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Sechszehntes Kapitel.

Die Schlucht hinab.

 

Etwa eine halbe englische Meile von Tossils Barton (das Gehöft, wo wir wohnten) befindet sich ein Thal oder vielmehr eine riesige Bergschlucht, von äußerst ungewöhnlicher Bildung. Ein sich zwischen den Bergwänden hinschlängelndes Thal ist mit flachen, hohen und runden Felsstücken bestreut, die auf dem sammetartigen Grasboden zu weiden oder neugierig in einen klaren Forellenbach zu gucken scheinen, der glitzernd und schäumend über eine Steintreppe hüpft, die von keinem einzigen Baume überschattet wird. Dieses enge, doch wohlige Thal wird plötzlich, wo es sich der See nähert, zu einer öden Kluft, welche die dem Bristol-Kanal zugewandten Höhen, aus einander spaltet. Die beiden Bergwände zur Rechten und Linken senken sich wie nach dem Lineal geschnitten, jäh gegen einander, ähnlich einem umgekehrten, großen Giebeldach. Sie sind so steil, daß es schwer hält, sie zu erklimmen. In der Tiefe unten blitzt ein Silberfaden. Es ist der eingeengte Strom, der sich den Weg über sein steiniges Bett erzwingt, und an dessen Ufern kein grüner Halm sprießt. In der ganzen ungeheuren Schlucht wächst überhaupt nur äußerst wenig, von der Höhe bis zum Grunde kein Baum, kein Strauch, und nirgends bietet sich dem Fuß eine Klippe oder ein Vorsprung zum Ausruhen; Alles ist ein graues, kahles, hartes Gerölle von Felsensplittern und losem Gestein. Es ist, als sei hier der Ballast von Millionen Flotten zu beiden Seiten aufgethürmt und in fortwährendem Gleiten begriffen. Man vergißt, wenn man darauf hinschaut, daß es noch Leben in der Welt giebt. Die Verödung stimmt aber nicht schmerzlich, dazu ist sie zu erhaben. Die grelle Mittagssonne wenn sie die vom Orkan durchfurchten Steinmassen beleuchtet, der lange unheimliche Schatten, der sich dann in sein Lager zurückschleicht, und der feierlich ernste Schritt, mit dem der Abend zu seiner Nebelhülle niedersteigt – ich weiß nicht, welcher von diesen Zeitpunkten den tiefsten und wehmüthigsten Eindruck hervorbringt. Kein Geräusch, weder Stimmen von Menschen, noch Thieren, nicht das Rauschen der Fluth dringt bis hierher. Der kleine Strom kommt nach seinem hart erkämpften Lauf zu keiner friedlichen Vereinigung mit dem See, sondern bildet, von einem Steinwehr aufgehalten, einen Teich und verliert sich gurgelnd in kleinen Strudeln. Nur der ächzende Wind zieht stoßweise die melancholische Schlucht hinauf und hinab. Das berühmte »Felsenthal,« welches ungefähr vier Meilen weiter nach Osten liegt, erscheint mir zahm und gewöhnlich im Vergleich mit dieser großartigen Kluft. Vielleicht wäre es mir entgangen, wie kühn die Umrisse sind, wenn ich nicht versucht hätte, sie zu skizziren.

Meine Bewunderung dieses herrlichen Platzes hatte mir längst den Wunsch eingeflößt, ihn meiner Mutter zu zeigen. Als sie sich daher eines schönen Morgens im April wohler denn sonst befand, überredete ich sie, die Parthie auf Mrs. Huxtable's Esel zu unternehmen. Unser Weg nach der großen Schlucht führte zuerst abwärts durch ein kleines Nebenthal. Hell und grün lacht es in knospender Frische, umschmeichelt neckend den sprudelnden Bach, der kaum Zeit hat, Etwas zu erwidern, sondern die Amseln ungestört auf ihren Nestern plappern läßt und den Forellen ihre flinken Sprünge gestattet, die man so hübsch durch die Erlen rascheln hört. Unter den Büschen im Grunde gesellt sich ein zweites Bächlein zu ihm, und hier ist ihnen die Ehre einer Brücke zu Theil geworden, auf welcher das Frauenhaar wuchert, und die mit ihrem hohen, kunstlos geformten Bogen aussieht, wie ein alter, über den Strom geworfener Packsattel.

