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Drittes Kapitel.

Ein unliebsamer Vormund.

 

Bis hierher schrieb ich in schmerzlicher Hast, um einen möglichst einfachen und kurzen Bericht des Ereignisses zu geben, welches mir das ganze Leben verdüstert hat. Niemand kann beanspruchen, daß ich länger als nöthig dabei verweile oder den unauslöschlichen Eindruck schildere, den es auf mein ungewöhnlich vertieftes Gemüth hervorbrachte. Die Kindheit hatte mich mit einem Schlage verlassen. Jener letzte mit meinem Vater verlebte Abend war das Ende aller Fröhlichkeit für mich gewesen. Wie wenig ahnten wir die düstere Vorbedeutung des Begräbnisses meiner Puppe!

Als der Schrecken des Hauspersonals, das Staunen der Grafschaft und die durch tausend Pfund Belohnung erregte Hoffnung der Polizisten nach und nach schwanden, blieb meine Mutter in dem alten Herrenhause wohnen, vielleicht aus keinem andern Grunde, als weil Niemand von ihren Verwandten kam, um sie fortzuholen.

Mein Vater hatte sie als alleinige Testamentsvollstreckerin, seinen nächsten Verwandten aber als Verwalter sämmtlicher Güter eingesetzt, die mit Einschluß des Hauses und Parks mir vermacht waren, während meiner Mutter eine große Jahresrente aus dem Ertrage bestimmt war. Außerdem enthielt das Testament noch mancherlei Verfügungen, die aber keine Bedeutung für meine Geschichte haben. Das Hauptbesitzthum war sehr groß und reich; es erstreckte sich über vier englische Meilen und lag in dem schönsten Theile von Gloucestershire.

Die Einkünfte des Ganzen betrugen jährlich 12,000 Pfund Sterling. Mein Vater, Henry Valentine Vaughan, der noch im besten Mannesalter und sehr rüstig gewesen, hatte sich keinen Verwalter gehalten, sondern die ganze Wirthschaft selbst geleitet. Der Park und zwei bis drei Morgen Feld in der Runde waren nie verpachtet gewesen, das übrige Land aber hatten strebsame Pächter inne, welche, wie sie sich ausdrückten, jedes Haar auf dem Haupte eines Vaughan liebten.

Außerdem besaßen wir noch einen kleinen Meierhof, nicht weit von der See in einer einsamen Gegend von Devonshire. Dieser aber gehörte meiner Mutter und war ihr von ihrem Vater, einem Geistlichen jener Gegend, vererbt.

Meines Vaters nächster Anverwandter war sein Halbbruder Edgar Vaughan, der Jura studirt und einst in seinem Fache berühmt zu werden versprochen hatte. Plötzlich aber gab er seine Praxis auf und lebte oder reiste vielmehr jahrelang im Auslande. Böse Gerüchte über ihn waren nicht lange vor dem Tode meines Vaters in unsere Gegend gedrungen, doch Letzterer hatte dieselben keiner Beachtung gewürdigt und seinen Bruder Edgar stets mit großer Herzlichkeit und Liebe behandelt. Zugegeben aber mußte werden, daß Edgar Vaughan sein jährliches Einkommen eines jüngeren Sohnes, das 600 Pfund betrug, weit überschritt, weßhalb mein Vater ihm natürlich oft Hülfe gewährt hatte.

Am dritten Abend nach jener Nacht kam mein Vormund nach Vaughan Park. Es hieß, er sei von London, wo er die Nachricht erhalten habe, schleunigst herbeigeeilt.

Die Dienerschaft hatte den thörichten und nutzlosen Versuch gemacht, mir zu verheimlichen, auf welche Weise ich meinen Vater verloren.

