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Achtzehntes Kapitel.

Der zweite traurige Verlust.

 

Für jetzt aber sollten alle Gefühle und Leidenschaften: Neugierde, Dankbarkeit, Haß – kurz Alles bis auf die Kindesliebe und die tiefste Trauer in mir erstickt werden. Tag für Tag erschien mir die Gegenwart der theuren Mutter schattenhafter, und jeden Abend ging sie schwächer zur Ruhe. Morgens freilich hatte sie wieder etwas Kräfte gesammelt; es waren aber nur so flüchtige Kräfte, wie sie eben ein so abgezehrter Körper besitzen konnte. Dann verliehen auch die frische Luft und die helle Maiensonne ihren Wangen den Schein von Gesundheit. Doch fühlte ich mich jetzt nie mehr versucht, meinen Arm um sie zu legen und sie wegen ihrer feinen mädchenhaften Taille zu necken und ebenso wenig konnte ich ihr fröhlich in die Augen sehen und ihr sagen, wie viel hübscher sie sei als ihre Tochter. Diese kleinen Freiheiten, welche sie mir mit weit mehr mütterlicher Zärtlichkeit als matronenhafter Würde so lange gestattet hatte, wurden jetzt, da sie dieselben noch erwartete, und ich nicht das Herz hatte, sie mir zu nehmen, zu einer steten Quelle des Kummers. Selbst des Abends, wenn ich ihr das einfach gescheitelte braune Haar flocht und daran dachte, wie kurze Zeit ich ihr diesen gewohnten Dienst noch zu leisten haben würde, kostete es mich oft Mühe, zu verhindern, daß sie meine Thränen im Spiegel sah oder sie an meiner Stimme entdeckte. Sie selbst wußte recht gut, daß ihr Ende bevorstand. Sie fühlte, wie bald sie mir ein Schutzengel anstatt einer Mutter sein würde und ihr letzter Kummer war, daß sie mich nicht überzeugen konnte, wie gering der Unterschied zu erachten sei. Sie sprach so ruhig, sanft und heiter von ihrem Ende (freilich sah sie mich aus Furcht, wir möchten Beide in Thränen ausbrechen, nicht dabei an), als wenn sie einen Garten zu besuchen gedächte und mir Blumen daraus zuwerfen wolle. Und wenn ich dann bitterlich zu schluchzen begann, bat sie mich um Vergebung, als habe sie mir ein Unrecht zugefügt und sie grämte sich über die mir nach ihrem Tode bevorstehende Einsamkeit, als sei es ihre Schuld, daß sie mich verlassen mußte.

Blicke ich auf jene Zeit zurück und bedenke, wie wenig ich mich bemüht habe, meinen leidenschaftlichen Schmerz vor ihr zu verbergen, so verdamme ich mich und finde es dennoch verzeihlich.

Die ganze Natur erfreute sich junger sommerlicher Kraft, und es regte sich kaum ein Lüftchen, um dem Konzert der Vögel die Blätter umzuschlagen. Der weiße Hagedorn war so ruhig wie der Tod guter Menschen und die stille Freude rings umher stimmte zur Wehmuth, als wir, Mutter und Kind, zum letzten Mal mit einander sprachen und die Blicke auf den Abschiedsgruß der untergehenden Sonne richteten.

Das Zimmer unter dem Strohdach war im Sommer dumpfig und ich hatte deßhalb das Sopha unten als Bett für meine Mutter hergerichtet. Das verzehrende schleichende Fieber war vorüber, der lästige Husten erschöpft und die Röthe von ihren Wangen gewichen, wie die Welt aus ihrem Herzen; von allen irdischen Wünschen und Sorgen lebte nur noch die Mutterliebe in ihr. Diese allein verzögerte ihren Flug zum Himmel, wie der Anblick des Nestes die aufsteigende Lerche zurückhält.

