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Zwölftes Kapitel.

Guiomar. Die Huldigung, die ich zu zollen habe,
Steht hier im Herzen, nicht im Buch geschrieben!

Rutilio (tritt auf). Ich bin verfolgt, die Häfen sind geschlossen,
Und keine Hoffnung sehe ich zur Flucht –
Vor mir und hinter mir, auf allen Seiten
Bin ich umstellt.

Beaumont und Fletcher:
»Landessitte«.

Die Gesellschaft war eben fort – schon dämmerte der Tag – das Rollen des letzten Wagens verhallte in der Ferne.

Madame de Merville hatte ihre Kammerjungfer entlassen, saß in ihrem eigenen Zimmer und stützte ihren Kopf nachdenkend auf die Hand.

Neben ihr befand sich ein Tisch, worauf ihr Manuskript und einige Bücher lagen, unter welchen zerstreute Blumenvasen standen. Auf einem Fußgestelle unter dem Fenster stand eine Marmorbüste von Dante. Durch die offene Thür sah man die Zimmerreihe, welche ihre Gäste eben verlassen hatten – die Lichter brannten noch auf den Leuchtern und kämpften mit dem Tageslichte, welches durch die halbgeschlossenen Vorhänge hereinfiel. Die Person der Bewohnerin stand in Harmonie mit den Zimmern. Sie hatte eine gewisse Grazie an sich, welche die Schriftsteller aus Mangel eines besseren Beiwortes klassisch oder antik zu nennen geneigt sind. Ihre Gesichtsfarbe, die bei jener Beleuchtung bleicher als gewöhnlich erschien, war dennoch sanft und zart – die Züge wohl gebildet und weiblich. Ihr Gesicht hatte den seltensten aller Reize, die Vereinigung des Verstandes mit der Lieblichkeit – die dunklen, blauen Augen waren gedankenvoll, vielleicht schwermüthig in ihrem Ausdruck; aber die langen, dunkeln Augenwimpern, und die Gestalt der Augen selbst, die mehr lang als voll waren, verlieh ihrem intelligenten Ausdruck eine Sanftmuth, die sich der Mattigkeit näherte, und die vielleicht durch jenen leichten Schatten um und unter den Augen erhöht wurde, der denen eigen ist, die entweder ihren Geist oder ihr Herz zu sehr angestrengt haben. Der Umriß ihres Gesichtes hatte, ohne scharf oder eckig zu sein, ein wenig von der Abrundung der frühen Jugend verloren, und die Hand, worauf sie sich stützte, war vielleicht zu weiß und zart für die Schönheit, die der Gesundheit angehört; aber der Hals und die Büste waren von vortrefflichem Ebenmaß.

»Ich bin nicht glücklich,« flüsterte Eugenie bei sich selber, »doch weiß ich kaum, warum. Ist es wirklich so, wie wir romantischen Weiber gesagt haben, bis der Ausspruch gänzlich abgenutzt ist, daß nicht Ruhm, sondern Liebe die Bestimmung des Weibes ist? Seltsam ist es doch, daß, während ich so oft schilderte, wie die Liebe sein sollte, ich sie dennoch nie empfunden habe. Und nun – und nun,« fuhr sie fort, »nun bin ich nicht mehr in meiner ersten Jugend. Wenn ich liebte, sollte ich wieder geliebt werden? Wie glücklich schien jenes junge Paar – sie sind niemals allein!«

In diesem Augenblicke hörte man in der Ferne den Knall von Feuerwaffen. Eugenie sprang auf und rief ihrem Diener zu, der, nebst einem für den Abend gedungenen Aufwärter, beschäftigt war, die Ueberbleibsel des Festes abzuräumen, und während er dieß that, die Teller ableckte. »Was ist das zu dieser Stunde? – Oeffne das Fenster und sieh' hinaus!«

»Ich kann nichts sehen, Madame.«

»Schon wieder – das ist das dritte Mal. Geh' auf die Straße und sieh' nach – es muß Jemand in Gefahr sein.«

Der Bediente und der Aufwärter, die Beide neugierig waren und sich nicht von einander trennen wollten, eilten die Treppe hinunter und dann auf die Straße.

