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Erstes Kapitel.

Die dunkle That.

 

Eine traurige, seltsame Geschichte habe ich zu erzählen, eine Geschichte, deren Aufzeichnung ich nur zu ertragen vermag, weil sie zur Rechtfertigung einer ehrenwerthen alten Familie dienen soll.

Wenn ich in meiner Erzählung zuerst einen zu schroffen, herben und entschiedenen Ton annehme, so kommt es daher, daß ich Alles wieder durchlebe wie damals, daß ich die gleiche Qual, denselben leidenschaftlichen Schmerz von Neuem empfinde, während ich dies schreibe. Vielleicht bin ich jetzt weiser, vielleicht auch nur schwächer geworden. Treue Liebe und unerbittliche Rachsucht waren jahrelang mein Lebenselement; Alles in mir war extrem. Vergeben und Vergessen hielt ich für verächtlich, bis weibliche Sanftmuth und liebevolles Mitgefühl mich freier und größer denken lehrten.

An dem Tage, als ich zehn Jahre alt wurde, begann die lange Unglückszeit. Es war am 30. Dezember 1842. Mit Stolz küßte mich mein zärtlicher Vater, weil ich das Datum in englischer, französischer und italienischer Sprache buchstabiren, schreiben und aussprechen konnte; allerdings keine staunenswerthe Kunstfertigkeit für ein kluges, gut unterrichtetes Kind. Ich aber war keineswegs ein kluges Kind, und Niemand außer meinem Vater war im Stande, mich auch nur einen einzigen Buchstaben zu lehren. Als meine Eltern einige Jahre nach ihrer Verheirathung durch meine Geburt neue Freude gefunden, da wurde ihr Elternglück gar bald von einer finsteren Sorge bedroht. Die Furcht, welche sie quälte, wagten sie sich indessen nicht zu gestehen, damit das trotzige, leidenschaftliche, liebende Wesen, an dem ihr ganzes Herz hing, ihrer Liebe nicht entrissen und weiter von ihnen entfernt würde als durch den Tod – mit einem Wort – daß Wahnsinn sich bei mir herausstellen möchte.

Endlich aber konnten sie ihre Angst nicht länger vor einander verbergen. Ein Blick verrieth Alles, und dunkel erinnere ich mich noch des unklaren Staunens, das die darauf folgende Scene in mir erregte. Wie ein Dieb schlich ich aus der Ecke hinter den Falten der Gardine hervor, und zitternd lehnte ich mich an meines Vaters Kniee, damit er zu mir sprechen sollte. Bestürzt über sein Schweigen – etwas mir ganz Neues – zog ich ihm die Hände von den Augen und fand heiße Thränen darauf. Nun umschmeichelte und liebkoste ich ihn, in dem Gefühl, daß er sich meinetwegen gräme. Dann stellte ich mich böse und schalt ihn unartig, daß er weine. Aber ich konnte ihm die Ursache seines Kummers nicht entlocken und selbst während er mich küßte, schien er mich zu beobachten.

Noch war mein träumerisches Sinnen über diese unerklärliche Erscheinung nicht vorüber, als eine neue für ein siebenjähriges Kind großartige Begebenheit mich davon abzog. Vater, Mutter und ich, wir fuhren eine lange Strecke mit Pferden, auf denen gelbe Männer ritten; wie spätere Einsicht mich belehrt hat, mußten wir mit der Post nach London gereist sein. Unter vielen wunderbaren Erlebnissen ist mir besonders eine lange und geheimnißvolle Zusammenkunft mit einem freundlichen, weißhaarigen alten Herrn erinnerlich. Er nahm mich auf den Schooß, was mir beinahe als eine unpassende Vertraulichkeit erschien; dann strich er mir das Haar glatt und tastete so viel an meinem Kopfe herum, daß ich denselben ärgerlich zurückzog, denn ich besaß von jeher ein starkes Bewußtsein meiner Würde. Auch legte er mir allerlei kindische Fragen vor, gegen die ich mich sehr ablehnend verhielt, denn das »Rothkehlchenlied« Im Original » Cock Robin«, ein in den verschiedensten Ausgaben weit verbreitetes illustriertes Kinderbuch. – D.Hg. und »Rothkäppchen« hatte ich längst abgethan. Auch machte sich vielleicht der natürliche Widerwillen gegen das Ausforschen bei mir geltend. Mein Vater aber trat auf mich zu und bat mich mit Thränen in den Augen, Alles zu beantworten, während meine Mutter uns ein gutes Beispiel gab und ein Schluchzen unterdrückte. Ein angeborener Widerspruchsgeist schärfte meinen unentwickelten Verstand, und ich bemerkte Alles.

