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Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Wohin?

Rachel erhob sich, nach einer langen, schlaflos hingebrachten Nacht, am frühen Morgen, machte nur oberflächlich Toilette und begab sich auf Deck. Der Morgen war kühl, der Nebel lag gleich einem dünnen Schleier über der See, und einzelne Flocken desselben schwebten über den Spitzen des fernen Tannenwaldes. Die Matrosen waren beschäftigt, das Deck mit Wasser abzuschwemmen und mit langstieligen Bürsten zu scheuern. Rachel legte ein Kissen auf einen Haufen zusammengeringelter Taue, setzte sich darauf und sah der Arbeit zu. Ihr Gesicht war bleich und übernächtig und düstere Gedanken jagten wild durch ihr Hirn. Die glückliche Unwissenheit der Leute, die sich da mit aufgestreiften Hemdsärmeln so eifrig ihrer Beschäftigung hingaben, erinnerte sie an ihr eignes Selbst vor kaum Jahresfrist, als sie noch in ihres Bruders Hause lebte und jeder Tag seine stetig wiederkehrenden Pflichten hatte. Ihre Seele und ihre Sinne lagen damals noch im Schlummer und ihr Ideenkreis war ein enger, beschränkter. Sie hatte zu jener Zeit von den Freuden und Leiden derjenigen, welche vom Baume der Erkenntnis gegessen, noch keine Ahnung gehabt, und jetzt begann sie darüber nachzudenken, wie ihr Leben sich wohl gestaltet haben würde, wenn sie Walther nie gesehen hätte. Sie würde dann, Simons Willen folgend, einen strenggläubigen Juden geheiratet, ihm vielleicht Kinder geschenkt, diese in der Furcht vor dem Gotte Israels erzogen haben, und wäre geachtet und geehrt worden, wie jüdische Mütter von unbescholtenem Rufe geachtet und geehrt werden. Die Religion ihrer Väter erschien ihr plötzlich heilig und ehrwürdig; die patriarchalischen Sitten und Gebräuche, welche ihr oft langweilig und lästig geworden, kamen ihr jetzt in ihrer alttestamentarischen Einfachheit hoch und herrlich vor, die historische Würde ihrer Rasse, von der sie so viel gehört, die sie aber nie empfunden hatte, erschien ihr jetzt, nachdem sie ihren Anspruch daran verloren, nur um so erhabener.

Rachels Entschlüsse waren, als Walther gegen zehn Uhr auf Deck erschien, gefaßt. Sie wollte ihrem vergoldeten Käfig bei nächster Gelegenheit entfliehen und das übrige dem lieben Gott überlassen, aber sie teilte Walther, der in ziemlich verdrießlicher Stimmung schien, von diesem Plane nichts mit. Sie hatte noch nicht Erfahrung genug, um zu wissen, daß junge Männer am Morgen nach einer Festlichkeit selten guter Laune sind, sondern nahm seine Stimmung als gegen sie gerichtet auf. Als das Frühstück vorüber war, sandte er einen von den Schiffsleuten ans Land, um die neuesten Zeitungen holen zu lassen, und brachte dann den Rest des Vormittags stumm, rauchend und lesend zu. Rachel war froh, in ihren Gedanken und Zukunftsplänen nicht gestört zu werden, und doch fühlte sie sich durch Walthers zur Schau getragene Gleichgültigkeit verletzt. Obgleich sie sich sagte, daß sie sich nicht umstimmen lassen dürfe, war es ihr schmerzlich, daß er seine Bitten von gestern abend nicht wiederholte. Der Gedanke, wie öde, leer und freudlos ihr Leben ohne ihn sein würde, erschreckte sie, aber sie hatte sich fest vorgenommen, daß es kein mit Schande bedecktes sein solle, wie es mit ihm sein mußte. Rachel war keine schwache Seele, die sich durch das Gefühl der Sünde beugen ließ und sich für ewig befleckt glaubte; ihre Empfindung war vielmehr die verletzter Würde, und diese richtete sie auf und machte sie stark, anstatt sie zu lähmen. Sie hatte einen Irrtum zu bereuen, keinen Verlust an Ehre und Reinheit zu beklagen. Armes Kind! Sie wußte nicht, wie die Welt solche Irrtümer beurteilt, und ihr guter Stern behütete sie davor, es je an sich selbst zu erfahren.