Von diesem Punkte aus gingen wir einen Heckenweg entlang, der von seitwärts bergan bis zu dem steilen Abhang führt. Unseren ruhigen Esel hatten wir an eine zerbrochene Pforte gebunden, und ich führte meine Mutter auf einem schmalen Pfade durch das Dickicht bis an den Rand der tiefen Felsschlucht. Der Anblick, welchen sie hier genoß, erfüllte sie mit Staunen. Wir hatten die Höhe von etwa zweihundert Fuß Ca. 61 m. erreicht, der Bergrücken erstreckte sich noch tausend Fuß Ca. 305 m. höher. Wir standen auf der Grenze der Vegetation, welche wie durch eine bergab führende gerade Linie von dem steinbruchartigen Abhang geschieden ist.

Meine liebe Mutter war ermüdet, und ich bat sie, umzukehren, weil ich fürchtete, die Aussicht möge sie schwindlich machen. Da trat sie plötzlich einen Schritt vor, um eine zwischen dem Gestein hervorsprießende Glockenblume zu pflücken.

Das Gerölle unter ihren Füßen gab nach, und es gerieth unter, über und neben ihr in Bewegung. Bis an die Kniee einsinkend, fiel sie seitwärts und begann erst langsam, dann schnell und immer schneller den rauhen Abhang hinabzurutschen, während das gleitende Gestein sich mit knirschendem Tosen in immer größeren Massen um sie sammelte. Schreiend sprang ich ihr nach in die Lawine hinein, ohne zu bedenken, daß ich nur Schaden anrichten konnte. Stärker und rascher und lauter sausend rutschte die sich drängende und häufende Steinmasse den jähen Fels hinab. Ich sah, wie die theure Mutter drunten sich bemühte, die Hände zu falten und mir ein letztes Wort zu sagen. Mit einer verzweifelnden Anstrengung riß ich mein Tuch aus dem krachenden Strudel und warf ihr das Ende desselben zu.

Doch sie versuchte nicht, es zu ergreifen. Ein schwerer Stein sprang über mich fort und traf ihren Kopf. Sie verlor die Besinnung und war beinahe verschüttet. Weiter und weiter fuhren wir in rasender Eile auf den Felsenvorsprung zu, unter dem der Strom dahinfloß. Mir schwanden beinahe die Sinne, und der Schrecken wich stummer Verzweiflung, als ich plötzlich durch das rasselnde Getöse einen Zuruf vernahm. Ein Mann, der am äußersten Ende des festen Bodens stand, gab mir durch ein Zeichen zu verstehen, das ich ihm das Tuch zuwerfen solle. Mit aller mir noch gebliebenen Kraft that ich es, aber nicht so, wie er meinte; ich warf es ganz zu ihm hinüber und deutete auf meine Mutter hinunter. Einen Augenblick staute sich die Steinlawine, er sprang ungefähr zwanzig Fuß bergab durch Haidekraut und Ginster, dann griff er, um seinen Lauf zu hemmen, nach einem starken Eschenschößling. An diesen befestigte er in einem Nu das Tuch, einen starken langen Plaid, und gerade als meine Mutter vorüber gerissen ward, schwang er sich mit dem Ende des Shawls in das schurrende Gerölle hinab. Ich sah, wie er sich springend abmühte, um zu meiner Mutter zu gelangen und sie dann aus dem beweglichen Grabe hob, während er selber ausglitt. Dann schwang er sich sammt seiner Last mit Hülfe des Shawls nicht zurück – das war unmöglich – aber in schräger Richtung bergab. Ich sah das starke Bäumchen sich wie eine Angelruthe biegen und in meinem Herzen kämpften Furcht und Hoffen. Ich sah noch, wie er mit einer verzweifelten Anstrengung, welche die Esche mit einem Ruck bis zur Erde beugte, aus dem wüsten Chaos sprang und meine Mutter auf Haidekraut und dürre Farren legte. Was weiter geschah, weiß ich nicht, da ich vollständig besinnungslos wurde, ehe er mich in derselben Weise rettete.