»Nun geh' nur, mein Herzchen,« sagte der alte Herr endlich, »Du bist ein artiges kleines Mädchen.«

»Das ist nicht wahr!« rief ich aus; denn ich hatte von einem voreilig gemietheten flüchtigen Kindermädchen unschickliche Reden gelernt.

Der alte Herr schien verwundert und meine Mutter war sehr erschrocken. Mein Vater lachte erst, dann blickte er mich traurig an, und ich that, was er von mir erwartet hatte – ich warf mich in seine Arme. Ein Wort von ihm und ich lief auf den großen Arzt zu, erbat seine Verzeihung und bot ihm sogar einen Kuß an. Heiter lächelnd wendete dieser sich darauf zu meinen Eltern, schüttelte meinem Vater die Hand und verbeugte sich, die Rechte auf das Herz gelegt, vor meiner Mutter. Von ihr erfuhr ich später, daß er die folgenden Worte gesprochen hat:

»Gestatten Sie, Mrs. Vaughan und auch Sie, geehrter Herr, daß ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch ausspreche. Der Kopf ist edel geformt und geräumig entwickelt. Die kleinen Erschütterungen sind nur durch das Wachsthum des Gehirns entstanden, doch werden die Congestionen nicht permanent sein. Die Anfälle, welche Sie so beunruhigt haben, sind in diesem Alter ein gutes Zeichen – ja, sie sind das Heilmittel der Natur selber. Sie mögen sieben bis zehn Jahre andauern, und natürlich werden sie nicht plötzlich aufhören. Doch werden sie schwächer und in größeren Zwischenräumen eintreten, wenn die Kleine das vierzehnte Jahr erreicht hat. Für den Verstand brauchen Sie durchaus keine Befürchtungen zu hegen. Nur achten Sie darauf, daß sie sich ruhig verhält und treiben Sie sie nie zum Lernen an. Sie darf nur so viel lernen, wie ihr von selber zuweht; aber was sie gelernt hat, das wird sie nie vergessen.«

Niemals werde ich die mancherlei mir freilich unverständlichen Freuden- und Dankesbezeigungen vergessen, mit denen meine Eltern die Befreiung von ihrer drückenden Sorge begrüßten. Der alte Herr ging in ein anderes Zimmer, und mein Vater hob mich mit einem Schwunge auf seine Schulter. Als ich meine kleine Hand, welche an seiner Wange gelegen, wieder fortnahm, war sie ganz von Thränen überglänzt.

Von der Zeit, welche nun folgte, habe ich keine Erinnerungen, außer daß ich sehr wenig lernte; der Wind, welcher mir das Lernen zuwehen sollte, war vielleicht nicht günstig. Das Wenige aber lehrte mich meines Vaters Mund. Er hatte eine wunderbare Geduld mit mir. Fast den ganzen Tag verlebten wir mit einander und war er einmal gezwungen, mich zu verlassen, so aß und trank ich Nichts, bis ich ihn wieder sah. Wurde sein Pferd gesattelt, so begann auch Miß Clara's kleiner grauer Pony zu wiehern und zu stampfen, und Miß Clara war flugs bereit, ihr blaues Reitkleid anzulegen. Selbst auf die Jagd und Fischerei nahm der Vater sein Klärchen stets mit, außer im strengen Winter. Dann stand ich aber oben auf dem Dach des Hauses und spähte rund umher nach dem Pulverdampf seiner Flinte.

Ach! Warum verweile ich so lange bei diesen glücklichen Zeiten? Ist's Freude bei dem Gedanken, wie lieb wir uns hatten, oder ist es die schmerzliche Frage, wie lange es noch währen wird, bis wir uns wieder haben werden?

Am 30. Dezember war meiner Eltern Hochzeitstag gewesen, und gerade sechs Jahre darauf, an demselben Datum, war ich geboren. Heute, wo ich zehn Jahre alt geworden – ein bedeutender Wendepunkt am Eingang des Lebens – wie freuten sie sich da zu einander und zu mir! Bei Tische saß ich stolz zwischen ihnen und warf das ganze Ceremoniell über den Haufen, während meine kindischen Einfälle den Vater belustigten und die Mutter plagten. Mein Vater war ein so einfacher und natürlicher Mann, daß er selbst bei feierlichen Gelegenheiten mit den Dienern wie mit Menschen zu sprechen pflegte. Trotzdem nahm sich Keiner je Freiheiten gegen ihn heraus – wenn es nicht etwa eine war, daß sie ihn liebten.

