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Freundliche Erkundigungen.
Als der Arzt kam, fand er zwar keine Glieder gebrochen, aber die Erschütterung des Gehirns und des ganzen Organismus so bedeutend, daß er uns nur unter der Bedingung der vollkommensten Ruhe einige Hoffnung auf Besserung gab. Meine Mutter sagte, daß die Vorsehung es wohl bestimmen werde, ob sie noch länger zur Bewachung ihres Kindes nothwendig sei.
Einige Tage darauf konnte sie, freilich nicht ohne meine Führung, die Treppe hinuntergehen, und wir betteten sie auf das ärmliche Sopha. Sie schien jetzt wieder ruhig, zufrieden und so glücklich, wie sie es überhaupt noch sein konnte. Sobald sie die Blicke von mir wandte, beobachtete sie mit weitgeöffneten Augen das Leben und Weben der Natur. Besonders pflegte sie durch das offene Fenster auf eine große Spinne zu sehen, welche sich zwischen den Corchorus-Blüthen wacker abmühte. Eines Tages wollte sie einen zu langen Faden spinnen und fiel. Hierdurch ward in der Erinnerung meiner Mutter eine Saite berührt, und ohnmächtig sank sie in die Kissen.
Trotz solcher Symptome gab ich mich der thörichten Hoffnung hin, daß sie ihre Kräfte wieder gewinnen werde. Zweimal ging sie mit mir an sonnigen Nachmittagen spazieren. Doch lange konnte ich mich nicht täuschen, und es ward selbst mir bald offenbar, daß sie in nicht gar langer Zeit bei meinem Vater sein werde.
Unfähig gegen diese schreckliche Wahrnehmung noch länger anzukämpfen, unterwarf ich mich derselben in wilder Verzweiflung und gänzlicher Muthlosigkeit, die Welt und das Jenseits verachtend. Dies entdeckte sie sehr bald, und ich fürchte, daß es ihr Ende getrübt hat.
Es war ihr auch eine Enttäuschung, Demjenigen nicht danken zu können, der sein Leben für uns gewagt hatte. Niemand wußte, was aus ihm geworden, obgleich der Pächter auf unsere Bitten alle umliegenden Dörfer nach ihm durchsucht hatte. Die Wirthin zum Hirsch (ein nicht weit von der Unglücksstätte befindliches Gasthaus) erzählte, daß ein Fremder in großer Eile zu ihr gekommen sei. Als er durch sie erfahren habe, wer wir wären (denn sie hatte uns eine Stunde früher vorbeigehen sehen) da hätte er ihren Jungen nach der Farm geschickt, um einen Wagen zu bestellen, während er selber wieder schleunigst zurückgerannt sei, um den Geretteten beizustehen. Ferner stellte es sich noch heraus, daß dieser Fremde uns in den Karren hineingeholfen und dabei die zarteste Sorgfalt bezeigt hatte, die Stöße des Gefährtes zu vermindern. Er selber hatte sodann das alte Pferd geführt, um dessen Vorliebe für die tiefsten und härtesten Geleise zu durchkreuzen. Um die Zeit, als unser langsames Fuhrwerk die Farm erreicht hatte, kehrte Mrs. Huxtable ohne eine Ahnung von unserem Unfall aus dem Obstgarten im unteren Thale zurück. Unser Führer war, sobald er uns gut bei ihr aufgehoben sah, fortgegangen, ohne ein Wort zu sagen, und sie war auch noch zu erschreckt und aufgeregt gewesen, um sich viel um ihn zu bekümmern.
Ebensowenig war die Gastwirthin im Stande, ihn zu schildern. Sie war zum Tode erschrocken, als sie gehört hatte, daß wir die ganze große Schlucht kopfüber hinuntergefallen seien, wie sie unsere etwa fünfzig Fuß Gut 15 m. weite Rutschfahrt nannte.
»Das waren seine eigenen Worte,« sagte sie, obgleich sie kurz vorher angegeben hatte, daß er ein Ausländer sei und nicht englisch sprechen könne. Da ich aber wußte, daß in Devonshire jeder Fremde für einen Ausländer gilt, und unter Englisch nur der Dialekt jener Gegend verstanden wird, so legte ich nicht viel Gewicht auf diese Erklärung. Was nun noch den letzten Zeugen, den Jungen betraf, welcher mit dem Karren gekommen, so war derselbe so dumm, daß er nichts weiter beschreiben konnte, als ein dreimaliges großes O mit Mund und Augen.
Doch eine Beschreibung war auch für mich überflüssig. Ich hatte jenen Fremdling unter solchen Umständen gesehen, daß ich ihn zu jeder Zeit wiedererkennen mußte.
Am Tage darauf und noch einmal im Laufe der nächsten Woche wurden freundliche Erkundigungen über unser Befinden durch Zettel eingezogen, welche von Bauernjungen gebracht wurden. Doch waren sie weder unterzeichnet, noch konnten die Jungen uns Auskunft über den Frager geben. Der erste Bote kam von Lynmouth, der zweite von Ilfracombe. Keiner von den Burschen wußte auf Mrs. Huxtable's gründliches Kreuzverhör etwas Anderes zu antworten, als daß er für den Gang bezahlt sei, aber ein Glas Cider annehmen würde, und daß die Antwort auf den mitgebrachten Zettel geschrieben werden soll.
Ob nur ein übertriebenes Zartgefühl oder sonst eine Ursache ihn zum Verschweigen seines Namens veranlaßte, ob es absichtliche Verheimlichung oder nur Gleichgültigkeit gegen unsere Dankbarkeit war, klärte sich nicht auf. Ich bin durchaus nicht neugierig, wenigstens nicht mehr als andere Frauen, doch brauche ich wohl kaum zu versichern, daß durch diese seltsame Zurückhaltung meine Neugierde (abgesehen von besseren Gefühlen) ein wenig gereizt ward.
So hatte ich denn außer der Aufgabe, den Mörder meines Vaters zu suchen, auch noch die Verpflichtung, den muthigen Freund aufzufinden, der meine Mutter errettet hatte.