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Viertes Kapitel.

Seltsame Jugendjahre.

 

Die folgenden Jahre – Kinderjahre kann ich sie kaum nennen – vergingen in ruhiger Einförmigkeit. Der östliche Flügel des Hauses blieb unbewohnt, und selten betrat ihn Jemand außer mir. Thörichte Geschichten knüpften sich natürlich an denselben, aber ich fand auf meinen häufigen Streifereien Nichts davon begründet. Zur Nachtzeit, so oft ich mich der Wachsamkeit meiner guten, doch nüchtern denkenden Wärterin Ann Maples entziehen konnte, pflegte ich den langen Korridor hinab zu wandern und mich durch die eiserne Thür zu zwängen, welche jetzt dort angebracht war; halb fürchtete, halb hoffte ich dem Geist meines Vaters zu begegnen, und ich hatte mir für diesen Fall schon sämmtliche Fragen und Antworten überlegt.

Meine ungestüme Natur bereitete sich zum Kampfe mit dem Geheimniß vor, dessen Schatten mich umschwebte. Die Jahre hatten mich in dem Glauben bestärkt, daß ich berufen sei, meines Vaters Tod zu rächen, und dieser Glaube war in mir zu der unerschütterlichen Ueberzeugung einer Fatalistin gereift. Meine Mutter, die von jeher religiösen Sinnes gewesen, unterrichtete mich täglich in der heiligen Schrift und versuchte mich zum Beten anzuhalten. Ich aber konnte die milden Lehren des Evangeliums nicht mehr so in mich aufnehmen, wie ich es als kleines Kind gethan. Für mich waren die Psalmen Davids und die Bücher des alten Testaments, welche von der Rache handeln und dieselbe zu preisen scheinen, süßer als alle Salbe von Gilead. Dort trat mir mein fortwährendes Sehnen in kraftvoller, gedrungener Form vor die Seele. Mit kindlichem Mangel an Gottesfurcht hielt ich mich gleich den Propheten der Juden für auserkoren, Sünder zu verfolgen. Die Gebete, welche meine Mutter mich lehrte, murmelte ich mechanisch nach, während ich ihr mit einem nichts weniger als andächtigen Blick in das fromme Antlitz sah. Ein gänzlich von dieser Form abweichendes Gebet hatte ich mir für mich allein gebildet, und dieses war so bitter und rachsüchtig, daß ich mit Schauder daran zurückdenke. Trotzdem liebte ich meine Mutter innig und vergoß oft Thränen über ihr Unglück; doch die Liebe zu dem Geist des Geschiedenen war Unendlich viel tiefer.

Das Grab meines Vaters befand sich auf dem Kirchhofe des kleinen lauschigen Dorfes, welches jenseits unseres Parkthores lag. Es war ein wirkliches Grab. Die Idee, in einem Gewölbe zu liegen, war ihm stets verhaßt gewesen, und er pflegte zu sagen, daß ihn friere, wenn er nur daran denke. Licht und Freiheit, Sonnen- und Sternenglanz, Wind und Wetter hatte er im Leben so geliebt, daß er oft den Wunsch äußerte, sie möchten selbst nach dem Tode über seinem Haupte dahingehen, und er nicht der düsteren Todtengruft, sondern ungehindert dem Walten der Zeit anheimgegeben werden.