»Mein Kind,« hub sie an und ihre Stimme klang leise, doch sehr deutlich, »meine einzige geliebte Tochter, die mich so lange treu gepflegt und ihre Jugend, Schönheit und ihren Lebensmuth der schwachen Mutter geopfert hat, mein Kind, das in Reichthum und Liebe erzogen wurde, und morgen als eine Waise in der weiten Welt stehen wird –«

Hier versagte ihr trotz Religion und Himmelshoffnung die Kraft und als eine echte Tochter der Menschen wendete sie sich ab und drückte das Gesicht in die Kissen. Gern würde ich das Vermögen, dessen Verlust sie für mich beklagte, noch einmal hingegeben haben, um rückhaltslos mit ihr weinen zu dürfen, ohne ihren Schmerz dadurch zu verstärken.

Nach einigen Minuten war sie im Stande, weiter zu sprechen. Mit ihrer feinen Hand zertheilte sie mein absichtlich über die Augen geschütteltes Haar.

»Ich weiß, daß mein Herzblatt mit Geduld und Sanftmuth anhören wird, was mir schon so lange das Herz bedrückt hat. Du weißt, wie schmerzlich ich stets durch jede Andeutung auf den Verlust Deines theuren Vaters bewegt ward. Es war gewiß eine Schwachheit von mir, gegen die ich aber vergebens gekämpft habe, und für die ich dort Verzeihung zu finden hoffe, wo nur Vergebung und Friede zu finden sind.«

Ihre Stimme begann zu zittern, ihre Augen wurden starr, und ich fürchtete eine Wiederkehr des alten Leidens. Doch sie überwand es diesmal und sprach wieder deutlich, obgleich mit großer Anstrengung.

»Es ist ein schmerzlicher Gegenstand, und ich konnte mich bis heute, wo es vielleicht zu spät ist, nicht entschließen, ihn zu berühren. Dennoch, mein armes Herz, bereitet mir derselbe große Sorge. Im Uebrigen vertraue ich der Vorsehung, die mich, obwohl ich oft gemurrt habe, bis jetzt noch nie verlassen hat, daß sie auch in Zukunft mein Herzenskind in ihren Schutz nehmen wird. Mich beunruhigt nur Eines, und wenn Du mir ein Versprechen geben willst, so kann ich getrost von hier scheiden. Dann werde ich zu Deinem Vater gehen, und ihm solche Botschaft von Dir bringen, daß wir Beide ruhig warten können, bis sich die Zeit erfüllen wird, wo auch Du kommen wirst.«

»Oh, hätte sich die Zeit doch erst erfüllt!« rief ich in meinem selbstsüchtigen Schmerz. »Ich sehe nur Oede vor mir.«

»Mein liebes Herz, meine gute Clara, wenn Du mich lieb hast, so lasse Dich nicht so vom Kummer fortreißen.«

»Mutter, ich will nicht mehr weinen;« und ich hielt Wort, so lange sie mich sehen konnte.

»Ich brauche Dir nicht erst zu sagen,« sprach sie, »welches Versprechen ich um Deinetwillen so heiß von Dir erflehe.«

»Nein, Mutter, ich weiß recht gut, daß ich Dir versprechen soll, meine Rache an dem Manne aufzugeben, der meinen Vater erschlug.«

Sie neigte das Haupt mit einem Blick, den ich nicht zu schildern vermag. In dem herben Ton, mit dem ich gesprochen, schien ihr der Vorwurf zu liegen, als habe sie mich und meinen Vater beleidigen wollen.

»Hättest Du alles Andere verlangt, und wäre es eine Sünde gegen Gott und Menschen gewesen (wenn Du eine solche Forderung stellen könntest) – ich hätte es so willig gelobt, wie ich sterben würde – das heißt, sterben nach der Erfüllung meiner Aufgabe. Aber dies Eine, wofür ich lebe, wozu ich geboren ward, zu lassen, eine Verrätherin an meinem Vater und an Dir zu werden – Mutter, bei Dem, dessen Herrlichkeit Dich jetzt umschwebt, flehe ich zu Dir, das nicht zu fordern!«

Sie richtete ihre Augen, in denen schon der Glanz erlosch, mit einem so langen traurigen Blick auf mich, als sollte sie mich nie wiedersehen.

»So muß ich denn mein einziges Kind verlassen, ohne daß es den Wunsch hat, mir droben wieder zu begegnen?«

Den tiefen Kummer mitanzusehen, welchen sie, wie ich glaubte, noch im Himmel empfinden würde, war mehr, als ich ertragen konnte. Ich knieete vor ihr nieder und legte meine Hand auf ihr todesmattes Herz, das wieder vor schmerzlicher Erregung lebhafter schlug.

