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Einundzwanzigstes Kapitel.

Unwillkommene Dankbarkeit.

 

Als ich durch einen langen und schweren Schlaf, den ersten seit dem Tode der theuren Mutter, wieder zu dem öden Einerlei des Lebens herabgestimmt worden, las ich den Brief zum ersten Mal, der auf so eigenthümliche Art in meine Hände gelangt war. Selbst jetzt noch erschien es mir als eine Lieblosigkeit gegen meine Mutter, auch nur daran zu denken. Mr. Vaughan hatte ihn in einen frischen Umschlag gelegt und diesen mit seinem Ringe versiegelt. Die wenigen Worte des Briefes waren in deutlicher, runder Handschrift auf einen jener feinen und haltbaren Briefbogen geschrieben, wie sie zur Postbeförderung ins Ausland benutzt werden. An der Schrift bemerkte ich nichts Besonderes, außer daß die Worte ebenso wie die Buchstaben zusammengezogen waren. Der Inhalt war folgender:

»Derjenige, welcher Ihren Bruder gemordet, ist in London 19. Grove-Straße zu finden. Ihnen droht dort Gefahr, wie Sie wissen.«

Weder Datum, noch Unterschrift und das Ganze war so dunkel und unbestimmt gehalten, daß ich mit dem Entschluß nach Devonshire zurückkehrte, es unbeachtet zu lassen. Als wir den Fuß des Berges erreichten, wo sich der schmale Heckenweg, der nach Tossil's Barton führt, von der Landstraße abzweigt, und wo das weiße Thor steht, auf das die ganze Gegend stolz ist, da erschallte ein vielstimmiges Kreischen aus dem Ginsterbusch hervor, und es erfolgte ein stürmischer Angriff auf den Pächter, wobei der Mangel an Körpergröße auf Seite des Feindes durch Ueberzahl und Muth ersetzt ward, so daß seine starken Bollwerke beinahe umgerissen wurden. Mit dem Rufe »Väterchen! Väterchen ist wieder da!« sprangen, zerrten und kletterten ein halbes Dutzend oder noch mehr Sprößlinge um ihn herum, die weder vor seinem Sonntagsrock, noch seinen mit blanken Knöpfen gezierten Gamaschen Respekt hatten. Durch sein Lachen ermuthigt, rissen sie seine Beine hin und her, als solle er zum ersten Mal Schlittschuh laufen, und die kleine Sally, sein Liebling, benutzte sogar die dicke, silberne Uhrkette, ein Familienerbstück, dessen ehrfurchtheischender Anblick oft schon genügt hatte, ihre Augen in der Kirche am Zufallen zu verhindern, um daran empor zu klettern. Scham und Wonne überwältigten den glücklichen Vater dermaßen, daß er sich nicht zu helfen wußte, bis die väterliche Liebe ihm einen Ausweg eingab. Er hob Eines nach dem Anderen in die Höhe und ließ sie Alle, nachdem er Jedem ein paar schallende Küsse gegeben, über seine Schultern zu Boden gleiten, ausgenommen das Baby.

Währenddessen stand die gute Hausfrau, mit einer reinen Schürze angethan, knixend im Hintergrunde und bemühte sich, mich mit trauriger Miene anzusehen, doch behielt die Freude zu sehr die Oberhand, und der Versuch mißlang ihr. Auf ihren runden Wangen war nicht viel Raum für Thränen, doch trotzdem glaubte ich zu bemerken, daß eine aus jedem Auge den Weg über dieselben zu finden suchte. Als der erste Sturm vorüber war, begann sie als echte Frau meine Verlassenheit inmitten so vieler Liebe zu bedauern.

Noch lange Zeit nachher wurde der Pächter in allen benachbarten Kirchspielen als ein Mann, der die Welt gesehen, bewundert und um Rath gefragt. Sein Arbeiterpersonal, aus einem Mann und einem Jungen bestehend, redete ihn vierzehn Tage lang mit »Herr« an, was ihm äußerst unbehaglich war. Mehrere Briefe wurden ihm sogar zum Vorlesen gebracht und Beany Dawe fühlte sich ungerechter Weise zurückgesetzt. Aber auch hier wie immer kam die Welt wieder in das richtige Gleichgewicht, und als man allmählich dahinter kam, daß der Pächter noch ganz der Alte geblieben, bezeigten seine Nachbarn eine große Enttäuschung und sogar ein wenig Geringschätzung.

Es währte nicht lange, bis meine Gedanken zu jenem so verächtlich bei Seite gelegten Briefe zurückkehrten. Immer häufiger, je mehr die Zeit verging und den Widerhaken des Schmerzes abstumpfte, empfand ich es als Sünde, einen solchen Fingerzeig unbeachtet zu lassen. Ueberdies war die Veranlassung für meinen Aufenthalt in Devonshire geschwunden und als mein Geist seine Spannkraft wiedergewann, konnte ich mich nicht länger dem Müssiggang ergeben.

