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Zweiundzwanzigstes Kapitel.

Lebt wohl, Ihr Lieben.

 

Der Pächter, seine Frau und die kleine Sally waren jetzt die einzigen Menschen, welche ich noch liebte. Die arme Ann Maples, obgleich durchweg bieder und treu, war eine so nüchterne und abgemessene Natur, daß ich sie wohl achten, aber nicht lieben konnte. Es ist mir angeboren, mit aller Energie zu lieben und zu hassen, wenn auch ein gewisser Stolz mich zurückhält, die bessere Leidenschaft anders als in Momenten starker innerer Bewegung zu zeigen; doch das andere, vom Teufel gesäete Gefühl gebietet mir derselbe Stolz, nie zu verbergen.

Diese meine drei einzigen Lieben zu verlassen, bereitete mir bitteren Kummer, und die Eröffnung meiner Absicht war eine schwer zu lösende Aufgabe für mich. Nachdem ich lange Zeit überlegt hatte, wie ich es anfangen sollte, erschien es mir als das Richtigste, es ihnen ohne Umschweife und wenn möglich ohne Thränen mitzutheilen. Als Mrs. Huxtable daher voller Stolz mit einem Paar strahlend blauer Strümpfe, das sie heimlich für mich zum Winter gestrickt hatte, auf mich zukam, dankte ich ihr auf's Wärmste und fügte hinzu:

»Ei, welche Bewunderung werden die in London erregen.«

»In London, Kind?« (Sie nannte mich stets Kind, seit ich meine Mutter verloren hatte.) »Die Londoner werden so etwas nicht zu sehen bekommen, sie müßten denn so lange Guckegläser haben, wie die Optimer Im Original: » same as preventive chaps has« (wie vorsorgliche Burschen sie haben). »Optimer« soll vermutlich das von der Sprecherin verballbhornte Wort »Optiker« bedeuten. zu Verkauf bringen, und selbst dann, glaube ich, würde ihnen Exmore und Dartmoor die Aussicht benehmen, und wer weiß wie viele Kirchthürme und Meilensteine, die dazwischen stehen.«

»Sie werden sie dennoch sehen, denn ich will in einer Woche dort sein.«

»In einer Woche in London! Oh, Himmel, liebes Kind, so reden Sie doch nicht so wunderlich!«

Sie glaubte, wie sie schon oft in letzter Zeit gewähnt hatte, daß ich irre spräche und wandte sich zur Speisekammer, woher sie gewöhnlich ihre Heilmittel zu holen pflegte. Ich aber hielt sie in so ruhiger Weise zurück, daß sie nicht an meinem gesunden Verstande zweifeln konnte.

»Ja, meine liebe Mrs. Huxtable, ich muß mein stilles Heim verlassen, wo Sie Alle so gut und freundlich gegen mich gewesen sind. Ich habe schon nach London geschrieben und mir dort eine Wohnung bestellt.«

»Oh, beste Miß Clara, ich kann's nun und nimmer glauben! Kommen Sie zum Pächter, und überlegen Sie es mit ihm. Er weiß ein ganzes Theil mehr als ich, und selbst ich sage: es darf nicht sein. Wenn er aber so Etwas aufkommen läßt, so werde ich ihn mit der Röstgabel streicheln.«

Ohne mir Zeit zu einer Entgegnung zu lassen, führte sie mich in die Küche. Der Pächter, welcher mit seiner Morgenarbeit fertig war, stampfte draußen vor der Schwelle hin und her und reinigte seine Stiefel höchst sorgfältig mit einer Heugabel und einem Strohwisch. Zu diesem ihm sehr unbehaglichen Verfahren hatte Mrs. Huxtable ihn durch vieles Schelten angehalten, doch heute riß sie ihm die Heugabel fort und warf dieselbe weit in den Hof hinaus.

»Mußt Du großes Dromedar denn immer eine Stunde lang hier stehen und den ganzen Platz einschmutzen?«

»Na, na,« sagte der Pächter, erst auf die Heugabel und dann auf mich blickend, »ich glaube, die alte Mähre ist endlich todt.«

»Kannst Du von Nichts weiter träumen, als von Deinen Gäulen und Eseln, Du großes Maulthier? Hier unsere Miß Clara, die ich so lieb habe, wie mein eigen Kind, die will jetzt fort, und wir werden sie nie wieder zu sehen bekommen.«

»Was sagst Du, Frau?« fragte der Pächter strenge. »Hast Du Dich etwa unterstanden, mit ihr zu zanken, wie mit der Suke?«

»Oh nein, Pächter!« sprach ich schnell dazwischen, »Mrs. Huxtable hat mir noch in ihrem Leben kein böses Wort gesagt. Aber ich muß von Ihnen gehen und nach London ziehen.«

Der Pächter machte ein Gesicht, als habe er Etwas verloren und begann in allen Taschen herumzufühlen. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er an den Herd und hob den Kessel ab, in welchem das Mittagessen für die Familie kochte. Alsdann scharrte er die glühenden Kohlen aus einander und ließ sich mit abgewandtem Gesicht schwer auf die hölzerne Bank fallen.