Seine Freunde hatten es stets seltsam gefunden, daß ein Mann von so fröhlicher, heiterer Sinnesart seinen Tod überhaupt erwähnen mochte. Er hatte jedoch häufig von demselben gesprochen – nicht etwa trübselig, sondern guten Muthes. In Anbetracht des uns wohl bekannten Wunsches ließen wir die Familiengruft, in welcher der Staub der Vaughan's seit fünf Jahrhunderten aufbewahrt lag, nicht für ihn öffnen, und ebenso wenig errichteten wir auf seinem Grabe einen düstern Aschenkrug. Schmal und bescheiden, doch freundlich lag es da, nur mit einem niedrigen, einfachen Denkstein vom reinsten Marmor versehen, dem die Anfangsbuchstaben seines Namens in grauer Schrift eingegraben waren. Unsere eigene Liebe und Trauer, wie die des ganzen Dorfes und nicht blos der alte Gebrauch in den westlichen Grafschaften, schmückten den einfachen Hügel beständig mit frischem Grün und den schönsten weißen Blumen. Viel zu unstät und finster, um die Gärtnerei zu lieben, fand ich doch Freude daran, meines Vaters Lieblingspflanzen aus Samen zu ziehen und in meinem Zimmer zu pflegen, bis sie Blüten trugen. Dann stellte ich sie achtsam auf sein Grab, warf mich an demselben nieder und dachte, ob sein Geist sich wohl an ihnen erfreue.

Doch öfter noch, ich muß es bekennen, brachte ich einen finstern Tribut dort dar. Die trübe Richtung, in welche mein junges Gemüth gedrängt worden, griff unter den düstern Eindrücken immer mehr um sich. Alte Sagen von mitternächtigen Spukgestalten und Berichte von den schwärzesten Verbrechen goßen ihr Gift in mein Gemüth. Aus den staubigen Ecken unserer Bibliothek zog ich alle Bücher, welche von den berüchtigsten Greuelthaten handelten, an das Tageslicht und verschlang dieselben auf meines Vaters Grab. Noch war ich zu jung, um einzusehen, welchen Kummer es dem, der dort unten schlief, bereitet haben würde, sein Kind also beschäftigt zu wissen. Wenn ich es geahnt hätte, so würde ich sofort davon abgelassen haben, denn er war mir stets gegenwärtig, und die Erinnerung an ihn gestaltete mein ganzes Denken wie das Licht des Mondes die Schatten formt.

Die Lage des Kirchhofs bot ein liebliches englisches Landschaftsbild. Gibt es ein höheres Lob? Ich habe viele fremde Gegenden durchreist, und nirgends sah ich Etwas, das so innig zum Herzen spricht, wie eine echte englische Landschaft.

Die kleine Kirche stand im Hintergrunde auf einem sanft ansteigenden Abhang, der sie in einer leichten Biegung wie mit ausgebreiteten Fittigen gegen Ost- und Nordwind schützte. Diese Fittige trugen ein zartes duftiges Gefieder von Lärchenbäumen, Hagedorn und zierlich gezeichneten Birken, zwischen denen die jähen Felsspitzen hin und wieder trotzig hervorschauten. In südlicher Richtung über das Thal fort – welch' schöne Landstrecke breitete sich dort wellenförmig vor unsern Blicken aus! Zur Linken spiegelte unser hübscher, klarer See die Bäume wieder, bis er hinter einem vorspringenden, von Erlen umsäumten Hügel verschwand. Weit nach rechts zog der Severn seinen silbernen Pfad in mancherlei Windungen und Krümmungen entlang, welche gegen Abend von der Sonne einen Wandergruß erhielten; zuweilen konnte man auch am Horizont die blauen Linien der Brecon-Berge sehen.

Oftmals, wenn ich hier einsam saß, und die Abenddämmerung sich herniedersenkte, konnte ich, trotzdem ich jene Bücher auf den Knieen hielt, nicht anders, als die Mord- und Rachethaten der Menschen, die Motive, Ausführung und Entdeckung von Verbrechen vergessen und ein unbestimmtes Verlangen hegen, mein Leben zu verträumen.

Auch meine Mutter pflegte mitunter hieher zu kommen und ihr Lieblingsevangelium, das des heiligen Johannes, zu lesen. Dann legte ich die finsteren Erzählungen zu Boden, und während das Gefühl meiner erlittenen Unbill heiß in mir wallte, sah ich verwundert in ihr friedliches Antlitz. Freute es mich auch um ihretwillen, wenn ich Thränen des Trostes und der Ergebung in ihre Augen treten sah, so grämte ich mich doch niemals, daß diese milde Läuterung mir versagt blieb; für sie fand ich dieselbe schön und bewunderungswürdig, für mich aber verachtete ich sie.

