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Eine gemeine Beschimpfung.
Bald darauf trug sich etwas Lächerliches zu, dessen Folgen aber ernst genug waren. Jener schweren Zeit der Dürre folgten ein recht nasser Sommer und Herbst. In einer Nacht, zu Ende des Oktobers, tobte ein heftiger Sturm nach strömendem Regen. Als ich am nächsten Tage nach dem Kirchhof ging, fand ich, wie ich vermuthet hatte, die während des Sommers sorgfältig gehegten Blumen vom Sturm geknickt und verweht. So kehrte ich in den Garten zurück, um sie durch andere zu ersetzen. Mein Vetter Clement, wie man ihn gelehrt hatte, sich zu nennen, kam, durch die Beete dahinschlendernd, auf mich zu. Seine gewöhnliche Miene fader Heiterkeit und hohlen Selbstgefühls war ihm für den Augenblick abhanden gekommen, und er sah aus wie eine Ziertaube, welche von einer Krippe gefallen ist. Er ging mir mit unsicheren schlotternden Schritten nach, während ich hier und dort die mir zusagenden Pflanzen wählte. Doch schenkte ich ihm, wie immer, seit ich den erwähnten Plan durchschaut hatte, nur wenig Beachtung.
Endlich, als ich mich niederbeugte, um eine weiße Verbene auszugraben, blieb er hinter mir stehen und erledigte sich seines Auftrages mit noch stärkerem Lispeln als sonst.
»Oh, Clara,« sprach er, »ich möchte Dir Etwas sagen, wenn Du mir gutwillig zuhören wolltest.«
»Siehst Du nicht, daß ich beschäftigt bin?« erwiderte ich, ohne mich nach ihm umzusehen. »Hat es nicht Zeit, bis Du Deine Lockenwickel abgenommen hast?«
»Du weißt recht gut, Clara, daß ich nie Lockenwickel trage. Mein Haar braucht nicht gewickelt zu werden. Du weißt auch, daß es viel hübscher ist, als Dein schwarzes, das so lang und glatt herabhängt und es lockt sich ganz von selbst, wenn Mama es nur bürstet. Aber ich habe Dir etwas Besonderes zu sagen.«
»Wohlan, so beeile Dich, denn ich muß fortgehen.« Hiemit erhob ich mich und stand ihm gegenüber. Er war kaum so groß wie ich, und sein heller hübscher Anzug, sein zartes, rosiges Gesichtchen stachen grell von meinen dunklen Gewändern und meinem ernsten düstern Aussehen ab. Ein in ihm aufdämmerndes Bewußtsein dieses Contrastes mochte schuld an seinem Zögern sein.
Endlich fuhr er fort:
»Sieh, Cousine Clara, Du darfst nicht böse werden, denn ich kann nicht dafür.«
»Wofür kannst Du nicht?«
»Nun, daß ich mich – wie nennt man es doch gleich – verliebt habe.«
»Du bist verliebt, Du unartige Puppe! Wie können Sie sich ohne meine Erlaubniß verlieben, mein Herr?«
»Ich wagte nicht, Dich zu fragen, Clara, da ich nicht wußte, was Du dazu sagen würdest.«
»Oh, das hängt natürlich davon ab, wer die zukünftige Frau Puppe ist. Wenn sie ein niedliches Ding mit blauseidenen Armen ist und eine Atlasschärpe, Bandschleifen und hübsche blaue Augen hat, die an einer Strippe gehen, so will ich Dir vielleicht verzeihen und Dich mit einem Haus, einem Theeservice und einem Perlmutterwägelchen ausstatten.«
»So sprich doch keinen solchen Unsinn,« antwortete er; »ich werde bald ein Mann sein und dann wirst Du Dich vor mir fürchten, die Arme ausstrecken und mich um einen Kuß bitten.«
Ich hatte ihn zu nachsichtig behandelt, daher nahm er sich Freiheiten heraus. Ich machte dem bald ein Ende.
