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Zwölftes Kapitel.

Ein herzliches Willkommen.

 

Es ist nicht nöthig, den schmerzlichen Abschied zu schildern, welchen ich von den Gegenständen und Plätzen nahm, die ich so lange geliebt hatte, von Allem, was ein düsteres, doch inniges Interesse für mich besaß, und besonders von meines Vaters Grab. Um demselben noch etwas Sorgfalt zuzuwenden, übergab ich es der Pflege unserer alten, ehemaligen Haushälterin, die im Dorfe wohnte. Das letzte Mal besuchte ich das Grab im Mondschein und meine liebe Mutter war auch dort. Ich mußte sie mehr forttragen als führen. So oberflächlich meine Kenntniß von frohsinniger und glücklicher Liebe, so glaube ich doch, daß die trauernde weit stärker und schöner ist.

Als wir unsere Reise antraten, kamen uns eine Menge der Dorfbewohner entgegen und stellten sich auf beiden Seiten des Weges nach Gloucester bis zu der alten Eiche auf. Während unser Miethswagen zwischen ihnen hindurchfuhr, standen die Männer stumm mit den Hüten in der Hand, und die Frauen knixten schluchzend und hoben unter Segenswünschen ihre Kinder in die Höhe, damit auch sie uns sehen sollten.

Unser Zufluchtsort war das kleine Gut oder vielmehr die Farm in Devonshire, welche ich als Eigenthum meiner Mutter erwähnt habe. Der Ertrag belief sich auf fünf und vierzig Pfund jährlich, und dies war Alles, was uns noch geblieben war, außer tausend Pfund, die mir ein Taufpathe hinterlassen hatte, welches Kapital ich aber nicht angreifen durfte. Den restirenden persönlichen Besitz meines Vaters und den Ueberschuß beim Banquier hatten wir nicht angenommen, da uns versichert worden, daß wir Mr. Vaughan gesetzlich noch sogar für die Einkünfte der verflossenen Jahre von den Gütern in Gloucestershire verpflichtet waren. Allerdings besaßen wir viele Juwelen, doch die werthvollsten waren Familienschmuck und diesen ließen wir zurück. Die uns persönlich gehörenden Schmuckgegenstände waren zum größten Theil Geschenke meines Vaters, weßhalb wir uns nicht entschließen konnten, sie zu verkaufen.

Für mich selber war unsere verhältnißmäßige Armuth von keinem Belang, außer daß ich dadurch in meinen Nachforschungen beschränkt ward. Aber in Bezug auf meine Mutter blutete mir das Herz, und oft wußte ich nicht aus noch ein. Sie war zu sehr an viel Bedienung und den Luxus gewöhnt, welchen ihre schwache Gesundheit nothwendig gemacht hatte. Thomas Henwood und Ann Maples bestanden darauf, unser Geschick zu theilen und beanspruchten nur ein Drittel ihres früheren Gehalts. Doch auch unter diesen Bedingungen glaubte meine Mutter sie nicht behalten zu können. Trotzdem wollte ich es möglich zu machen suchen. Daß ich alle meine Reliquien mit mir nahm, so schwer es auch hielt, sie vor meiner Mutter zu verbergen, ist selbstverständlich.

Als wir unsere neue Heimath spät am zweiten Tage erreichten, kam erst das volle Gefühl der unserer harrenden Entbehrungen über uns. Es war mitten im Winter und bei der Finsterniß eines nebligen Abends waren die ersten Eindrücke nach unserer ermüdenden Reise wahrhaft trübselig. Fortwährend hin und her gerüttelt, über fußtiefe Geleise und Steine so groß wie Kohlenkörbe, lebendig begraben zwischen düstern Hecken, die wie Todesfittiche über uns zusammenschlugen, kamen wir mitunter an steile Hügel, die wir mühsam erklimmen mußten, während die wackelige alte Kutsche hinter uns herkroch. Dann wieder schurrten wir die gewundenen steil abfallenden Wege hinunter bis an den unendlichen Wald und den rauschenden Strom im Thal. Endlich gelangten wir in einen so schmalen Heckenweg, daß er uns an beiden Seiten streifte und außerdem das Durchfahren alle hundert Schritte durch Zickzackwindungen und vorspringende Baumstämme erschwerte, bis wir zuletzt vor das äußere Thor der Farm gelangten. Sie lag nicht weit von dem etwa sechs Meilen westlich von Lynmouth entfernten Dorfe Trentisoe. Diese Gegend ist den Londoner Touristen wenig bekannt, obgleich sie merkwürdigere Parthieen bietet, als Lynmouth selbst.

Nachdem wir über den äußeren Hof zwischen einem Schuppen auf der einen und einer Sägegrube auf der anderen Seite hindurchgefahren waren, während die Räder in den mit Stroh bestreuten, aufgeweichten Boden einsanken, kamen wir zu dem eigentlichen Pachthof und waren somit, wie der Fuhrmann sagte, »daheim zu Hause.« Dieses Haus war ein langgestrecktes niedriges Bauernhaus, das mich mit seinem rissigen Strohdach und den plumpen Traufen darunter an ein mit einer nassen zerlumpten Pferdedecke behängtes Reck erinnerte.