Bald hatte ich indessen Alles herausbekommen, was sie wußten, und nachdem der erste Schmerzens- und Schreckensausbruch von mir gewichen war, benutzte ich meine ganze Zeit, um den Mörder meines Vaters zu suchen. Ob es dunkel oder hell war, ich wanderte von Korridor zu Korridor, von Zimmer zu Zimmer, von Kammer zu Kammer und durchstöberte sämmtliche Ecken und Winkel. Tastend kroch ich leise, um meine Beute nicht zu verscheuchen, längs Wänden und Panelen dahin: jeden Zoll breit untersuchte ich, lauschend und spähend blickte ich durch alle Thürspalten und an jedem aufgehängten Kleidungsstücke schüttelte ich. Einige Bretter in der Nähe des östlichen Fensters klangen hohl. An diesen grub und kratzte ich, bis mir die Fingernägel ausbrachen. Vergebens schloß meine Wärterin Ann Maples mich in ihrem Zimmer ein, es nutzte Nichts, daß sie mich festhielt oder an die Bettstelle band. Mein Toben zwang sie bald zum Nachgeben, und ich erlaubte weder ihr noch Andern, mir zu folgen. Der Arzt aus Gloucester sagte, es sei jetzt, wo meine Gemüthskrankheit diese Form angenommen hätte, gefährlicher, mir entgegen zu treten, als mich gewähren zu lassen.

Es war am dritten Tage in der Dämmerstunde, und ich kroch gerade langsam und ganz ermattet vom unermüdlichen Suchen die große eichene Treppe hinab, als ich plötzlich an der vorderen Hausthüre läuten hörte. Starker Schneefall hatte das Rasseln eines vorfahrenden Wagens gedämpft. Ich glitt im Augenblick an dem breiten Geländer hinab (wie mein Vater es mich gelehrt hatte) und rannte durch die Eintrittshalle auf die große Thür zu, deren schweren Riegel ich mit Aufbietung meiner ganzen Kraft zurückschob. Furchtlos, doch in einer mir ganz neuen Aufregung, stand ich unter dem Portal. Ein hochgewachsener dunkler Mann kam die Stufen herauf und schüttelte sich den Schnee von den Stiefeln. Die Wagenlaterne schien mir in das Gesicht. Ich wollte ihn nicht über die Schwelle lassen und blieb ihm gegenüber stehen. Er that, als ob er mich für irgend ein Kind aus der Dienerschaft ansähe und reichte mir ein mit Schnee bedecktes Päckchen hin. Ich warf es zu Boden und sprach, ihm fest in das Antlitz blickend:

»Ich bin Clara Vaughan, und Du bist es, der meinen Vater getödtet hat!«

»Tragt sie hinein, John,« sagte er zu dem Diener, »tragt sie hinein, sonst stirbt das arme kleine Wesen. Welche Augen!« Und er rief irgend einen ausländischen Fluch. »Was für wunderbare Augen!«

Jener leidenschaftliche Ausbruch war für lange Zeit die letzte bewußte Thätigkeit meines jungen überreizten Gehirns. Drei Monate hindurch wanderten meine Gedanken fern von Kummer und Sorge. Mein Vormund war, wie ich später erfuhr, während des ganzen Fiebers sehr aufmerksam gegen mich und besuchte mich, selbst wenn er mit Geschäften überhäuft war, täglich drei Mal. Inzwischen begann meine Mutter allmählich den Zustand der Betäubung von sich abzuschütteln. Die neue Angst, mich zu verlieren, durchdrang ihre dumpfe Schwermuth, wie ein Sturmwind die Nebelwolken verscheucht. Unzweifelhaft trug die Sorge um mich dazu bei, ihren Geist aufzurütteln und zu neuer Lebensthätigkeit zu erwecken. Mit der Zeit kehrten ihre frühere Schönheit und Liebenswürdigkeit wieder, sowie ihre Verstandeskraft in Bezug auf alle Dinge, bis auf jene Aufklärung, welche wir sämmtlich so sehnlichst erwünschten. Hiervon konnte ihr auch nicht der kleinste Schimmer entlockt werden. Ja, wurde in ihrer Gegenwart auch nur die entfernteste Andeutung des Verbrechens gewagt, der Name ihres geliebten Gatten oder das Wort »Mörder« ausgesprochen, so schwand das Licht der Vernunft aus ihren Augen, wie ein zurückgezogenes Pfand. Starr und regungslos, wie man sie in jener Nacht gefunden, das Antlitz weiß wie Mondlicht, mit ruhig kalten Zügen, saß sie dann aufrecht da. Nur zwei Mittel konnten sie wieder zum Bewußtsein zurück führen, leise, sanfte Musik und tiefer Schlaf. Niemals kam dieser Starrkrampf in Folge ihrer eigenen Worte und Gedanken über sie, ja, nicht einmal durch die Andern, falls dieselben sich nur direkt an ihre eigenen knüpften. Aber jeder Versuch, sie auf den einen Gegenstand zu bringen, und mochte derselbe auch noch so schlau maskirt sein, endete unfehlbar in dieser Weise.