Nachdem Morton vergebens an Birnie's Fenster gerüttelt, welches der Verräther vorher geschlossen hatte, damit sein Schlachtopfer nicht entwischen solle, kroch er rasch auf dem Dache fort und wurde durch die Brustwehr nicht nur vor den Schüssen, sondern auch vor dem Anblick der Feinde geschützt. Aber gerade, als er den Punkt erreichte, wo die Gasse mit der breiten Straße einen Winkel bildete, sah er über die Brustwehr und bemerkte, daß einer von den Officianten sich über die gefährliche Brücke gewagt hatte; er wurde verfolgt – Entdeckung und Gefangennahme schienen unvermeidlich. Er hielt inne und athmete schwer. Er, einst der Erbe eines solchen Vermögens, der Gegenstand so zärtlicher Neigung – er wurde als Mitschuldiger einer Bande von Verbrechern verfolgt! Das war der Gedanke, der ihn lähmte – die Schande, nicht die Gefahr. Aber er hatte dem Verfolger einen Vorsprung abgewonnen – er eilte weiter – bog um die Ecke – hörte einen Ruf hinter sich von der entgegengesetzten Seite her – der Officiant hatte die Brücke überschritten. »Bis jetzt ist es nur ein Mann,« dachte er, seine Nasenflügel erweiterten sich und seine Hände ballten sich, als er weiter kroch und jedes Fenster ansah, an dem er vorüber kam.

Während Gesundheit und Kraft sich anstrengten, um dem Gesetze zu entgehen und das Leben zu retten, war der Tod in der Nähe geschäftig.

In einer elenden Dachkammer kämpfte ein noch junger Handwerker mit einer langwierigen Krankheit, und ging langsam aus dieser Welt, wo der Fluch Kains immerdar geschäftig ist. Dieser Mann hatte aus Liebe geheirathet und sein Weib hatte ihn geliebt, aber die Sorgen dieser frühen Heirath hatten ihn bis auf die Knochen verzehrt. Der äußerste Mangel, wenn er lange fortdauert, zehrt die Liebe auf, da er an sonst nichts zehren kann. Und wenn die Leute gar lange nicht sterben, so beginnen die, welche dadurch beunruhigt und belästigt werden, an die nur zu oft heuchlerische Phrase – an eine glückliche Auflösung zu denken. So war dem halb verhungerten Weibe kein Strohhalm an ihrem sterbenden Manne gelegen, den sie vor noch nicht zwei Jahren zu lieben und in Krankheit und Gesundheit zu pflegen feierlich gelobt. Dennoch aber schien sie um ihn besorgt zu sein, denn sie seufzte und stöhnte und weinte, als der Athemzug des Mannes schwächer und schwächer wurde.

»Ach, Jean!« sagte sie schluchzend, »was wird aus mir werden, aus mir armen, verlassenen Wittwe, wenn ich Niemand habe, der um mein Brod arbeitet?« Bei dem Gedanken weinte sie noch heftiger.

»Ich ersticke,« sagte der Sterbende, indem er seine grassen Augen rollte. »Wie heiß es ist! Oeffne das Fenster; ich möchte das Licht – das Tageslicht noch einmal sehen.«

»Mein Gott! Welche Einfälle er hat, der arme Mann!« murmelte das Weib, ohne sich zu regen.

Der Unglückliche ergriff mit seiner Knochenhand seines Weibes Arm.

»Ich werde dich nicht lange belästigen, Marie! Luft – Luft!«

»Jean, es wird dir schlimmer werden – überdieß könnte ich mir durch die Erkältung den Tod zuziehen. Ich habe kaum einen Fetzen an, aber ich will die Thür öffnen.«

»Verzeihe mir,« stöhnte der Leidende; »so verlaß mich denn.«

Armer Kerl! Vielleicht war der Gedanke an die Unfreundlichkeit schmerzlicher, als der heftige Husten, der bei jedem Paroxismus Blut hervorbrachte. Er wünschte sie nicht so nah zu haben, und doch tadelte er sie nicht.