»Mutter,« rief ich, »ich will Dir dies versprechen: Wenn ich den Mann gefunden habe, der Dich zur Wittwe und mich zur Waise gemacht hat, und ich sehe irgend einen Milderungsgrund für sein Verbrechen, oder seine aufrichtige Reue, so wahr ich Vater und Mutter im Himmel wiederzusehen hoffe, will ich ihm verzeihen und seiner schonen. Kannst Du mehr von mir fordern?«

»Clara,« erwiderte sie schwach (ihre Stimme hatte jedesmal schwächer geklungen) »Du hast mir so viel versprochen, wie ich hoffen durfte. Wie sehr hast Du Deinen Vater geliebt! Mich hast Du ja auch unsäglich lieb gehabt; um meinetwillen hast Du Armuth, Sorge und Krankenpflege ohne ein Wort der Klage geduldig ertragen. Bei Tage und Nacht hast Du meine unzähligen Wünsche und meine Reizbarkeit –«

Ich legte ihr den Finger auf die bleichen Lippen. Wie konnte sie nur jetzt solche Unwahrheit aussprechen? Die Thränen stiegen ihr zum letzten Mal in die Augen, doch als sie noch in ihren Wimpern zitterten, verklärte ein friedliches Lächeln ihre Züge. Sie legte die schwache Hand auf meinen Kopf.

»Möge der Gott der Armen und Vaterlosen, der Gott, welcher den Kummer der Wittwen tröstet und mich jetzt in seinen Schooß nimmt, dieses mein Kind mit jeglichem Glück der Erde und des Himmels segnen und es mir dermal einst wieder zuführen.«

Eine feierliche Freude breitete sich über ihr Antlitz, als habe sie die Erhörung ihres Gebetes vernommen. Sie legte ihren Arm um mich und schmiegte ihr heiter lächelndes Antlitz an meine Wangen. Im Fenster blühte die abendlich duftende Erika, außen klommen die Rosen empor, dahinter schimmerten die weißglänzenden Sterne des Himmels, und das üppige Geißblatt hatte seinen Ueberfluß von Blüthenbüscheln herabgestreut. Der Duft der Blumen war betäubend, und die Wonne in der Natur fast zu viel für unsere schwerbelasteten Herzen. Der Tod nahte sich in so milder, freundlicher Gestalt, daß sein Halbbruder, der Schlaf, ihm noch die Hand reichte.

Die heilige Stille ward durch die Stimme der Drossel im Lorbeergebüsch unterbrochen. Wie Träume aus der Heimath Verzeihung finden, wenn sie unseren Schlummer stören, so auch sie um ihrer Melodie willen. Meine Mutter erwachte und sprach matt:

»Richte mich auf mein Herz, damit ich sie noch einmal höre. Sie singt wie die, welcher Dein Vater und ich jeden Abend zu lauschen pflegten, als wir noch an Deiner Wiege saßen.«

Ich hob sie sanft in die Höhe. Die Stimme der Natur begleitete ihren Heimgang.

»Nun küsse mich, mein Kind; noch einmal, mein geliebtes Kind, mein Herz wird stets bei Dir bleiben. Licht meiner Augen, Du wirst trübe.«

Eine meiner Hände nahm sie zwischen ihre zum Gebet verschlungenen Finger, die andere hatte ich um ihren Hals gelegt.

Darauf sprach sie mit ersterbender Stimme, doch so fest, als gäbe sie ihre Antwort am Traualtar:

»Du bist meine Stütze und mein Stab, Ich fürchte mich nicht, denn Du bist bei mir. Mache es kurz, o mein Herr und Gott!«

Der Vogel kehrte heim in sein Nest, und sie nach der Stätte, wo wir Alle eine Heimath finden.

Obgleich die Hände, welche die meinige umschlossen hielten, eisig kalt wurden, ihre Lippen keinen meiner Küsse erwiderten, das Lächeln auf ihrem Antlitz in starre Ruhe überging, und obgleich ein grauer Schein sich über ihre Züge legte, konnte ich nicht daran glauben, daß dies alles wirklich der Tod sei.



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