Dasselbe klare Sonnenlicht leuchtete auf uns Beide herab, wir Beide sahen dieselbe schöne Landschaft, das Gold der reifenden Aehren, den Smaragdglanz der Wälder und Wiesen, den Krystall von See und Fluß; derselbe friedliche Himmel dehnte sich über uns Beide aus und in uns Beiden war der uns widerfahrene Kummer so lebendig, als wenn er uns erst gestern heimgesucht hätte – weßhalb hatte er der Einen den Thau des Lebens, der Andern einen Donnerkeil hinterlassen? Damals war mir der Grund verborgen, doch jetzt ist er mir wohlbekannt.

Obgleich meine Lieblingsliteratur weder geeignet war, das Gemüth zu bilden, noch die süße Melancholie zu erregen, welche manche jungen Mädchen lieben, so schadete sie mir doch auch nur wenig. Mein ganzes Wollen war nur auf einen Punkt gerichtet, und meine Gedanken trachteten so unverwandt nach diesem Ziel, daß ich Alles unbeachtet ließ, was mir nicht zur Erreichung desselben zu dienen versprach. Aber dem Leben und Wirken der Natur widmete ich eine Aufmerksamkeit, die weit über meine Jahre hinausging. Alles, was um mich her wuchs und gedieh, brachte einen Eindruck auf meine Sinne hervor, als ob ein Nerv meines Innern davon berührt wurde. Einen sich entrollenden Farrenwedel, eine aus der Hülle springende Knospe, eine sich schließende Windenblüthe, das Fallen eines Samenkorns, den von einer welkenden Tuberose ausgestreuten Goldstaub, kurz, die flüchtigsten Spuren des leichtbeschwingten Fußes der Natur verfolgte und beobachtete ich. Nicht etwa, daß ich gleich glücklichen Mädchen mich daran erfreut hätte; es war nur ein innerer Trieb in mir, der mich alle diese Dinge genau bemerken ließ.

Was den stolzen Herrscher der Schöpfung, den Menschen und dessen Eigenart betrifft, so weit letztere noch trotz des Schmelztiegels der Convenienz zur Erscheinung kommt – die Miene kriechender Tücke, das Lächeln, welches nur ein künstlicher Schimmer, ein Schleier ist, um den offenen Rachen der Gewinnsucht zu verbergen, die Schuld, welche versucht, in Wohlwollen zu zerschmelzen – alle diese Zeichen verstehen zu lernen, war ich weder alt noch arm genug. Dennoch beachtete ich unwissentlich Bewegungen und Sprechweise der Individuen und fühlte so ihre Absichten und Gedanken heraus. Sonst hatte mein ganzes Thun und Sinnen nur eine Färbung und ein Ziel.

Um gerecht zu sein, muß ich noch erwähnen, daß meine Erziehung von Keinem außer mir selber vernachlässigt wurde. Ich hatte meines Vaters Liebe zur Luft und zum freien Himmel geerbt, und Nichts außer den dringenden Bitten meiner Mutter und außer meinem eigenen finstern Forschen war im Stande, mich im Hause festzuhalten. Abstrakte Sätze und dürre Dogmen konnte ich nie begreifen, doch Alles was lebendig, klug und natürlich war, was Nutzen und Zweck hatte, das erfaßte ich und machte es mir zu eigen. Meine geistigen Fähigkeiten waren noch nicht ausgedehnt, doch stetig und gesammelt.

Obgleich verschiedene Lehrer und meine Gouvernante ihr Möglichstes thaten, wollte ich doch nur wenig lernen. Zeichnen und Musik (letztere meiner Mutter zu Liebe) bildeten meine Hauptstudien. Die Poesie ließ ich unbeachtet, außer in dem alten wilden Drama.

Doch genug hiervon. Ich habe überhaupt nur um des Verlaufs meiner Erzählung willen so viel von mir gesprochen.



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