Wir mußten wohl in Pächter Huxtable's Karren heimgekommen sein, denn ich erinnere mich deutlich, daß Mrs. Huxtable in dem allgemeinen Wirrwarr und der Angst, während meine Mutter noch ohne Besinnung war, wüthend auf die arme Suke losfuhr, weil sie das elegante Gefährt fortgeschickt hatte, ohne es von dem Lehmstaube zu reinigen, wodurch unsere Kleider, die von den spitzen Steinen zerfetzt und durchlöchert waren, »ganz schrecklich zugerichtet seien.« Die arme Suke wäre wahrscheinlich noch weit übler fortgekommen, wenn sie sich bei dieser Gelegenheit Zeit genommen hätte, den Karren zu reinigen.

Als der Pächter nach Hause kam, übertraf sein Gesicht, das in hohem Grade fähig war, Erstaunen auszudrücken, seine Worte bei Weitem.

»Hm, hm, das ist nun mal nicht anders,« war Alles, wodurch er an diesem Tage seine Gedanken kund geben konnte, obgleich Jeder, der ihn kannte, genau wußte, daß er sich tief und ausschließlich mit der Sache beschäftigte. Während der nächsten Woche rieth er mir fortwährend, es nie wieder zu thun, und Nichts konnte ihm den Glauben nehmen, daß ich hinunter gesprungen sei und meine Mutter mich habe retten wollen.

Seine Frau aber hatte den Kopf bald wieder oben. Sie schickte nach »Coom« zum Doktor, sie brachte die liebe Mutter zu Bette und verband ihre Wunden mit Heilkräutern, die besser waren als aller Apothekerkram; sie wusch ihr die Schläfen mit Rosmarin und lief in das Thal hinab, um Baldrian zu holen, der, wie sie versicherte, »neun verschiedene Gebrechen heilen könne«. Dann gebot sie tiefste Ruhe im Hause und keine Zunge durfte sich regen, außer ihrer eigenen. Ihren ältesten Sohn, einen prächtigen Sprößling des Hauses Huxtable, schlug sie, weil er weinte, worauf er natürlich schrie. Sie bezwang sogar ihre Begierde, mehr zu erfahren, als irgend Jemand wissen konnte und erzeigte meiner Mutter so viel Güte und Theilnahme, daß ich sie sofort und für alle Zeit liebgewann.

Matt und schwer athmend lag meine Mutter in dem Bette, das seit langen Jahren der Stolz von Tossil's Barton war. Die Bettstelle, welche, wie so viele im nördlichen Devonshire, aus Eichenholz geschnitzt war, wäre auffallend hübsch gewesen, wenn nicht irgend ein Vorfahr der Huxtable's sie mit weißer Tünche geziert hätte.

Hauptsächlich stolz war die Familie aber auf die Steppdecke. Sie war aus karoförmigen Flicken von den verschiedensten Farben zusammengesetzt und im Mittelpunkt mit einem Todtenkopf und zwei darunter gekreuzten Knochen verziert.

Als ich sie zuerst erblickt, hatte ich sie die Treppe hinabgeworfen, aber meine Mutter ließ sie wieder heraufbringen und benützte sie, weil sie wußte, wie viel die guten Leute darauf hielten und es ihr zu leid gethan hätte, sie zu kränken.

Jetzt lag eine ihrer schlanken Hände darauf, deren zarte Haut von Flecken und Schrammen entstellt war. Sie hatte den Finger gekrümmt, auf dem sie den Trauring trug, und er war noch steif und starr. Unter heißen Thränen kniete ich an ihrem Lager und betrachtete ihr friedliches todtenähnliches Antlitz. Ich hatte bis jetzt nicht gewußt, wie tief und stark meine Liebe zu ihr war.

Ich glaube bestimmt, daß die schreienden Farben der Flickendecke durch ihre geschlossenen Augen auf ihre Lebensgeister wirkten. Die Natur lehnte sich unbewußt dagegen auf und gewann ihre Thatkraft wieder. Sie wandte die Augen schwach davon ab, und plötzlich zu sich kommend, rief sie aus:

»Ist sie gerettet, ist sie gerettet?«

»Ja, Mutter, hier bin ich, bei meiner lieben guten Mutter.«

Sie breitete die Arme aus, und mich lange krampfhaft umschlungen haltend, dankte sie Gott mit Thränen.



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