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Bescheidene Freunde.
» Weithin schattender Tod« lautet ein Dichterwort. Wie gut verstehe und fühle ich dies nach. Je näher er kommt, desto tiefer wird das Dunkel vor ihm, und eine unabsehbare Finsterniß zieht sich jahrelang hinter ihm her.
Einst hatte ich mich erkühnt, zu glauben, daß kein Schicksalsschlag jemals meinen entschlossenen Willen unterdrücken oder auch nur beugen könne. Jetzt erkannte ich meinen Irrthum, und es war mir nicht einmal der Mühe werth, darüber nachzudenken.
Am Morgen nach dem Tode meiner Mutter wanderte ich umher ohne zu wissen, wohin ich wollte. Die Leidenschaft, mit der ich während der öden schlaflosen Nacht umklammert hatte, was mir noch von ihr geblieben, die eifersüchtige Verzweiflung, die nicht dulden wollte, daß irgend ein anderer sich ihr nahte – sie hatten sich jetzt in dumpfe Schwermuth verwandelt, und ich wollte Nichts, als daß man mich allein ließ.
Alle Plätze, wo meine Mutter und ich zusammen geweilt hatten, suchte ich auf und wußte nicht weßhalb; vielleicht um zu sehen, ob sie dort sei. Fand ich mich dann in meinem Traume enttäuscht, so begann ich den trostlosen Rundgang von Neuem.
Ich habe es nicht ganz deutlich in der Erinnerung, doch glaube ich, daß es noch am selben Tage war, als ich in einer Ecke des Zimmers saß und auf die Stelle blickte, von der man meine theure Mutter fortgeholt hatte. Ann Maples und Mrs. Huxtable kamen herein, gefolgt von dem Pächter, der seine Schuhe an der Thür ausgezogen hatte. Sie sahen mich nicht, es muß also wohl schon am Abend gewesen sein. Sie waren gekommen, um das Sopha hinauszutragen.
»Ja freilich,« sagte Mrs. Huxtable, mit einem kurzen Seufzer darauf hinsehend.
Es war seltsam, daß es mir in dem Moment auffiel – Alles, was sie that, war kurz.
»Schaffen Sie es ihr aus den Augen. Das arme liebe Kind!« sprach Ann Maples.
»Es ist schrecklich, mit anzusehen, wie sie dasitzt und es anstarrt!« rief die Pächterin.
»Ja, mit so trockenen stieren Augen und so unbeweglich,« erwiderte die Andere.
»Das arme Kind muß sich schon ganz ausgeweint haben. Ich habe gesehen, wie sie stundenlang das Bett anstarrte, auf dem ihr Vater umgebracht worden; das war aber ein ganz anderer Blick als dieser.«
»Ach ja, sie hat eine gute Mutter verloren,« sprach Frau Huxtable. »Gebe Gott, daß meine armen Küchlein nicht einmal so wie sie zurückbleiben mögen!«
»Was sind Ihre Kinder, daß Sie von ihnen und Miß Clara zu gleicher Zeit reden?«
Mrs. Huxtable hatte schon eine gereizte Antwort auf der Zunge, doch bezwang sie sich und sagte nur:
»Alle Mütter haben ihre Kinder gleich lieb, ob hoch oder niedrig.«
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen,« erwiederte Ann Maples, die nie Kinder gehabt hatte.
Der Pächter trat, auf den Fußspitzen gehend, zwischen sie.
»Um Gotteswillen, veruneinigt Euch doch nicht zu einer solchen Zeit. Ich bin nicht geschickt im Predigen, und es mag sein, daß ich gern ein Tröpfchen nehme, wenn das Wetter es gerade mit sich bringt. Aber das hübsche braune Füllen, das ich eben erst habe zureiten lassen, würde ich an einen Zigeuner verkaufen und ihm das Geld anvertrauen, wenn die liebe junge Dame dazu gebracht werden könnte, Trost bei unserm lieben Herrgott zu suchen. Kann denn keine von Euch beiden Frauen mit ihr darüber reden? Bitte, versucht es doch einmal!«
»Wie könnte ich das wohl wagen?« rief seine Frau; »ich glaube, Pächter, Du bist nicht recht bei Trost. Eine so hochgeborene junge Dame, und die heißen Thränen noch in ihren Augen!«
»Gerade darum, Frau; darum ist es die rechte Zeit. Aber vielleicht ist Mrs. Maples die beste Person dazu.«
»Danke, mein Herr,« erwiderte meine Wärterin. »Mrs. Maples weiß besser, was sich schickt. Mrs. Maples ist nicht in Devonshire geboren.«
»Ich bitte um Entschuldigung, Madame,« sprach der Pächter sehr betreten, »ich bitte höflichst um Entschuldigung; ich habe es nicht besser gelernt. Ich kann nur sagen, was ich vor mir gesehen habe und wie es mir passend däucht. Und wir Landleute wissen, wenn ein Kälbchen von der Mutterbrust genommen wird, daß sich die arme kleine Kreatur bei Andern nach ihrem Futter umsehen muß. Wenigstens kann man ihr es ja freistellen.«
Bei diesen Worten öffnete er die Bibel meiner Mutter und legte sie ehrerbietig auf das Fensterbrett. »Frau, denkst Du noch daran, als die arme Muhme Betsy drüben zu Rowley Mires starb?«
»Freilich, aber was hat die hiermit zu thun? Wir, die wir so unglücklich sind, in Devonshire geboren zu sein, dürfen wahrscheinlich so wenig von ihr wie von den Kindern sprechen. Pfui, Du solltest Dich schämen, die Muhme Betsy zu nennen, wenn von einer Dame die Rede ist. Und noch dazu vor so feinen Leuten.«
Hierauf machte sie Ann Maples einen Knix; es funkelte hell in ihren Augen und sie rieb dieselben scharf mit der Schürze.