Vor dem Nachtisch begrub ich meine schönste Puppe mit allen Ehren und etwas Herzeleid vor der Thür unter einem eigens zu diesem Zwecke hergerichteten Marmorstein. Mein Vater war der Haupt-Leidtragende, doch weinte er mir nicht genug, bis ich ihn herzhaft gekniffen hatte. Nach diesem charakteristischen Abschied von der Kindheit mußte er wieder mit mir an die Tafel zurückkehren, wo ich ihm und der Mutter die letzten St. Peters-Trauben vorlegte, ihm aber immer die größten heraussuchte.

Dann tranken wir auf unser vereintes Wohl, und ich stürzte mich nach Kinderart mit Herzenslust auf das Desert. Mein guter Vater versorgte mich fortwährend mit viel feineren Näschereien, als man heutzutage bekommt, während meine Mutter sich vergeblich stellte, als vertheidige sie die Festung. Zum ersten Mal kostete ich Guyaven-Gelee. Noch sehe ich die ganze Scene lebhaft vor mir. Das große hohe Zimmer mit dem dunkeleichenen Wandgetäfel, auf dem die Lichter und Schatten flackernd spielten; die dunkelrothen Sammetvorhänge, hinter denen die Fenster schlafen gegangen; die hohen, schwarzen Stühle mit Damastpolstern, doch harten, scharfen Kanten; das ganz aus Stein gehauene Kamingesims, gegen das ich nicht mit den Füßen stoßen durfte; die schwere Lampe, die mich nie essen ließ, ohne daß die flüchtigen Schatten meiner Locken über den Teller huschten, und dann ihr Nebenbuhler, das mächtige Kaminfeuer, welches beim Gedanken an den Frost draußen in bläulichen Flammen erzitterte – alle diese Dinge, sogar das Ticken des Chronometers, sind mir fast deutlicher gegenwärtig, als das Pult, an welchem ich schreibe.

Mein Vater lehnte lachend und scherzend, voller Glück und Behagen, in seinem Armstuhl, sein Glas mit altem Portwein vor sich. Sein Weib ihm gegenüber, sein Klärchen an sein Knie geschmiegt – was blieb ihm noch zu wünschen? Mit keinem König auf der ganzen Welt hätte er getauscht. Früher hatte er sich vielleicht einen Sohn als Träger seines alten Namens gewünscht, doch jetzt schämte er sich förmlich dieses Wunsches als einer Verschwörung gegen mich. Nachdem sein Glas oftmals zwischen uns hin und her gewandert – Vater trank und Klärchen nippte – da fing er an, gar wundersame Geschichten von den Schüssen zu erzählen, die er an jenem Tage gethan, besonders, wie er eine Waldschnepfe durch ein Elsternnest getroffen habe. Meine Mutter lauschte mit schalkhaftem Staunen, ich mit dem gläubigsten und gespanntesten Interesse.

Dann spielten wir Dame und Würfel, ja, zum Schein sogar Schach, bis neun Uhr, wo meine Gnadenfrist abgelaufen war. Drei Mal kam Ann Maples, um mich zu holen, doch ich wollte nicht mitgehen. Endlich gehorchte ich auf ein gütiges Wort von meinem Vater. Meine Mutter erhielt nur ein schmollendes Küßchen, denn ich wollte mich ein wenig rächen; meinen Vater aber habe ich nie anders als von ganzem Herzen geküßt. Mit beiden Armen umklammerte ich seinen Hals und, meine kleine Wange an die seine legend, flüsterte ich ihm in's Ohr, daß ich Niemand auf der Welt so lieb hätte, wie ihn. Er drückte mich zärtlich an seine Brust, und jetzt weiß ich bestimmt, daß er mich trotz seines Lächelns traurig ansah. An der Thür wendete ich mich um, streckte die Hände nach ihm aus und blickte ihm noch einmal in die liebevollen, lächelnden Augen. Nur noch dies eine Mal, denn als ich ihn wiedersah, lag er bleich und starr im Sarge. Nach und nach will ich Euch Alles erzählen, was ich weiß; jetzt kann ich nur empfinden. Die Gemüthsbewegung – doch fort mit den großen Worten – der Schmerz, welcher mein kleines Herz überfluthete, zerreißt es mir jetzt wieder wie damals. Lange Zeit blieb ich stumm und betäubt von dem Schrecklichen, das ich nicht zu fassen vermochte. Dann plötzlich, mit einem Schrei wie in meinen Krämpfen, warf ich mich über seine Leiche. Was galten mir Todtenbahre und Leichentuch, das starre Antlitz und alle Schauer des Todes? Mögen sie Stiefkinder schrecken – nicht mich bei meinem Vater.



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