Es war gegen sechs Uhr nachmittags und Rachel saß noch immer über ihre Zukunft brütend da, als Walther im Gesellschaftsanzuge die Treppe herauf kam, ein Boot bestieg und sich nach der »Lady Fairfax« hinüberrudern ließ. Er sah so ruhig und unbewegt aus wie eine Sphinx, wenn auch ein bißchen niedergeschlagen – und dieser Ausdruck wurde durch seinen wie gewöhnlich etwas schlaff herabhängenden Schnurrbart nur noch verstärkt. Sein blondes Haar war in der Mitte gescheitelt, jeder Teil seines Anzuges zeugte vom besten Geschmack – es ließ sich nicht leugnen, er sah sehr »distinguiert« aus. Rachel fühlte in diesem Moment, daß sie ihn gleichzeitig haßte und liebte – aber die Augen waren ihr jetzt geöffnet; sie sah sich auf dem Wege zum Abgrunde, und wenn sie selbst nicht die Kraft besaß, sich zu retten – von ihm hatte sie keine Hilfe zu erwarten. Er würde nicht eine Thräne für sie gehabt haben, wenn sie die abschüssige Bahn, vollends hinabgeglitten wäre, auf die er sie gebracht hatte.

Mit einem feierlichen und festen Entschlusse stand sie auf und begab sich, nachdem sie hastig ein kleines Mittagmahl eingenommen, nach ihrem reich und zierlich eingerichteten Schlafzimmerchen. Hier kniete sie vor ihrem Bett nieder und betete zu dem Gotte Israels. Sie bat ihn, Erbarmen mit ihrer Schwäche zu haben und ihr die Kraft zu verleihen zu einem würdigen Thun. Plötzlich fühlte sie ihren heißen Kopf erleichtert – Thränen traten in ihre Augen und sie thaten ihr wohl. Sie empfand etwas wie Vertrauen auf die Zukunft, und als sie dann die Treppe hinaufstieg und einem von der Schiffsmannschaft gebot, sie ans Land zu rudern, fühlte sie sich von dem kräftigen Willen beseelt, den Kampf mit der Welt aufzunehmen.

Am Lande angekommen, begab sich Rachel sofort nach dem Bahnhofe, fand aber zu ihrem nicht geringen Schrecken, daß sie nicht Geld genug hatte, um eine Fahrkarte nach New York zu lösen. Sorgfältig studierte sie nun die verschiedenen an den Wänden aufgehängten Fahrpläne und überzeugte sich, daß, wenn sie zu Fuß bis nach der nächsten, einige Wegstunden entfernten Stadt ginge, sie dort ein Billet zu sehr ermäßigtem Preise bekommen könne. Sie beschloß, sich auf den Weg zu machen, denn zum Glück hatte sie sich nur mit geringem Gepäck beschwert. Sie hatte es verschmäht, von allen den Dingen, die Walther ihr geschenkt hatte, etwas mit sich zu nehmen, ja selbst das Kleid, welches sie trug, war eines von denen, die sie mitgebracht hatte.

Die Sonne war bereits untergegangen, aber es war noch hell, als Rachel ihre Wanderung begann. Ein Wegweiser zeigte ihr die Straße und sie hoffte, die Stadt noch vor völligem Einbruch der Nacht zu erreichen – doch schon, nachdem sie eine Stunde gegangen war, fingen ihre Glieder an zu schmerzen und sie mußte langsamer gehen. Der blasse Neumond war inzwischen am Himmel heraufgestiegen und in seinem Schimmer setzte sie sich an der Straße nieder, um einige Minuten auszuruhen. Aber noch hatte sie nicht lange gesessen, als sie zwei Männer mit Stöcken in den Händen und Bündeln über den Schultern des Weges daher kommen sah. Geängstigt stieg Rachel über die Einzäunung, um sich jenseits derselben im hohen Grase zu verbergen Das Herz schlug ihr bis an den Hals, als sie die Schritte der Männer näher und näher kommen hörte, und sie wagte kaum noch zu atmen, als ihre lauten Stimmen und ihr rauhes Lachen deutlicher hörbar wurden. Erst fünfzehn Minuten nachdem es in der Ferne verklungen, erhob sie den Kopf – die Straße lag soweit ihr Auge reichte, wieder in der früheren Einsamkeit vor ihr. Sie griff nach ihrem kleinen Handkoffer und machte sich mutig auf den Weg. Aber immer öfter mußte sie das leichte Gepäckstück aus einer Hand in die andre nehmen, und nachdem sie eine weitere halbe Stunde gegangen, wurde es so schwer, daß sie in Versuchung kam, es im Straßengraben zurückzulassen. Alle zehn bis fünfzehn Schritte mußte sie stehen bleiben, um Atem zu schöpfen; ihre Kniee zitterten und sogar ihr Kopf war so schwer, daß sie ihn kaum noch aufrecht zu halten vermochte.