Das Weib öffnete die Thür, ging auf die andere Seite des Zimmers, setzte sich auf einen alten Kasten nieder und begann ein altes Halstuch zu flicken. Das Schweigen wurde bald durch das Stöhnen des Sterbenden unterbrochen, und wieder murmelte er, indem er sich mit bleichen Lippen in seinem Bette herumwarf: »Ich ersticke! – Luft!«

Dieser Bitte war nicht zu widerstehen – es schien die letzte zu sein. Das Weib legte die Nadel nieder, schlang das Halstuch um ihren Nacken und öffnete das Fenster.

»Fühlst du dich jetzt leichter?«

»Gott segne dich, Marie – ja; das ist gut. Sie erinnert mich an alte Tage, jene frische Luft, ehe wir nach Paris kamen. – Ich wollte, ich könnte jetzt für dich arbeiten, Marie.«

»Jean! Mein armer Jean!« rief die Frau, und die Worte und die Stimme riefen ihrem verhärteten Herzen die frischen Felder und zärtlichen Gedanken der vergangenen Zeit zurück. Und sie ging zu dem Bette, und er legte seine mit Todesschweiß bedeckte Schläfe an ihre Brust.

»Ich bin eine traurige Last für dich gewesen, Marie; wir hätten nicht so frühe heirathen sollen; aber ich glaubte, stärker zu sein. Weine nicht; wir haben keine Kinder, Gott sei gedankt. Es wird viel besser für dich sein, wenn ich gestorben bin.«

Und nachdem er so ein Wort nach dem andern hervorgestöhnt hatte, hielt er plötzlich inne und schien in Schlummer zu sinken.

Das Weib versuchte, ihn wieder sanft auf sein Kissen zu legen – der Kopf fiel schwer zurück – die Zähne waren zusammengebissen, die Augen offen und wie Stein – und plötzlich erkannte sie die Wahrheit! –

»Jean – Jean! Mein Gott, er ist todt! Und ich war bis zum letzten Augenblick unfreundlich gegen ihn!« Mit diesen Worten fiel sie bewußtlos über die Leiche hin.

Gerade in diesem Augenblick sah ein menschliches Gesicht zum Fenster herein, und nach einer kurzen Pause sprang ein junger Mann leicht in's Zimmer. Er sah sich mit raschem Blicke um, bemerkte aber kaum die auf dem Bette ausgestreckten Gestalten. Es war genug für ihn, daß sie zu schlafen schienen und ihn nicht sahen. Er schlich sich durch's Zimmer, dessen Thür Marie offen gelassen, und stieg die Treppe hinunter. Schon hatte er beinahe den Hofplatz erreicht, zu welchem die Treppe führte, als er bei dem Zimmer des Portier Stimmen hörte.

»Die Polizei hat eine Bande von Falschmünzern entdeckt!«

»Falschmünzer!«

»Ja, einer ist erschossen worden! Ich habe seine Leiche in der Rinne liegen sehen. Ein anderer ist über die Dächer entflohen – ein verzweifelter Kerl! Wir sollen auf ihn achten. Laßt uns die Treppe hinaufsteigen, auf's Dach gehen und uns nach ihm umsehen.«