Es war drei Monate nach unserer Rückkehr, an einem frischen kühlen Herbstnachmittage, als ich, während die Kinder nach Heidelbeeren und halbreifen Nüssen suchten, auf einem Baumstamm an einer Lücke im Unterholz saß, welche den Durchblick auf eine unserer Lieblingsaussichten gestattete. In der letzten Zeit hatte ich versucht, von den Punkten, welche meine Mutter und ich so oft zusammen bewundert, Skizzen in Wasserfarben aufzunehmen und diese Stelle sollte den Beschluß bilden. So wild der Plan auch allen denen erscheinen mag, welche die Welt und ihre hochmüthige Geringschätzung weiblicher Fähigkeiten kennen, so hegte ich dennoch die Hoffnung, in London durch Pinsel und Palette Geld zu verdienen und that mein Möglichstes, mich in der Kunst zu vervollkommnen. Daneben hatte ich den Wunsch, einige Andenken an eine verhältnißmäßig glückliche Zeit mit mir zu nehmen.

Die kleine Sally, ein herziges Kind, das jetzt meine liebste Gesellschaft war, hatte sich weiter in das Gehölz hineinbegeben, um noch mehr Erdbeeren auf ihren Strohhalm zu reihen, denn die Walderdbeeren dauern in jener Gegend fast bis zur Tag- und Nachtgleiche Hier das Herbstäquinoktium, also 22., 23. oder 24. September.. Ich hatte gerade die Umrisse entworfen und war im Begriff, die harten Linien nach den sanften Abstufungen der Natur zu mildern, als plötzlich ein prächtiger Edelhirsch hinter einem Nußstrauch hervortrat und leichtfüßig den steilen Berg neben mir herspazierte. Er kam so nahe an mir vorüber mit seinem in der Sonne braunroth glänzenden Geweih, daß ich seine Flanken mit meinem Pinsel hätte berühren können. Durchaus nicht erschreckt oder scheu richtete er aus seinen großen ruhigen Augen einen freundlichen Blick auf mich, der eine Neugierde ausdrückte, die zu würdevoll war, um sich in Worten kund zu geben.

Dann aber, als habe er einen angenehmen Abend in Aussicht, trottete er nach links über die Heidelbeerbüsche davon.

Ehe ich ihn zurückrufen konnte, wozu mich ein kindischer Einfall trieb, rauschten die Zweige des Nußstrauches abermals und ein junger Mann, der einen Augenblick über das Hinderniß des steilen Abhanges stutzte, sprang lachend mitten in das Strauchwerk zu meinen Füßen. Vor mir stand Er, dem ich so lange schon sehnlichst zu danken gewünscht hatte. Als er mich erblickte, verwandelte sich der Ausdruck seines Gesichts jedoch vollständig. Das Antlitz, welches kurz vorher noch so heiter geblickt, ward plötzlich trübe und finster. Mit einem flüchtigen Gruße wollte er an mir vorübereilen, als ich mich ihm in den Weg stellte und seine Hand ergriff. Jeder Nerv erbebte in mir, als ich die Hand erfaßte, die meine Mutter und mich errettet hatte.

»Verzeihen Sie,« sprach er kühl, »ich verliere meine Beute.«

Doch so schnell wollte ich ihn nicht freigeben. Was ich sprach, weiß ich nicht mehr, nur daß es sehr albern, kalt und plump im Vergleich mit dem war, was ich fühlte. Wem sonst, außer Gott und ihm hatte ich es zu danken, daß das Ende meiner Mutter ein friedliches gewesen, und daß sie noch im Stande war, in Worten von mir Abschied zu nehmen, deren jedes mir mehr galt, als mein Leben? Er antwortete mir nicht, und ohne mich anzusehen hörte er mit kalter Zurückhaltung und mit einem, wie ich glaubte geringschätzigen Mitleid zu, gegen das mein Stolz sich aufzulehnen begann.

»Mein Herr,« rief ich aus, als er noch immer schwieg, »ich will Sie nicht länger hindern, jenen armen Hirsch zu tödten.«

Er antwortete mit stolzem Ton: »Ich bin Keiner von den Devonshirer Jägern, welche sich bemühen, eine so edle Race auszurotten.«

Mit diesen Worten deutete er in das Thal hinab, durch welches mein Freund, der Edelhirsch, einem Büschel saftigen Grases zuschritt, um seinen Abendimbiß einzunehmen. Weßhalb aber verfolgte der junge Mann ihn, und warum hatte er ihn seine Beute genannt? Letzteres war höchst wahrscheinlich nur ein Vorwand um mir zu entrinnen, doch die erste Frage konnte ich mir nicht beantworten, und um Erklärung wollte ich ihn nicht bitten. Er zog seines Weges, und ich fühlte mich von der Hälfte meiner Verpflichtung frei.



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