Noch einmal setzte sie sich am Wege nieder, um zu überlegen. Die Stadt konnte ihrer Meinung nach nicht mehr allzu fern sein; wenn sie eine Stunde ausruhte, vermochte sie den Bahnhof noch immer vor Mitternacht zu erreichen, und wahrscheinlich gingen während der Nacht mehrere Züge nach New York ab. Trotz ihrer körperlichen Erschöpfung fühlte sich Rachel keineswegs mutlos. Die gehobene Stimmung, in welche das Gebet sie versetzt, war noch nicht geschwunden, und sie hatte eine dunkle Empfindung, als müsse ihr direkte Hilfe vom Himmel kommen.

So saß sie, den Kopf in die Hand, den Ellbogen auf ihr Köfferchen gestützt, vielleicht eine halbe Stunde und kämpfte gegen den Schlaf, der sie zu überwältigen drohte. Endlich fielen ihr, trotz alles Sträubens, die Augen zu und sanft glitt sie eben in das Traumland hinüber, als eine leise Berührung ihrer Schulter sie aufschreckte. Sie blickte empor und sah eine elegant gekleidete Dame und einen Herrn vor sich stehen. Die Gesichter kamen ihr sogar in diesem Dämmerlichte seltsam bekannt vor, aber sie bedurfte einiger Augenblicke, um ihre Gedanken vollständig zu sammeln.

»Mein liebes Kind,« sagte die Dame, die ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte, »Sie dürfen hier nicht schlafen. Sie würden sich erkälten und das Fieber bekommen.«

»Mrs. Wellingford,« flüsterte Rachel fast unwillkürlich, während eine tiefe Röte in ihre Wangen stieg.

»Rachel Löwenthal!« rief Alma zurückfahrend und den Arm ihres Mannes ergreifend. Sie hatte mit tiefem Bedauern von dem Verschwinden Rachels gehört und sie längst tot geglaubt.

»Ja, ich bin es,« sagte Rachel mit einem Tone, in dem sich Schmerz und Trauer ausdrückte. »Ich wollte nach der Stadt; aber ich bin so müde und fürchte, ich komme nicht mehr zu dem New Yorker Zuge zurecht.«

»Und wo sind Sie bis jetzt gewesen, Miß Löwenthal?« fragte Alma mit wiedererwachender Teilnahme. »Ihre Freunde haben Sie als tot betrauert.«

Rachel bedeckte ihre Augen mit der Hand, gab jedoch keine Antwort.

»Verzeihen Sie mir, ich wollte Sie nicht verletzen oder betrüben,« rief Alma.

»Sie verletzen mich durch Ihre Frage nicht,« entgegnete Rachel entschlossen, indem sie ihre großen schwarzen Augen auf Mrs. Wellingfords Gesicht richtete. »Ich bin bei Ihrem Bruder Walther gewesen. Er hatte mir versprochen, mich zu heiraten – und – und, ich liebte ihn,« setzte sie mit bebenden Lippen hinzu, indem sie von neuem ihr Gesicht verhüllte.

Wellingford, welcher bemerkte, daß sie im Begriff stand, umzusinken, sprang hinzu und fing sie in seinen Armen auf.

»Glauben Sie, daß Sie, auf meinen Arm gestützt, eine kleine Strecke gehen können?« fragte er ernst, doch gütig. »Mrs. Wellingford wird Sie am andern Arme führen, und das Haus meines Vaters ist kaum eine halbe Stunde von hier. Sie müssen diese Nacht bei uns bleiben, und ich werde Sie morgen, wenn Sie wohl genug dazu sind, nach der Stadt begleiten.«

»Sie sind so gut und so freundlich gegen mich,« murmelte Rachel, indem sie sich an den Arm Wellingfords hing, der sich gleichzeitig ihres Koffers bemächtigte. Alma schlang ihren Arm um Rachels Schulter, blickte ihr voll inniger Teilnahme ins Gesicht und küßte sie voll herzlicher Zärtlichkeit auf die Wange.



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