Der tüchtige Arzt, welcher meine Mutter seit Jahren kannte, sprach nach sorgfältiger Beobachtung ihres Leidens, das sein tiefstes Interesse erregte, die Meinung aus, dasselbe habe seinen Sitz beständig in ihrem Gehirn, bedürfe aber äußerer Mitwirkung, um die Herrschaft über sie zu gewinnen. Natürlich war sie für die Unterhaltung mit Fremden nicht mehr tauglich, sondern nur ihren nächsten, sorgsamsten und mit ihren Leiden vertrauten Freunden zugänglich.

Als ich langsam von meiner Krankheit genaß, wurden auch der Verlust meines liebsten Freundes und das Suchen nach meinem schlimmsten Feinde wieder die Haupttriebfeder meines Lebens. Zuweilen ließ mein Vormund sich herab, mir meine »fixe Idee«, wie er es nannte, ausreden zu wollen. Dann richtete ich meine Augen fest auf ihn, machte jedoch nie den Versuch, ihm zu antworten. Hin und wieder schienen ihm diese Augen Unbehagen zu erregen; mitunter lachte er aber auch und verglich sie scherzend mit dem schlagenden Wetter in den Kohlengruben. Seine Abneigung gegen meinen forschenden Blick war mir sehr wohl bekannt und reizte mich desto mehr, denselben in Anwendung zu bringen. Trotz alledem war mein Vormund aber stets gütig und freundlich gegen mich, ja, ungeachtet seiner sich langsam bildenden Ueberzeugung, daß ich ihn durch Argwohn kränkte, machte er gezwungen scherzhafte Versuche, meine ihn gehässig fliehende Liebe zu gewinnen.

Edgar Malines Vaughan, zu jener Zeit etwa sieben und dreißig Jahre alt, war, wie ich glaube, ein schöner Mann und als solcher vielleicht noch auffallender als mein theurer Vater. Wenn ihn Etwas angenehm berührte, erinnerte mich sein Antlitz lebhaft an das Lächeln des Verlorenen, wenn es mir auch niemals den sanften, zärtlichen Blick zurückrufen konnte, der mir noch durch die Wolken dann und wann im Traum erschien. Der Gesichtsschnitt meines Vormunds war auch schärfer und kräftiger, und seine Hautfarbe viel dunkler. Seine harten, stahlblauen Augen schienen sich nie zu verändern. Ein leichtes Hinken, das nur mitunter sichtbar war, hinderte ihn nicht in seiner Wirksamkeit, doch benutzte er es als Vorwand, um alle Einladungen zur Jagd abzulehnen, an der er, unähnlich meinem Vater, keinen rechten Geschmack fand. Meinen verschärften Beobachtungen schien es, als suche er fortwährend nach Etwas, sei ihm stets auf der Spur und werde immer wieder enttäuscht. Vergnügen fand er nur – wenn er überhaupt solches kannte – an der Gutsverwaltung (welche er ganz allein besorgte) der französischen und italienischen Literatur, den politischen Nachrichten, und an einsamen Spazierritten und Segelfahrten.

Zuweilen verließ er uns auf vierzehn Tage oder einen ganzen Monat ohne irgend welchen Grund anzugeben (wenigstens ich erfuhr keinen), und jedes Mal war es, als bringe er eine düsterere Stimmung heim.

Thomas Henwood, der ein seltsames Gefühl von Furcht und Abneigung gegen ihn hegte, machte sogar Andeutungen, daß er zur Nachtzeit in seinem Zimmer Spirituosen oder fremdländische Liquöre trinke. Diese Beschuldigung wurde aber in keiner Weise bestätigt. Stets stand er zeitig auf, seine Hände zitterten nie, und ebenso wenig wechselte er die Farbe.



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