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Zwanzigstes Kapitel.

Zur letzten Ruhestätte.

 

Gewährt es mir gleich eine traurige Befriedigung, bei dieser Zeit zu verweilen, so darf ich es mir doch in Anbetracht der noch vor mir liegenden Erzählung nicht gestatten.

Die prunklose Beerdigung der theuren Mutter führte mich noch einmal an meinen Geburtsort. Auch ohne Mr. Huxtable's großmüthigen und edlen Beistand hätte ich sie neben ihren so treu geliebten Gatten zur Ruhe gelegt. Aber Schwierigkeiten, die zu solcher Zeit besonders hart gewesen wären, hätten mich von allen Seiten gehemmt. Ueberdies wirkte die erwiesene Güte tröstend und lindernd auf mein kummervolles Herz und führte mich durch das Dunkel der Trübsal wie Gottes Hand.

Ohne mich viel darum zu kümmern, was die Leute sagen oder denken mochten, folgte ich nur meinem Gefühl. Die Stimme der Natur gebot mir, die Ueberreste der Theuren zu begleiten.

Jetzt blickte ich zum letzten Mal auf das Antlitz und die Gestalt meiner Mutter. Sie, mit der ich gespielt, geschäkert und gelacht habe (letzteres freilich schon lange nicht mehr), die mich genährt und gepflegt hat, bis sie selber meiner Pflege bedurfte, an deren Seite ich die ersten schwankenden Schritte versuchte, deren Arme mich stets umfingen, wenn ich weinte und deren Busen der Hafen für die Stürme meiner Kindheit gewesen, die Erste, welche mich Morgens mit Lächeln begrüßte und die Letzte, die mich Abends mit Thränen segnete, die stets liebevoll war und sich niemals beklagte – ein Wort für tausend, meine Mutter – wie ist sie jetzt so weit, so hoffnungslos weit von mir entfernt! Da ist sie freilich, ich kann sie berühren, küssen, umarmen, und doch ist es nur ein so geringer Rest von ihr und selbst dieser Rest nicht mehr mein. Sie liegt so feierlich und ruhig da, liebevolle Güte ruht auf ihrem Antlitz, das mir so nah ist und doch in so geheimnißvolle Weite gerückt! Ich kann sie sehen, sie aber wird mich nie wieder erkennen; ich könnte neben ihr sterben und sie würde nicht weinen. Noch ein Blick – der letzte auf Erden – ich glaube, man mußte mich forttragen.

Ich erinnere mich noch, daß ich den Hügel hinabwankte, gestützt von einem starken Arm.

Der Rückweg nach dem Hause wurde aufgehalten. Zwei Kinder rannten vor mir her; sie blieben mitunter verwundert stehen und liefen dann wieder davon, um Feldblumen zu pflücken. Ein kleines Mädchen brachte mir einen Strauß; als sie ihn mir aber reichen wollte, starrte sie mich eingeschüchtert an. Ich nahm ihre Hand und führte sie ein Stück Weges, wodurch ich etwas ruhiger ward.

Von Zeit zu Zeit schallte die Trauer-Hymne, welche auf dem Weg zum Grabe gesungen wird, feierlich zu uns herüber. Hin und wieder gab Jemand den Text eines Verses, der dann zu einer einfachen rührenden Melodie gesungen ward. Jene alte Hymne, die schon so viel Schluchzen übertönt hatte, drang mir ins Herz.

Wir langten spät gegen Abend des zweiten Tages in Vaughan St. Mary an. Die ganze Reise war für mich ein langer thränenvoller Traum. Mr. Huxtable hatte uns begleitet. Er war noch nie weiter über seine Heimath hinausgekommen, als bis Exeter, und sein einmaliger Besuch dieser Stadt war das Hauptereigniß seines Lebens gewesen. Er versuchte es nicht, mir Trost einzusprechen wie die Anderen; der unwissende Mann verstand es besser.

Allein saß ich an meines Vaters Grab und vor mir war dasjenige meiner Mutter bereitet. Der Todtengräber hatte den Erdhaufen nach der anderen Seite geworfen, um den Grabhügel meines Vaters nicht zu beschädigen. Die arme alte Dörflerin hatte ihr Versprechen treulich gehalten und das Grab glich einem reichen Blumenbeet.

Ueber mein Gemüth schien eine Veränderung gekommen zu sein. Stolz, Trotz und wilde Hingebung an den Schmerz hatten mich verlassen und dumpfe Unempfindlichkeit war an die Stelle des Kummers getreten. Der Tod erschien mir jetzt als der einzig berechtigte Zustand und ich empfand es als ungehörig, daß ich noch lebte. So erwartete ich denn in trüber Ruhe, daß man sie hierher trage, wo sie so oft mit mir gewandelt war. Aber jetzt durfte ich hier noch nicht ausruhen, ich hatte meine Aufgabe erst zu erfüllen.