Der Pächter war noch nicht vom Markte aus Ilfracombe heimgekehrt, aber seine Frau, die ehrsame Mrs. Huxtable zeigte sich nach einem Weilchen unter der Hausthür, in der einen Hand einen Scheuereimer, in der andern ein Licht haltend, das in einer Rübe steckte. Bei der unsicheren Doppelbeleuchtung sahen wir eine kleine untersetzte Frau von lebhaftem wirthlichem Aussehen, mit Wangen von der Farbe der sogenannten Eisäpfel und geschmückt mit einer wunderbaren Haube.

»Herr, Du meine Güte, Suke!« rief sie in das Innere des Hauses hinein, »da sind ja wohl gar die Herrschaften schon gekommen und wir hier noch Alle in vollem Schmutz! Lauf', Kind, was Du kannst, nach dem Kälberstall, treibe beide Schweine hinaus, hole Dir die Heugabel zum Streuen und schütte ihm Hafer in die Krippe.«

Nachdem sie auf diese Weise für unser Pferd gesorgt hatte, ging sie uns entgegen.

»So sind Sie also glücklich angekommen! Ich freue mich unbändig, Sie zu sehen. Sie sind gewiß halbtodt vor Kälte? Ist hier eine häßliche Gegend für Ihresgleichen!«

Bei diesen Worten schob sie uns eilfertig in das Haus hinein, wo wir uns vor einem großen Holzfeuer, das in einem riesigen Kamin glühte, niederlassen mußten. Ueber dem Feuer hingen eine Anzahl großer Töpfe und Krüge auf sägenförmigen Haken. Diese Töpfe brodelten und prasselten immer mit der Devonshirer Gastfreundschaft um die Wette. Die niedrige Küche hatte einen sandbestreuten Lehmfußboden, in den schon eine Menge kleiner Vertiefungen getreten waren, wie sie die Knaben zum Marmelspiel zu machen pflegen. Aber das Merkwürdigste war die Decke. Durch tiefgehende Balken war sie der Länge nach in vier verschiedene Felder getheilt, von denen einige durch quer darüber genagelte Stangen eine Anzahl Gitter bildeten. Diese bargen eine Menge der herrlichsten Schinken, während darunter aufgereihte Zwiebeln und die verschiedenartigsten Kräuter hingen.

Frau Huxtable trat an den Anrichtetisch und eine große Schüssel fassend, drehte sie den Kopf nach uns, um uns ordentlich in Augenschein zu nehmen.

»Arme Dame,« sprach sie mitleidig, »wie schrecklich blaß und elend sieht sie aus. Aber sehen Sie, wir haben viele Schinken da oben und morgen wollen wir noch ein Schwein schlachten. Auch will uns der Pächter Badcocke ein Schaf schicken, weil unsere alle lammen wollen.«

Zu mir gewendet sagte sie dann: »Auch Sie Miß, sehen grausam elend aus. Mögen Sie gern Cider?«

»Nein, Frau Huxtable, ich ziehe Wasser vor.«

»Oh, pfui, das vermaledeite Zeug sollen Sie nicht haben. Wir haben ein Faß schönes Braunbier und über ein Dutzend Schalen Milch und Sahne.«

Ihr warmherziges Geplauder versetzte uns bald in behagliche Stimmung und als das Feuer in der Wohnstube brannte, zeigte sie uns unter vielen Entschuldigungen und mit der Bitte, so fürlieb zu nehmen, dies Zimmer, welches fortan das unserige sein sollte.

Nach dem Thee, sobald meine liebe Mutter sich etwas erholt hatte, brachte ich sie zu Bette. Dann setzte ich mich an das verlöschende Feuer und dachte über unsere Lage nach. Weder das Fremdartige meiner neuen Umgebung, noch meine körperliche Ermüdung nach der theils mit der Eisenbahn und Post, theils zu Wagen zurückgelegten Reise konnten meine Gedanken von dem einen Gegenstande ablenken.

Anderen wäre allerdings jede Hoffnung, den Mann, für dessen Tod ich lebte, zu entdecken und der Gerechtigkeit zu überliefern, mehr und mehr geschwunden. Vertrieben von der Stätte, an welcher alle Erinnerungen hafteten, deren Fäden allein mich zum Ziele führen konnten, aller Mittel beraubt, um gleichgültige Menschen bewegen und starke Helfer dingen zu können; ja, mehr noch, wie ich von nun an Schulden abzuwehren und meine Mutter vor Sorgen zu schützen hatte – welche Aussicht, nein, welche Möglichkeit war jetzt noch vorhanden, daß ich, ein schwaches, hülfloses Mädchen, nur durch meine unerschütterliche Willenskraft und Zuversicht einen schlauen starken und verzweifelten Mann in meine Gewalt bekommen würde?

Und dennoch – mochte sonst Alles zweifelhaft, unwahrscheinlich oder unmöglich sein, mochten die Menschen meine Widersacher sein und der Himmel mir sein Ohr verschließen; mochte sich Dunkelheit über die Erde breiten, wie die Erde über dem Wasser lagert, der Mörder sich jenseits der Wüste Sahara oder als Einsiedler in den Anden verbergen; was immer geschehen mochte – so lange Gott nur noch über uns und die Welt unter unseren Füßen war, glaubte ich so sicher, daß ich jenen Mann vor Seinen Thron senden würde, wie es ihm sicher war, von demselben dorthin geschleppt zu werden, wo Feuer und Ketten, Heulen und Zähneklappern seiner harrten!



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