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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Mrs. Shelfer.

 

Endlich war der Abschied von den besten Menschen, die ich kenne, und welche das Interesse des Lesers in viel höherem Grade verdienen als ich selbst, vorüber, und ebenso die dunkle Fahrt durch die Haide mit des Pächters vergeblichen Redeversuchen, die er anstellte, um uns Beide zu zerstreuen. In seinen ehrlichen Augen glänzten Thränen, die er kaum zu verbergen strebte, aber auch nicht durch Fortwischen auffällig machen wollte, und immer wieder bat er uns um häufige Nachrichten, welche Sally jetzt schon entziffern könne, wenn sie groß und deutlich geschrieben wären. Wie oft erkundigte er sich bei dem Kutscher nach Allem und befahl ihm drohend, uns und unser Gepäck gut in Acht zu nehmen, wofür er ihm zu Michaelis eine Gans versprach! Diese große Herzensgüte und die mancherlei kleinen Beweise von Fürsorge, mit welchen er die ihm mangelnden langen Abschiedsreden ergänzte, lassen sich mehr fühlen als schildern. Ich habe hier noch zu erwähnen, daß ich dem Pächter trotz seines Sträubens die Hälfte der Summe erstattete, welche er mir in so unvergeßlicher Weise geliehen hatte. Zuletzt forderte er in derselben Vorahnung, die er stets gehabt, nochmals das Versprechen von mir, nach ihm zu senden, wenn ich in irgendwelche Bedrängniß gerathen sollte.

Es war spät Abends, als unser Droschkenkutscher, der höflichste und, wenn man seinen Worten Glauben schenken durfte, auch der ehrenhafteste Mann von der Welt, an Mrs. Shelfer's Hausthür klingelte.

Das Haus lag in einer Nebenstraße nicht weit von einem noch unvollendeten Platz im nördlichen Theile Londons. Mrs. Shelfer, die sofort herauskam, war eine kleine, hagere, flinke und eigenthümliche Person. Ohne uns zu beachten, begann sie sofort mit aller Kraft an den Strängen unserer schwersten Koffer zu reißen, und durch mir unbegreifliche, nur ihr allein bekannte Künste gelang es ihr, dieselben einen engen Gang und drei Stufen hinab in die kleine Küche zu ziehen.

Darauf eilte sie zurück, und fortwährend mit sich selber sprechend, öffnete sie den Wagenschlag, sprang in die Droschke und tastete unter den Sitzkissen so wie an dem Futter umher. Als sie hier Nichts vorfand, kletterte sie auf den Kutschbock, den sie sammt dem Verdeck gründlich durchsuchte. Nachdem sie sich endlich überzeugt hatte, daß Nichts von unseren Habseligkeiten in dem Wagen zurückgeblieben war, drohte sie einigen Knaben, die an der Ecke, in der Nähe der dort befindlichen Stallwohnungen standen, mit der Faust und dann des Pächters großen Packkorb mit beiden Händen ergreifend, zerrte sie denselben bis hinter die Hausthür, worauf sie sich schnurstracks an mich wandte.

»Bitte, meine Beste, wie viel Stücke müssen es sein?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Mrs. Shelfer, Ihre Cousine wird es wohl wissen.«

»Ach, diese Droschenkutscher sind schreckliche Leute, wahrhaft schrecklich!« rief sie, während der Droschenkutscher dabei stand und sich ruhig in die Hände schlug. »Das letzte Mal, als ich nach Barbican ging, da kam einer von ihnen auf mich zu. ›Mrs. Shelfer,‹ sagt er, ›Mrs. Shelfer!‹ sage ich, ›bitte, mein Bester, woher wissen Sie meinen Namen?‹ ›Hoho, ich kenne Charley gut genug,‹ sagt er, ›und einen bessern Kerl giebt's gar nicht.‹ ›Ja, viel zu gut für Euch,‹ sage ich, ›und was beliebt Euch sonst noch?‹ ›Nanu, alte Dame,‹ sagt er darauf so ungehobelt wie ein Stelzfuß, ›Sie haben blos Ihren zweitbesten Regenschirm im Omnibus unter der Bank liegen lassen.‹ ›Das sollte mir einfallen!‹ sage ich. ›Es ist die heilige Wahrheit‹ sagt er, ›und meine Alte hat ihn jetzt.‹ ›Wenn Ihr Euch so lange nicht betrinkt, bis der Schirm sich zu Euch hin verirrt, so brauchte Eure Alte ihre Lichte nicht zu stehlen,‹ und bei diesen Worten lief ich mit meinem weiß garnirten Italiener-Hut gegen die Beine eines aufgehängten Hammels, und es giebt gar keinen schöneren, er ist weiß garnirt, und ich habe ihn nun schon an die zwanzig Jahre.«

»Aber weßhalb thaten Sie das, Mrs. Shelfer?« fragte ich sehr erstaunt.