Die Glocken läuteten schneller, die Schatten wurden länger, und die Kinder, welche auf dem Platze Verstecken gespielt hatten, wo auch sie bald vergeblich zu suchen sein werden, waren verschwunden. Vielleicht hatte meine Anwesenheit sie verscheucht, oder sie waren auch nur zum Thee nach Hause gegangen, um das Schauspiel der Beerdigung nachher nicht zu versäumen. Der Abendwind hatte aufgehört, die Bäume zu bewegen, und der Gesang der Vögel war verstummt. Der Platz war so traurig, wie ich es nur wünschen konnte, der Geruch der frischen Erde erregte die unendliche Sympathie zwischen dem Urstoff und dem Geschöpf.

Ich hatte den Rücken der untergehenden Sonne zugewandt; plötzlich fiel ein Schatten über den rothen Lehm des offenen Grabes. Ohne zu erschrecken und so träumerisch, wie ich jetzt Alles that, erhob ich den Blick. Auf Armeslänge von mir entfernt stand Mr. Edgar Vaughan mir gegenüber. Sofort war das alte Gefühl in meinem Herzen wach, und mein Geist vollständig klar.

Ich sah, daß er bleicher war, als da ich ihn das letzte Mal gesehen, und die Härte seiner Züge war bis auf einen schwankenden Schimmer gewichen, als wenn sich Stahl im Wasser spiegelt. Er nahm den Hut vor mir ab. Ich erhob mich weder, noch sprach ich mit ihm, sondern sah ihn ohne Gegengruß an.

»Clara,« sagte er mit leiser, ernster Stimme, »ich sehe, Du bist noch unverändert. Wird kein Kummer und keine Prüfung von Dem dort droben Deinen eisernen, unerbittlichen Willen beugen?«

Mit einigem Staunen hörte ich seinen Hinweis auf das höhere Wesen, das er sonst nicht anzurufen pflegte; doch gab ich ihm keine Antwort.

»Nun gut,« fuhr er fort, und die ehemalige Kälte verhärtete wieder seine Züge, »so lassen wir es dabei. Ich bin nicht gekommen, Dir Trost zu spenden, den Du verachten würdest. Auch gedenke ich nicht anwesend zu sein, wo Dir mein Anblick verhaßt sein würde. Und dennoch liebte ich Deine Mutter, Clara, ich liebte sie treu und aufrichtig.«

Dies sprach er so bewegt, daß ein neuer Gedanke in mir erwachte. Schnell, wie dieser Gedanke erfolgte seine Frage:

»Möchtest Du wissen, wer Deinen Vater tödtete?«

»Und meine Mutter dazu,« antwortete ich, »deren Sarg ich nahen sehe.«

Der Leichenzug bog um die Ecke des Weges. Die Träger wirbelten den Staub auf. Mein Vormund nahm den Hut ab, und der Schweiß perlte auf seiner Stirn. Spannung, Entsetzen und wilder Kummer stritten in mir, und schwindelnd mußte ich mich auf den Grabstein stützen. Als ich die Augen wieder aufschlug, war Niemand mehr da. Vergebens rief ich sie und blickte um mich, Mr. Vaughan war verschwunden; aber auf dem Rasen zu meinen Füßen lag ein Brief. Ich nahm ihn schnell auf und brach das Siegel. In diesem Augenblick erschien eine weiße Gestalt am Eingang des Kirchhofes. Es war der alte Geistliche, welcher meine Mutter auf dem letzten Pfade aller Menschen begleitete. Die Bibel lag in seiner Hand, und seine Gestalt war hoch und stattlich. Er ging so langsam, daß sein langes, weißes Haar unbeweglich auf seine Schultern herabfiel, während die hehren Worte seines Mundes den Augen einen majestätischen Blick verliehen. Hastig steckte ich den Brief beiseite und folgte dem Zug in die Kirche. Dort stand ich hinter dem alten Taufstein, wo auch ich die Taufe empfangen. Es war eine dunkle, öde Ecke, und sie paßte für mich und meine Stimmung. Sie, die mich einst hergetragen, wurde jetzt hier vorübergebracht, das Bahrtuch wehte in dem kalten Luftzug, und die ganze Welt erschien mir wie eine modrige Gruft. Später jedoch, Angesichts des schönen Hügelabhanges, als der schwachschimmernde Mond sich immer klarer von dem dunkelnden Himmel abhob, mit seinem Scheine die Verheißungen der Unsterblichkeit zu besiegeln schien, und das Grab beleuchtete, um welches sich die entblößten Köpfe Vieler neigten, die schon früher getrauert haben und sich nach kurzer Lust abermals in Trauer beugen werden, bis in dem gleichmäßigen Rundgang der Welt Andere sich neigen und sie hinabgesenkt werden – da empfand ich, daß es etwas Höheres giebt, als »Staub zum Staube.« Ich gelobte mir, mit Ergebung meine Zeit abzuwarten, gleich den anderen Kindern der Menschen, und erinnerte mich, daß keine Welle brechen kann, ehe sie das Gestade erreicht hat.



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