»Nun, nun,« erwiderte der Pächter traurig, »ich will nicht widersprechen, es mag wohl so sein.« Er schwieg; doch nach einiger Ueberlegung fügte er hinzu: »aber sie war doch auch ein Frauenzimmer.«
»Wer sagt denn, daß sie ein Mann gewesen, Du Hanswurst?«
Mrs. Huxtable war enttäuscht, daß der Fall nicht erörtert werden sollte. Der Pächter gab dem Gespräch klüglich eine andere Wendung.
»Wenn es auf mich ankäme,« fuhr er fort, »so würde ich nicht daran denken, dem armen Kinde das Schlafsopha dort fortzunehmen.«
»Warum nicht Pächter?« fragte Mrs. Huxtable scharf. »Gieb mir nur einen Grund an, es hier zu lassen und ich will Dir zehn anführen, es fortzunehmen.«
»Ich weiß keinen Grund zu sagen. Vielleicht ist es ihr noch ein kleiner Trost.«
»Ein rechter Trost,« sagte seine Frau. »Eher kann ihr das Herz noch darüber vor Weinen brechen. Komm lieber her, alter Vierschröter, und lege Hand mit an. Was weiß denn ein so großes Dromedar, wie Du, von jungen Mädchen!«
Jedenfalls wußte er mehr davon als sie. In dem Augenblick, als sie das Sopha anrührten, stürzte ich aus meiner Ecke hervor und warf mich darüber, als sollte ich in einem Schmerzensausbruch vergehen. Was sie sprachen, weiß ich nicht, sie mochten sagen, was sie wollten, ich hatte bis jetzt noch nicht geweint.
Am folgenden Tag saß ich matt und abgestumpft da und versuchte wiederum an die Bestattung meiner Mutter zu denken. Aber immer von Neuem lehnte sich die Schwachheit meines bekümmerten Herzens dagegen auf. Die Hausgenossen hielten sich von mir fern. Mrs. Huxtable hatte ihr Möglichstes versucht, doch wußten sie, daß ich am liebsten allein war.
Da wurde die Thüre leise geöffnet, und schüchtern trat Jemand herein. Ich fand die Störung unbescheiden und wollte nicht hinsehen.
»Liebe Miß Clara,« hub der Pächter flüsternd an, während er hinter meinen Stuhl trat; »ich bitte demüthig um Verzeihung, daß ich mir erlaube, Sie so zu nennen. Wir haben nämlich heuer sehr fruchtbares Wetter gehabt.«
Ich antwortete nicht, denn ich war ärgerlich über seinen, zur Unzeit angebrachten Gemeinplatz.
»Mit Verlaub, Miß, so viel Lämmer hat's noch niemals gegeben, und die schönen Rüben im letzten Winter! Korn, Heu und alle Vorräthe haben noch nie so gut im Preise gestanden. Alle Pächter hier herum haben sich schon ein Vermögen erworben.«
»Es freut mich zu hören, Mr. Huxtable, daß Sie so gut vorwärts kommen,« erwiderte ich sehr kühl.
»Ja, wahrhaftig, Miß, die Zeiten sind erstaunlich günstig, wir wissen fast nicht, was wir mit all' dem Gelde anfangen sollen.«
»Kaufen Sie sich dafür gute Lebensart und Takt,« sprach ich, »anstatt Ihr Glück mir in meiner Lage vorzuhalten.«
Wie wenig kannte ich ihn! Werde ich mir diese Worte jemals verzeihen können?
»Von Herzen gern würde ich das thun,« antwortete er traurig. »Aber solche Dinge müssen Einem angeboren werden, fürchte ich, Miß Vaughan.«
Der arme alte Bursche! Er wußte Nichts von Ironie, wie wir, denen der Takt angeboren ist, sonst hätte ich dieselbe hinter seiner Rede vermuthen können.
