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Wer war der Thäter?
Wie die That verübt worden, erfuhr ich sofort und will es berichten; doch der Entdeckung, durch wen und weßwegen es geschehen, habe ich mein Leben gewidmet. Die gerichtliche Untersuchung ermittelte Nichts – kein Zeugniß klärte das geheimnißvolle Dunkel auf.
Viele Tage hindurch lag meine Mutter wie leblos darnieder. Dann hatte sie wochenlang Anfälle, in denen sie vom Bette aufsprang, starr vor sich hinblickte, laut kreischte und ohnmächtig zusammensank. Die Dienstboten wußten sehr wenig, dachten sich aber sehr viel. Außer ihnen waren nur noch ein Arzt, ein Schuhmacher und zwei Londoner Polizisten als Zeugen da.
Die Dienstboten sagten aus, daß ein gellender wilder Schrei zwischen ein und zwei Uhr in der Nacht durch das Haus erschallt sei. So weitläufig das Gebäude auch war, hatte dieser Schrei, obwohl er sich nicht wiederholt, fast Alle außer mir geweckt. In wirrer Angst waren sie hervorgestürzt, dann jedoch sämmtlich oben an der Haupttreppe dicht an einander gedrängt, stehen geblieben. Die Einen wollten den Schrei aus dieser, die Andern aus jener Richtung gehört haben. Inzwischen war Ann Maples, welche mit mir in einem am Ende eines kleinen Ganges gelegenen Zimmer schlief, in dem Muthe des ersten Schreckens geradewegs zu ihrer Herrschaft gegangen, und dort sah sie beim Dämmerschein einer kleinen Nachtlampe, wie meine Mutter aufrecht im Bette saß und auf meines Vaters Brust deutete. Mein Vater lag ganz still unter der glattgestrichenen Bettdecke. Meine Mutter sprach kein Wort. Ann Maples ergriff die Lampe und leuchtete ihrem Gebieter in das Gesicht. Seine Augen standen offen, weit offen, wie in Erstaunen, doch die Ueberraschung war der Tod gewesen. Ein Arm war steif und starr um seine Gattin gelegt, der andere ruhte schlaff auf dem Kissen. Er sah, wie sie es in ihrer westenglischen Redeweise ausdrückte, wie »ein Eis« aus.
Das Mädchen stürzte aus dem Zimmer und lief schreiend den Korridor entlang. Die übrigen Diener rannten ihr entgegen, sämmtlich bleich und in unruhiger Hast. Jeder fürchtete sich, allein zurückzubleiben. Doch nur der Kellermeister wagte sich hinein. Flüsternd und zitternd blickten die Andern durch die Thüre, jeden Augenblick bereit, davonzulaufen. Thomas Henwood liebte seinen Herrn aufrichtig; er zog die Bettdecke fort und fand die Todeswunde. So kräftig und scharf war sie ertheilt, daß der Stich gerade in das Herz meines theuren Vaters gedrungen war. Ein Blutfleck und eine kleine dreieckige Stichwunde waren Alles, was man sehen konnte. Der Wundarzt, welcher bald darauf kam, sagte, daß die Waffe ein äußerst scharfer, feingeschliffener Stahl, wahrscheinlich ein fremdländischer Dolch gewesen sein müsse; der Mörder sei jedenfalls ganz kaltblütig bei der That und sehr vertraut mit dem Bau des menschlichen Körpers gewesen, denn der Tod sei auf der Stelle, ohne ein Zucken oder einen Laut erfolgt. In der festgeschlossenen linken Hand meiner Mutter befand sich eine glänzende schwarze Haarlocke. Eine zweite ähnliche Locke, nur von feinerem Haar, lag auf der Brust meines Vaters. Im Zimmer zeigte sich nicht die geringste Unordnung, keine Spur eines gewaltsamen Eindringens.
Eine von den Mägden, ein junges furchtsames Ding, erklärte, daß sie bald nach Mitternacht das vordere Balkongitter knarren gehört habe. Da sie dies aber in jeder Nacht zu hören pflegte, so wurde wenig Werth auf ihre Aussage gelegt.
Mehr Aufmerksamkeit schenkte der Kronbeamte jedoch dem Bedienten, einem gewitzten Burschen aus London, der nach dem Schrei der Erste im Haupt-Korridor gewesen und beim schwachen Sternenschimmer, welcher durch das Eckfenster schien, eine sich dorthin bewegende Gestalt gesehen haben wollte. Er fand um so größeren Glauben, weil er eingestand, daß er sich nicht getraut habe, ihr zu folgen. Doch keine Möglichkeit eines Auswegs war hier zu entdecken, und alle Scheiben des nach Osten gelegenen Fensters waren ganz fest geschlossen. Auch sonst wurden keine offenen Thüren oder Fenster gefunden.