»Natürlich damit der Schlächter mich hat sehen können, Miß. Sie müssen wissen, er wollte mich nach den Stallwohnungen hinlocken und mich morden, denn ich hatte meinen kleinen waschledernen Geldbeutel mit den Zinsen für Shelfer's doppelläufige Flinte bei mir. Ach,« fügte sie mit einem kurzen Seufzer hinzu, »nächsten Dienstag sind wieder vier Schillinge, neun Pfennig zu bezahlen.«

In dieser Weise unaufhörlich sprechend, ohne eine Antwort abzuwarten, führte sie uns mit der Erklärung in ihre Küche, daß sie oben noch kein Feuer angezündet habe, weil das Kamingitter so schön geputzt sei, und sie nicht genau gewußt habe, ob wir kommen würden. Sie habe aber ein Abendessen in ihrem behaglichen Zimmerchen für uns aufgetragen, »entschuldigen Sie, meine Beste, und es wird Ihnen sicher schmecken, der Sturm in der letzten Woche hat sie so fett gemacht.«

Triumphirend deutete sie auf den Tisch, wo eine große, mit blauen Muscheln angefüllte Schüssel stand.

»Aber, Mrs. Shelfer, das sind ja Mies-Muscheln!« rief ich etwas verächtlich.

»Ach, ich sehe, Sie kennen sie schon; ja, die sind es, und solche schönen, wie Sie noch nie gegessen haben. Charley und ich, wir können einen Viertel Scheffel davon essen, wenn wir uns darüber hermachen. Aber der Mann, dessen Bruder mit Katzenfleisch hausirt, der schieläugige Mann mit dem Karren sagte mir, daß auf dem Grosvenor-Platz solche Nachfrage gewesen, und die Dinger jetzt bei dem Wetter, wo sie fett würden, so schwer zu fangen seien, daß er nur noch ein halbes Viertel übrig habe, die seien aber noch die allerbesten. Nun wollen wir sie jedoch nicht kalt werden lassen, noch sind sie schön heiß, kochend, eben erst vom Feuer gekommen, meine Beste, und wenn Sie erst nach oben gehen wollen, so bringe ich nur einen halben Theelöffel voll Salz, Cousine Anna weiß den Weg, und die Zimmer sind prachtvoll, prachtvoll, Miß Vaughan.«

Am Schluß dieses Satzes richtete sie sich mit einer höchst würdevollen Miene auf; dieselbe aber plötzlich wieder abstreifend, begann sie geschäftig hin und her zu rennen. Jetzt konnte ich sie zum ersten Mal mit Muße betrachten, denn während sie sprach, hinderten ihre kurzen Gedankensprünge meine Beobachtungen.

Sie war klein und schmächtig, und obgleich ihre Züge nicht gerade auffallend waren, so paßten sie doch zu der Wunderlichkeit ihres Wesens. Ohne Zweifel war sie früher hübsch gewesen, ihr Gesichtsausdruck war angenehm, besonders wenn sie für einen Moment ihre lebhaften grauen Augen aufschlug, die sonst meistens hinter den dichten Franzen ihrer Wimpern gesenkt blieben. Der Mangel an Vorderzähnen jedoch, die scharfen Linien und Runzeln, die Verwahrlosung ihres dichten schwarzen Haares, das struppig unter einer schwarzen Haube hervorsah, sowie die Angewohnheit, ihren Mund nach dem Sprechen mit einem Ruck zuschnappen zu lassen – dies Alles beeinträchtigte ihre Ansprüche auf ehemalige Schönheit. Gleich Mrs. Huxtable war sie stets geschäftig, aber es war mehr eine Geschäftigkeit in Worten als in Thaten. Ohne absichtlich unwahr zu sein, wußte sie doch nie eine Lüge von der Wahrheit zu unterscheiden, und begriff nicht, daß Andere hierzu im Stande sein sollten. Deßhalb mißtraute sie Allem und Jedem, bis irgend eine ihrer vorgefaßten Meinungen berührt wurde, dann aber ließ sie sich Alles weis machen.

Ermüdet durch die lange Tagereise und verwirrt von der Eisenbahnfahrt, wie von den blitzschnell wechselnden Reiseeindrücken, konnte ich die Pracht der Shelfer'schen Einrichtung noch nicht recht würdigen. Ich überließ es Ann Maples, die Muscheln zu essen und mit ihrer Cousine zu plaudern, während ich auf den Flügeln des Traumes bald nach dem alten Pachthofe und sogar nach der Heimat meiner Kindheit zurückkehrte.



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