Er wünschte mir plötzlich einen guten Abend, obgleich es erst Mittagszeit war, und schritt auf die Thür zu, doch hier kehrte er mit einem verzweifelten Entschluß wieder um und sprach schneller als sonst, während er die ganze Zeit auf seine Füße niedersah:
»Ja, ich weiß nicht hin oder her. Wenn ich nur wüßte, wie ich's herausbringen soll, Miß Clara, aber die Frau meint, ich soll es dreist sagen. Nicht wahr, Sie nehmen das dumme Geld, Sie sind auch ein gutes Kind, und sein Sie nur ja nicht böse, denn ich kann Nichts dafür.«
Er öffnete seine große Hand, die in der That zitterte, und eilig legte er ein in Papier gewickeltes Päckchen auf das Sopha. Plötzlich aber besann er sich, bückte sich schnell wieder darnach, nahm es und warf es auf einen Brettstuhl, wo es klirrend auseinander fiel; das Band hatte sich gelöst, und es rollten mindestens 40 Guineen Britische Goldmünze, deren Wert 21 Schilling, also 1 Pfund und 1 Shilling betrug. Für 1 britisches Pfund bekam man im 19. Jh. 20 deutsche Mark. Die Kaufkraft von 1 Pfund des Jahres 1880 entspricht ca. 100 Pfund der Gegenwart, d.h. gut 128 Euro. Die damaligen 40 Guineen entsprächen also einer Kaufkraft von heutigen gut 5120 Euro. Da da wir uns gegenwärtig im Roman erst im Jahre 1850 befinden, ergäbe sich noch ein bedeutend höherer Wert. und eine Anzahl Kronenthaler Die britische Münze » crown« hatte den Wert von 5 Shilling, also ¼ Pfund. heraus.
Sofort rief ich ihn in entschiedenem Ton zurück, denn er rannte schon aus der Thür.
»Mr. Huxtable, was hat dies zu bedeuten?«
»Bedeuten, Miß! Lieber Gott, zu bedeuten hat es gar Nichts, Miß Clara; mir ist nur in der Nacht, als ich nicht schlafen konnte, eingefallen, und ich bitte demüthig um Vergebung dafür, Miß, daß Sie wohl wünschen möchten, und die gute, selige Dame würde es gewiß selber gerne sehen, wenn ich so sagen darf, weil es sich doch nicht recht paßt, dünkt mich, daß sie wo anders begraben liegen soll, als zur Seite ihres Eheherrn, Mr. Henry Valentine Vaughan, Esquire, Vaughan Park in der Grafschaft Gloucestershire. Da geht's mir wahrhaftig gerade so, wie dem Beany Dawe.«
Er wiederholte seinen Reim etwas erleichtert, in der Hoffnung dem Gespräch dadurch eine andere Wendung zu geben. Ich ergriff seine beiden Hände und brach in Thränen aus.
»Oh, nicht doch,« sprach er mit erstickter Stimme; »lassen Sie es doch gut sein, liebes Kindchen, das heißt – es mag Ihnen vielleicht wohlthun.«
»Es thut mir in der That wohl,« schluchzte ich, »daß ich noch ein so gutes Herz auf der Welt gefunden habe, wie das Ihre.«
So sehr ich mich auch sehnte, ihm in das Gesicht zu blicken, unterließ ich es dennoch. Oh, warum schämen die Männer sich edler, männlicher Thränen?
Als er bemerkte, daß ich nicht sprechen konnte, begann er für uns Beide zu reden und erging sich in hundert verlegenen Entschuldigungen. Er versuchte mir seine Kenntniß meiner Armuth zu verbergen, indem er vorgab, daß er nur eine schon lange Jahre schuldige Pachtsumme abzahle. Er war durchaus kein erfinderischer Kopf, aber das Zartgefühl verlieh ihm Fantasie. So tief sind in England alle Klassen von dem Gefühl durchdrungen, daß der Mangel an Geld eine erniedrigende Beschuldigung ist. Arm oder reich wäre ich zu verachten gewesen, wenn ich den kleinlichen Stolz gezeigt hätte, ein solches Darlehen zurück zu weisen.
Die Thränen traten mir von Neuem in die Augen, als ich entdeckte, daß die mir so bereitwillig gebotene Summe aus den Ersparnissen jahrelanger ehrlicher Arbeit bestand, welche Thatsache die Geber dadurch zu verheimlichen gesucht, daß sie die alten Münzen geputzt hatten. Die guten Seelen waren aber nicht im Gold- und Silberpoliren geübt, und es war etwas Putzstein an den Wappen haften geblieben.