Außerhalb des Hauses wurde nur an einer einzigen Stelle eine Spur entdeckt. Die Jahreszeit war günstig gewählt worden. Wir hatten scharfen Frost, doch noch nicht den geringsten Schnee. Der Boden war hart wie Stein, und selbst ein Indianer hätte keine Fußstapfen darauf erspähen können. Aber an der erwähnten Stelle, vierzig Schritt von dem östlichen Theil des Hauses entfernt, sickerte am Saum eines dichten Gebüsches eine kleine, kaum sichtbare Quelle unter dem Moose hervor. An ihrem Ursprung floß das Wasser reichlicher, und dort hatte sich ein ganz moosfreies Fleckchen gebildet, dessen Rand mit einer dünnen Schicht schwarzer Moorerde bedeckt war, die niemals fror. Dieser ganze Raum maß zwischen dem Kiesweg und dem Rasen nur zwei Fuß zehn Zoll. Dennoch waren zwei deutliche Fußspuren darin, und nicht in entgegengesetzter Richtung, als sei Jemand hier hin und zurück gegangen, sondern beide hinter einander vom Hause nach dem Gebüsche zu. Diese Fußspuren waren merkwürdig. Jede zeigte den Abdruck eines langen, leicht gearbeiteten, spitzen Stiefels mit sehr hohl geformtem Spann. Doch sie unterschieden sich darin von einander, daß der linke Fuß einen ganz glatten Eindruck ohne irgend einen Nagel oder sonst eine Unebenheit, der rechte aber mitten in der Sohle ein kleines, deutlich geprägtes, rechtwinkeliges Kreuz zeigte. Dieses Zeichen schien von einem kreuzförmigen Stück Metall herzurühren, welches in die Sohle eingelegt war. Wenigstens sagte dies ein Schuhmacher, welcher mit der Untersuchung der Spuren beauftragt gewesen. Derselbe fügte noch hinzu, daß die Stiefel nicht nach der damals herrschenden Mode gearbeitet wären. Auch erklärte er die Ursache des seltsamen Umstandes, daß beide Spuren sich so dicht hinter einander befanden, auf sehr einfache Art. Augenscheinlich, sagte er, würde ein Mann von mittlerer Größe im schnellen Gehen einen doppelt so langen Schritt genommen haben. Hier jedoch war der Schreitende durch das Gebüsch und die ihm das Gesicht streifenden Zweige plötzlich aufgehalten und dadurch sein Schritt verkürzt worden. Nur diesem Grunde und nicht etwa der Hast oder einer triumphirenden Sicherheit war es zuzuschreiben, daß Jemand, der so schlau und besonnen zu Werke gegangen, sich nicht umgewendet und die gefährlichen Merkmale vertilgt hatte. Während er mit den Zweigen oben kämpfte, hatte er jedenfalls den weichen Boden unter seinen Füßen nicht gefühlt.
Sei dem, wie ihm wolle, die Spuren des verbrecherischen Ganges waren hier zurückgeblieben, wie Schriftzüge auf einem Löschblatt. Es wurden sofort Abgüsse davon genommen, die ich sorgfältig verwahrt habe.
Der Schuhmacher, ein scharfsinniger, aber geschwätziger Mann, sagte ungefragt, daß er solche Stiefel nicht gesehen habe, seit der »junge Squire« (er meinte Herrn Edgar Vaughan) auf Reisen gegangen sei. Für diese ungeforderte Aussage erhielt er einen strengen Verweis von dem Kronbeamten.
Alles, was sich sonst noch nach dem genauesten Verhör herausstellte, war nur, daß ein dunkel gekleideter Fremder am vorigen Tage in einem etwa zwanzig Minuten vom Hause entfernten Gehölz von den Wildhütern gesehen worden, als sie dasselbe nach Waldschnepfen abgesucht hatten. Er schien meinem Vater nicht zu folgen, und die Leute waren der Meinung gewesen, daß er vom Waldwege abgekommen sei. Ehe sie seine Züge sehen konnten, war er ihnen wieder entschwunden; aber sie hatten bemerkt, daß er groß und von dunkler Gesichtsfarbe gewesen. In jenem Reitwege fanden sich keine solchen Spuren, wie bei der Quelle im Gebüsch.
Welches Verdikt die Jury abgab, brauche ich wohl nicht zu sagen.