»Wie kannst Du Dich unterstehen, mich anzubellen, Du schwächliches, kleines, weißwolliges Schooßhündchen?«
Ich verließ ihn und ging mit meinem blumengefüllten Korbe den Pfad nach dem Kirchhof entlang. Er blieb ein Weilchen furchtsam stehen, bis seine Mutter aus dem Fenster des Gesellschaftszimmers blickte. Dann schlug er den ihm geringere Furcht einflößenden Weg ein und folgte mir an meines Vaters Grab. Dort stand ich und ärgerlich winkte ich ihm, zurückzubleiben, doch er beharrte auf seinem Willen und kam, obwohl zitternd, heran.
»Cousine Clara,« sagte er, und sein Lispeln war ganz verschwunden, als er versuchte, in Hitze zu gerathen; »Cousine Clara, Du mußt hören, was ich Dir zu sagen habe. Wir haben jetzt schon lange unter einem Dache gewohnt und haben uns doch eigentlich immer gut vertragen. Ich – ich – nun, ich sehe gar nicht ein, warum wir uns nicht heirathen sollten.«
»Wirklich nicht, mein Herr?«
»Du fürchtest vielleicht, daß ich mir Nichts aus Dir mache,« fuhr er fort, »aber Du kannst mir's glauben, daß ich oft denke, Du würdest sehr hübsch aussehen, wenn Du nur hin und wieder lachen und diese abscheulichen schwarzen Kleider ablegen wolltest; und wenn Du Dir dann noch Dein hochmüthiges, geheimnißvolles und großartiges Wesen und Dein frühes Aufstehen abgewöhntest, so würde ich Dir in Allem Deinen Willen lassen. Ich würde Dir erlauben, mich zu malen, und Dir eine Locke von meinem Haar geben.«
»Clement Daldy,« fragte ich, »siehst Du den See dort?«
»Ja,« erwiderte er, blaß werdend, und auf dem Punkte, davonzulaufen.
»Es ist jetzt genug Wasser darin. Wenn Du jemals wagst, mir wieder ein derartiges Wort zu sagen oder mir auch nur durch Deine Blicke zu zeigen, daß Du an so Etwas denkst, so nehme ich Dich und werfe Dich dort hinein, so wahr mein Vater hier unter der Erde liegt.«
Er schlich sich schnell davon, ohne ein Wort zu erwidern und konnte an jenem Tage kein Frühstück essen. Am Nachmittag, als ich auf meinem Lieblingsplatz in dem Bogenfenster saß, glitt Mrs. Daldy ins Zimmer. Sorgsam hatte sie ihr gewohntes Lächeln angethan, das sich ihr anschmiegte wie ein indischer Shawl. Ich dachte, wie viel besser ihr Antlitz mit seinem natürlichen, kühnen und hochmüthigen Blick aussehen würde.
»Meine theure Clara,« begann diese in Geduld ihre Zeit abwartende fromme Seele, »womit hast Du denn Deinen armen Vetter Clement so gekränkt?«
»Mit nichts weiter, Mrs. Daldy, als daß ich ihm, weil er thöricht oder toll war, in ächt christlichem Geist und nur zu seinem Besten einen Rath ertheilt habe.«
»Ich hoffe, meine Liebe, daß es eines Tages sowohl seine Pflicht als sein Vorrecht sein möge, Dir Rath zu ertheilen. Aber natürlich brauchst Du seinen Rath nicht anzunehmen. Meine Clara geht so gern ihren eigenen Weg, wie kein anderes Mädchen und der arme Clement wird sie auch sicher nie daran hindern.«
»Das unterliegt keinem Zweifel,« erwiderte ich.
»Und außerdem, mein Liebling, wirst Du weit mehr in der Lage sein, das große Ziel Deines Lebens zu verfolgen, wie als unverheirathetes Mädchen, so weit, meine ich, wie es sich mit dem christlichen Geist der Vergebung verträgt. Dein Vormund hat bei diesem Arrangement auch hieran gedacht und ich hoffe, daß ich nicht unrecht gehandelt habe, als ich mich unter dem Schutze der Vorsehung von der verlockenden Aussicht auf Deinen schließlichen Seelenfrieden bestimmen ließ, meine Einwilligung zu geben.«
»Ich bin Ihnen außerordentlich verbunden.«
»Ich kann Dir bei Deinem scharfsichtigen Verstande nicht verhehlen (und wenn ich es auch könnte, so ist mir jegliche Verheimlichung grundsätzlich zuwider), daß auch gewisse weltliche Vortheile in die Wagschale fallen, mag mein Herz auch noch so sehr geläutert und durch Prüfungen von vergänglichen Dingen abgelenkt sein. Auch Deinem Vormund liegt dieses Arrangement ungemein am Herzen. Mein liebes, theures Kind, ich habe Dich schon seit langer Zeit wie eine Tochter in mein Herz geschlossen. Wie dankbar müßte ich dem Spender alles Guten sein, Dich in Wahrheit mein geliebtes Kind zu nennen!«
»Seien Sie dankbar, wenn Sie es haben. Dies Gute werden Sie aber mit Hülfe der Vorsehung entbehren lernen müssen.«
Es war vielleicht roh, daß ich auf meinen Reichthum anspielte. Wie aber sollte ich mich ihr gegenüber verhalten?
