß und aus einer kurzen deutschen Pfeife Philipp eine Rauchwolke in's Gesicht blies.

»Sehr warm. Sei'n Sie so gut, dem Herrn auf der andern Seite von Ihnen in's Gesicht zu rauchen,« entgegnete Philipp.

»Ho, ho!« versetzte der Passagier mit einem lauten, kräftigen Lachen – mit dem Lachen eines starken Mannes. »Sie rauchen noch nicht; Sie werden es schon lernen, wenn Sie so viel Sorgen und Bekümmernisse durchgemacht haben, wie ich. Eine Pfeife ist eine große Trösterin! Die blauen Teufel entfliehen vor ihrem ehrlichen Athem! Sie reift das Gehirn – öffnet das Herz, und der Mann, welcher raucht, denkt wie ein Weiser und handelt wie ein Samaritaner!«

Von dieser gewandten und unerwarteten Deklamation aus seiner Träumerei erweckt, richtete Philipp seinen raschen Blick auf seinen Nachbar. Er sah einen Mann von großem Umfange und ungeheurer physischen Kraft – breitschultrig – mit hoher und breiter Brust – nicht korpulent, aber vermöge seiner Knochen und Muskeln von demselben Umfange wie ein korpulenter Mann. Er trug einen blauen Rock, der bis an das Kinn zugeknöpft war. Ein Strohhut mit breitem Rande, den er auf einer Seite trug, barg sein Gesicht, welches ungeachtet seiner jovialen Farbe und seines lächelnden Mundes einen kühnen und entschiedenen Ausdruck hatte. Es war ein Gesicht, welches gut zu dem Körper paßte, da es auf einen Geist deutete, wohl geeignet, die gewaltige physische Kraft des Körpers zu bewältigen. Er hatte Augen, die scharfen Verstand ausdrückten, rauhe, aber entschlossene und stark markirte Züge und Kinnbacken wie von Eisen. Es lag Nachdenken, Kraft und Leidenschaft auf der gerunzelten Stirn, in den tiefen Furchen, in den weiten Nasenflügeln und in dem ruhelosen Spiele der Lippen. Philipp sah ihn fest und ernst an, und der Mann erwiderte seinen Blick.

»Was denken Sie von mir, junger Herr?« fragte der Passagier, indem er die Pfeife wieder in den Mund steckte. »Habe ich nicht ein hübsches Aussehen?«

»Sie scheinen ein seltsamer Mann zu sein.«

»Seltsam! – Ja, Sie wissen nicht, was Sie aus mir machen sollen, und so ist es schon Vielen ergangen. Sie können mich nicht so leicht begreifen, wie ich Sie. Soll ich Ihnen Ihren Charakter und Ihre Umstände sagen? Sie sind von vornehmer Geburt – das sagt mir der Ton Ihrer Stimme. Sie sind arm, verteufelt arm – das sagt mir das Loch in Ihrem Rock. Sie sind stolz, feurig, unzufrieden und unglücklich – alles das sehe ich in Ihrem Gesichte. Weil ich diese Zeichen bemerkte, sprach ich mit Ihnen. Ich fange keine Bekanntschaft mit den Glücklichen an.«

»Wenn Sie alle Unglücklichen kennen, so müssen Sie eine ziemlich große Bekanntschaft haben,« entgegnete Philipp.

»Ihr Witz geht über Ihre Jahre hinaus! Welches ist Ihr Beruf, wenn die Frage Sie nicht beleidigt?«

»Ich habe noch keinen,« sagte Philipp mit einem leichten Seufzer und hoch erröthend.

»Um so mehr Schade!« brummte der Raucher mit langer und nachdrücklicher Betonung. »Ich hätte Sie für einen Rekruten im Lager des Feindes gehalten.«

»Des Feindes! ich verstehe Sie nicht.«

»In andern Worten, für eine Pflanze, die aus dem Tische eines Advokaten hervorwächst. Ich will mich erklären. Es gibt eine Klasse von Spinnen, von jenen fleißigen, schwer arbeitenden Achtfüßern, die aus dem Schweiß ihres Gehirns – beiläufig gesagt, nehme ich an, daß die Spinnen eine sehr feine Gehirnentwickelung haben müssen – ihre eigenen Netze machen und ihre eigenen Fliegen fangen. Es gibt noch eine andere Klasse von Spinnen, die keinen Stoff in sich haben, um ihr Gewebe daraus zu machen; sie wandern also umher und sehen sich nach Nahrung um, die sich ihre Nachbarn durch ihre Arbeit verschafft haben. Wenn sie zu dem Gewebe einer kleineren Spinne kommen, deren Vorrathskammern gut versorgt zu sein scheinen, so machen sie einen Einfall in ihre Besitzung – verfolgen sie in ihre Höhle – fressen sie auf, wenn sie können – werfen sie weg, wenn sie zu zähe für ihre Kinnbacken ist, und setzen sich ganz ruhig in den Besitz aller Beine und Flügel, die sie in dem Netz finden können; diese Spinnen nenne ich Feinde – die Welt nennt sie Advokaten!«

Philipp lachte. »Und welches ist die erste Klasse der Spinnen?«

»Ehrliche Geschöpfe, welche offen bekennen, daß sie von Fliegen leben. Die Advokaten fallen unter dem Vorwande über sie her, daß sie die Fliegen aus ihren Klauen befreien wollen. Sie sind wunderbare Blutsauger, diese Advokaten, ungeachtet all' ihrer Heuchelei. Ha, ha! ho, ho!«