Aus dem Gemurmel der Billigung, welches auf diesen Vorschlag folgte, erkannte Morton, daß derselbe an mehrere Personen gerichtet war, welche die Neugierde und der Knall der Pistolen aus ihren Betten herbeigeführt, und die sich um das Zimmer des Portiers versammelt hatten. Was war zu thun? Weiter zu gehen, war unmöglich! War es noch Zeit, sich zurückzuziehen? – Es war wenigstens das einzige, was ihm übrig blieb. Er sprang die Treppe wieder hinauf und hatte eben den ersten Stock erreicht, als er Jemand die Treppe herunter kommen hörte. Plötzlich fiel ihm ein, daß er das Fenster oben offen gelassen, und daß durch diese Unvorsichtigkeit der Polizeidiener den Weg entdeckt habe, den er genommen. Was war zu thun? – Zu sterben, wie Gawtrey gethan! – Der Tod war ihm lieber, als die Galeere. Als er zu diesem Entschlusse gekommen war, sah er zur Rechten die Thür eines Zimmers offen, wo noch Licht brannte. Es schien leer zu sein – er trat kühn und rasch ein und machte die Thür schnell hinter sich zu. Wein und Speisen standen noch auf dem Tische; vergoldete Spiegel zeigten ihm sein verstörtes Bild; hie und da lag eine künstliche Blume oder eine Bandschleife am Boden. Alles deutete auf die Heiterkeit und Anmuth des luxuriösen Lebens – auf Tanz, Schwelgerei und Festlichkeit – dieß Alles in einem Zimmer! Oben in demselben Hause das elende Lager – die Leiche – die Wittwe – Hungersnoth und Weh! So ist es in einer großen Stadt! So ist es vor allem in Paris, wo unter demselben Dache solche Gegensätze des geselligen Zustandes versammelt sind! Es liegt nichts Seltsames darin; aber das Seltsame und Traurige ist, daß Leute, die so nahe Nachbarn sind, einander so wenig kennen, daß die Besitzerin dieser Zimmer ein so mildes und gefühlvolles Herz hatte, aber nichts von den so nahen Leiden wußte. Die Musik, die ihre Gäste erheitert hatte, war zu den Ohren der Todesqual und des Hungers gedrungen. Morton ging durch das erste Zimmer – durch das zweite – er kam zu einem dritten – und Eugenie de Merville, die in dem Augenblicke aufsah, erblickte eine Erscheinung vor sich, die wohl die Kühnste ihres Geschlechtes hätte beunruhigen können. Sein Kopf war unbedeckt – sein dunkles Haar beschattete in wilder Fülle das blasse Gesicht, und die Züge, zwar schön, hatten in dem Augenblicke jenen Ausdruck, den ein Künstler einem jungen Gladiator mittheilen würde – und die nur Trotz, Drohung und Verzweiflung ausdrückten. Die unordentliche Kleidung – das wilde Aussehen – die dunklen Augen, die im eigentlichsten Sinne durch den Schatten des Zimmers Feuer sprühten – Alles vereinte sich, um den Schrecken einer so plötzlichen Erscheinung zu erhöhen.

»Wer sind Sie? – Was suchen Sie hier?« sagte sie stotternd, indem sie mit der Hand nach der Klingel griff.

Morton faßte die sanfte Hand.

»Ich suche mein Leben zu retten! Ich werde verfolgt! Ich bin in Ihrer Macht! Ich bin unschuldig! Können Sie mich retten?«

Als er sprach, wurde die äußere Thür geöffnet, und man hörte Fußtritte und Stimmen in der Nähe.

»Ah!« rief er, zurückweichend, als er ihr Gesicht erkannte. »Und bin ich zu Ihnen geflohen?«

Eugenie erkannte den Fremden auch, und es lag etwas in ihrer Stellung zu einander – er der Flehende, sie die Beschützerin – was ihre Phantasie und ihr Mitleid erregte. Eine leichte Röthe verbreitete sich über ihre Wangen – ihr Blick war sanft und mitleidig.

»Armer Junge! So jung!« sagte sie. »Still!«

Sie entzog ihm ihre Hand, trat einige Schritte zurück, erhob den Vorhang vor einer Nische und deutete auf einen Alkoven, der eines von jenen Sophabetten enthielt, die in französischen Häusern gewöhnlich sind, und setzte leise hinzu: »Treten Sie ein – hier sind Sie sicher.«

Morton gehorchte und Eugenie zog den Vorhang wieder zu.


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