»Wie, Clara?« fragte sie im Tone des höchsten Erstaunens; »Du kannst unmöglich so thöricht und eigensinnig sein, diese Aussicht auf Deine Rache von Dir zu stoßen. Außerdem ist es der Weg, den die Pflicht Dir gebietet, nicht allein Deines Vaters, sondern auch Deiner theuren Mutter wegen. Ich muß Dir nur sagen, daß Ihr Beide, sie und Du, weit mehr von Deinem Vormund abhängig seid, als Du ahnst. Und was würde wohl Deines Vaters Wunsch sein, der Dich so ganz der Sorge und Einsicht seines Bruders anvertraut hat? Willst Du denn für immer auf die Entdeckung seines Mörders verzichten?«
»Mein Vater,« sprach ich stolz, »würde mich verachten, wenn ich etwas thäte, das ihn und mich erniedrigte. Die Letzte der Vaughan's sollte sich an eine Krämerpuppe verhandeln lassen!«
Ich hatte ihren Gleichmuth auf eine harte Probe gestellt, und der offenbaren Verachtung gegenüber hielt die Heuchelei nicht Stich. Durch die Schminke der Welt und den Puder der Religion sah ich die echte Farbe des natürlichen Gefühls auf ihren Wangen leuchten; denn sie liebte ihren Sohn. Sie wußte aber auch, wie sie mich am tiefsten verwunden konnte.
»Ist es etwa keine Herablassung von unserer Seite, wenn mein schöner Knabe zu der wahnwitzigen Tochter eines Mannes heruntersteigt, der erstochen ward – um Mitternacht in seinem Bett erstochen ward, ohne Zweifel, um durch seinen Tod eine von ihm begangene niedrige That zu sühnen?«
Ich sprang auf und zog die Glocke. Thomas Henwood, der sich meine Bedienung stets angelegen sein ließ, erschien sofort. Ich sprach ruhig und langsam:
»Geben Sie dieser Person eine Stunde Zeit zum Einpacken ihrer Sachen, holen Sie einen Einspänner vom Gasthof zum Wallnußbaum und geben Sie ihr das Geleite bis zum Parkthor.«
Ich glaube, wenn ich jenem Manne befohlen hätte, sie bei den Haaren hinauszuzerren, so würde er es gethan haben. Sie bebte vor mir zurück; für den Augenblick war sie vollständig eingeschüchtert und zitternd sank sie in einen Stuhl.
»Ich versichere Dir, Clara, daß meine Worte nicht so böse gemeint waren. Du hast mich nur so gereizt.«
»Kein Wort weiter. Verlassen Sie dies Zimmer und das Haus.«
»Miß Vaughan, ich werde dieses Haus nicht eher verlassen, als bis Ihr Vormund heimgekehrt ist.«
»Thomas,« sagte ich, ohne sie anzusehen, »wenn Mrs. Daldy nicht in einer Stunde abgereist ist, so sind Sie aus meinem Dienst entlassen.«
Wie Thomas Henwood es bewerkstelligt hat, danach habe ich nie gefragt. Er war ein entschlossener Mensch, und die ganze Dienerschaft gehorchte ihm. Auf der Schwelle des Hauses wendete sie sich noch einmal nach mir um, und den Blick, welchen sie mir zuwarf, werde ich nie vergessen.
War es ein solcher Blick, der meinen Vater vor dem Todesstreiche angestarrt hatte? Sie erhob den weißen Arm, auf dessen Schönheit sie stolz war, und warf den Kopf zurück, wie der den Wurfspieß schleudernde Fecial.