Und mit einem lauten rauhen Lachen, welches mehr Bosheit als Heiterkeit ausdrückte, drehte sich der Mann herum, wendete sich kräftig zu seiner Pfeife und versank in ein Schweigen, welches er nicht brechen zu wollen schien, während eine Meile nach der andern unter den Rädern dahinglitt. Auch war Philipp nicht zur Mittheilung gestimmt. Das Nachdenken über seinen eigenen Zustand und seine Aussichten verschlang die Neugierde, die sein seltsamer Nachbar sonst würde bei ihm erregt haben. Er hatte seit dem frühen Morgen nichts gegessen. Die Besorgniß hatte ihn für den Hunger unempfindlich gemacht, bis er bei Herrn Plaskwith ankam, und dort, fieberhaft, im Herzen verwundet, empörte ihn nur der Anblick des Luxus, der den Theetisch schmückte. Er empfand auch jetzt keinen Hunger, doch war er ermüdet und matt. Seit mehreren Nächten war der Schlaf, den die Jugend so schwer entbehren kann, unterbrochen und gestört gewesen, und jetzt begann die rasche Bewegung des Fahrens und die freie Strömung einer frischeren Luft, als er seit vielen Monaten gewohnt gewesen, gleich der Berauschung eines starken Getränkes auf seine Nerven zu wirken; ein undeutlicher Nebel, durch den das verschiedene Schielen der weiblichen Plaskwiths ihn anzustarren schien, folgte dem dahinfliegenden Wege und den tanzenden Bäumen. Sein Kopf fiel auf seine Brust nieder, und indem er instinktmäßig die stärkste Stütze in seiner Nähe suchte, lehnte er sich an den rüstigen Raucher und legte seinen Kopf endlich ganz vertraut an seine Schulter. Der Passagier, der diese unwillkommene und unerwünschte Last fühlte, nahm seine Pfeife, die er bereits dreimal von Neuem gefüllt, aus seinen Lippen und ließ ein zorniges und ungeduldiges Schnauben hören. Als er fand, daß dieß keine Wirkung hervorbrachte und die Last immer schwerer wurde, je fester der Knabe einschlief, so rief er mit lauter Stimme: »Holla! ich bezahlte nicht mein Fahrgeld, um Ihr Polster zu sein, junger Mann!« Und er schüttelte sich ganz lustig. Philipp fuhr auf und würde von der Seite des Wagens heruntergefallen sein, hätte ihn nicht sein Nachbar mit einer Hand ergriffen, die den Fall einer jungen Eiche hätte aufhalten können.

»Kommen Sie zu sich! – Sie hätten einen garstigen Purzelbaum machen können.«

Philipp murmelte etwas Unhörbares zwischen Schlaf und Wachen, und richtete seine dunklen Augen auf den Mann. In diesem Blicke lag ein so unbewußter, aber trauriger und tiefer Vorwurf, daß der Passagier sich gerührt und beschämt fühlte. Ehe er aber etwas zur Entschuldigung oder Aussöhnung sagen konnte, war Philipp wieder eingeschlafen. Diesmal aber, als fühlte er den Vorwurf, den er erhalten, und als wolle er sich deßhalb rächen, lehnte er seinen Kopf von seinem Nachbar weg an die Ecke eines Koffers – ein gefährliches Kopfkissen, denn jeder plötzliche Stoß hätte ihn auf den Weg hinunterwerfen können.

»Der arme Junge! – Er sieht bleich aus!« murmelte der Mann, klopfte seine Pfeife aus und steckte sie sachte in die Tasche. »Vielleicht konnte er den Rauch nicht ertragen – er scheint schwächlich und abgemagert zu sein.« – Und er nahm die langen, zierlichen Finger des Knaben in die seinen. »Seine Wange ist hohl! – Was weiß ich's, aber es kann vom Fasten sein. Pah! ich war zu rauh gegen ihn. Still, Kutscher, still! schwatzt nicht so laut, und zum Henker! so wird er gewiß herunterfallen.« Und der Mann schlang leise und unbemerkt seinen ungeheuren Arm um des Knaben Taille. »Nun muß ich seinem Kopfe eine andere Lage geben; so – so ist's recht.« Philipps hohle Wange und langes Haar ruhten jetzt zärtlich an der Brust des Fremden. »Der arme Junge! er lächelt; vielleicht denkt er an die Heimath und an die Schmetterlinge, denen er als kleiner Bube nachlief – sie kehren nimmer zurück, jene Tage – nimmer – nimmer – nimmer! Mich dünkt, der Wind dreht sich nach Osten, er könnte sich erkälten.« Und mit der Zärtlichkeit eines Weibes legte der Mann ihn auf einen Augenblick von seiner Brust an seine Schulter, knöpfte seinen Rock auf, legte die jetzt nicht mehr unwillkommene Last an ihren früheren Platz, zog den Rock dicht um die schlanke Gestalt des Schläfers und setzte seine eigene starke Brust – denn er trug keine Weste – der rauhen Luft aus. So an der Brust des Fremden eingenistelt, beschützt vor der rauhen Gegenwart und – während ein von heftigen und schrecklichen Kämpfen mit dem Leben und der Sünde verwundetes Herz sein Kissen war – vielleicht von einer schönen und makellosen Zukunft träumend, schlief der vater- und freundlose Knabe.


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