Darauf hörten wir, wie er zu sich sprach: »Wenn eines von meinen Kindern heut einen Bissen Fleisch genießt, so möchte ich es dort in den Kessel stecken. Und wie hübsch hat unsere Sally heute noch ihre Vorschrift abgeschrieben!«

»Wunderbar, wunderbar!« rief Mrs. Huxtable. »Und von jetzt an wird sie ein P nicht mehr von einem Topfhenkel unterscheiden. Unser kleiner Jack kann ›Cider‹ gerade so buchstabiren, wie sie es in London thun.«

»Verflucht sei London,« sprach der Pächter ingrimmig, »mit Allen, die dort leben, ausgenommen der Herzog von Wellington Der britische Sieger in der Schlacht bei Waterloo gegen Napoleon 1815.. Dort geht der Teufel um und sein Feuerodem wird in Laternen aufgefangen. Das hat mir mein Vater erzählt und der hat nie gelogen. Es ist aber nicht um das Lernen, ich gräme mich, mein Herzblatt zu verlieren.«

Er betonte die letzten Worte so sanft und traurig, daß ich mich nicht länger zurückhalten konnte, sondern trotz der Thränen auf meinen Wangen zu ihm hineilte. Als ich auf dem Schemel der kleinen Sally vor ihm saß, legte er seine breite Hand auf meinen Kopf und fragte mit abgewendetem Blick, ob ich einen anderen Beschützer in der Welt hätte als ihn.

»Keinen Einzigen,« sagte ich und meine Antwort schien ihm zugleich Freude und Schrecken einzuflößen.

»Dann geh nicht fort, mein liebes Herzchen, denke nicht mehr an das Fortgehen. Wenn Du es um das Bischen thun willst, was Du issest und trinkest, so weißt Du ja schon lange, daß wir es unserem eigenen Fleisch und Blut nicht lieber geben als Dir; und wir haben genug und übergenug. Aber wenn wir's auch nicht so hätten, so würde ich, Jan Huxtable, wie seine Hausfrau hier, sich gern nur halb satt essen (wie es für uns reichlich gut genug ist) und Dir's danken, wenn Du das Uebrige annähmst.«

»Ja wahrhaftig, das würden wir thun,« sagte Mrs. Huxtable, hinzutretend.

»Und sollten Sie es wegen Zerstreuung und Vergnügen thun wollen, oder um die Welt kennen zu lernen, so habe ich in meinem Leben genug davon gesehen; mit Verlaub, Miß Clara, daß ich so frei herausrede. Und was ist es selbst auf dem Jahrmarkt von Coom gewesen, mit allen Pächtern zusammen, die ich von Kindheit auf kenne? Es war nicht besser, als wenn man einem kleinen Füllen einen Eggenzahn zum Saugen hinhält. Lieber wollte ich Dich nach dem Trentisoer Kirchhof geleiten, wo meine Kleinen Jane und Winny liegen, als Dich nach London gehen sehen. Was würde Deine arme Mutter sagen, wenn sie das erfahren könnte?«

Als ich so des schwärzesten Undanks überführt vor diesen, mir an Herzensgüte weit überlegenen Naturen, beschämt verstummen mußte, da kam die kleine Sally, welche sich in ihrem kindlichen Schmerzensausbruch auf den Fußboden der Milchkammer geworfen hatte, so weit zur Besinnung, um nach der Ursache ihres eigenen Kummers zu forschen. Große Thränenperlen glänzten auf dem zarten Flaum ihrer Wangen, als sie auf mich zulief, und der lange vorwurfsvolle Blick, den sie unter den Wimpern ihrer veilchenblauen Augen hervor auf mich richtete, schien zu sagen, daß sie anfange, die Welt mit ihren Enttäuschungen zu begreifen. Dann drückte sie ihr Flachsköpfchen in die Leinwandschürze, welche ich seit einiger Zeit trug, und schluchzte, als hätte sie ein Dutzend Seiten in ihrem Schreibeheft verdorben. Was weiter folgte, will ich nicht ausführen. Ich hasse das Weinen, aber es giebt Zeiten, wo Einem nichts Anderes übrig bleibt. Ich weiß nur noch, daß der Pächter das Haus verließ, um, wie er sagte, »einmal Luft zu schnappen,« und dann folgende ominöse Worte vom Hofe her erschallten: »Wenn mir der Tom Gundry aber heut in den Weg käme, so möcht' es ihm übel ergehen!«



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