»Clara Vaughan, das sollst Du bitter bereuen. Sammt Deiner Mutter sollst Du vor dem Mörder Deines Vaters im Staube liegen und Dich heißer nach Speise und Trank sehnen, als nach dem Herzblut Deines Feindes.«
Ich fand nirgends Ruhe, bis sie das Haus verlassen hatte, und begab mich nach meines Vaters Sterbezimmer, wohin ich mich stets flüchtete, wenn ich stark erregt war und nicht an sein Grab eilen konnte. Die Gedanken und Erinnerungen, welche jenes verhängnißvolle Zimmer umschwebten, waren genügend, das Empfinden alltäglicher Kränkungen abzuschwächen.
Aber diesmal war es etwas Anderes. Die empfangene Beschimpfung hatte nicht mir, sondern Demjenigen gegolten, der hier gegenwärtig zu sein schien. Außerdem peinigte mich die hingeworfene Andeutung eines von meinem Vater begangenen Unrechtes und suchte sich den Weg in meine Brust gleich den scharfen Härchen der Kornähren, die Kinder einander in die Aermel stecken.
Bis jetzt hatte ich stets geglaubt, daß irgend ein weltlicher Vortheil oder Gewinn meinen Feind zu der That veranlaßt habe, durch welche ich eine Waise geworden. Doch die dunkle Rede jener Frau hatte eine ganz neue Gedankenreihe in mir geweckt, deren erste Regung ein Zweifel an dem Manne war, den ich abgöttisch liebte. Von Allen, die ihn gekannt, hatte ich stets vernommen, daß er ein echter Gentleman gewesen, der keinem Geschöpf auf Gottes Welt je zu nahe getreten war, und der sein ganzes Leben nur den Wünschen und der Wohlfahrt Anderer gewidmet hatte. Dazu kamen meine eigenen deutlichen Erinnerungen – seine Stimme, seine Augen, sein Lächeln, der ganze Ausdruck seines Wesens. Dies waren natürlich nur Aeußerlichkeiten, doch die Eingebungen eines Kindes sind schwer zu widerlegen.
So viel ich mich erinnern konnte, hatte er sich auch nie auf längere Zeit von uns entfernt, außer hin und wieder zu mehrtägigen Besuchen bei seinen Gutsnachbarn. Irgend eine feindliche Gesinnung seitens der Letzteren wäre schon zufolge seiner Stellung in der Grafschaft weit und breit ruchbar geworden.
Dennoch, angesichts aller dieser Gründe und trotz meines eigenen warmen Gefühls, blieb mein Herz von diesem schweren Verdachte getrübt wie von einem schädlichen Mehlthau. Wenn die Beschuldigung dennoch richtig war? Konnte ich mich in dem Fall für besser halten als Denjenigen, welchen ich stets als einen Abgesandten des Bösen betrachtet hatte? Er wollte Rache und ich suchte Vergeltung; er hatte vielleicht ein eben so großes Leid an seiner Ehre wie ich an meiner Liebe erlitten.
Während ich noch so verzweifelt sann und grübelte, fiel mein Blick auf das Bett. Die rothen Striche, welche der Holzfaserzeichnung in einem quer durchschnittenen Farrenstamme glichen, sahen auf mich herab, als wollten sie mich an die Aufgabe meines Lebens mahnen. Zitternd nahte ich mich dem Lager, von dem noch nie gefühlten Weh durchbebt, daß ich an dieser Stätte von meinem Herzensvater, dessen Blut ich dort oben sah, so Etwas zu denken, nein, auch nur entfernt zu träumen vermochte. Mit einem Thränenstrom der Selbstverdammung und des Kummers kniete ich nieder und that schluchzend Abbitte.
Doch nimmer konnte ich mich seitdem jenem Gedanken gänzlich verschließen. Haben garstige Ideen erst einmal Eingang gefunden, so kehren sie stets wieder, wie die Cholera den früher verfolgten Weg wieder einschlägt.
Anstatt in meinem hartnäckigen Vorhaben entmuthigt zu werden, hatte ich nur den neuen Beweggrund erhalten, die auf den Schatten meines Vaters geworfene Verleumdung zu zerstreuen.