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XXXII.

Man hatte Hornung im Wagen weggebracht. Durchs Fenster hatte Halja sie gesehen: diese vier kräftigen, stämmigen Männer mit den gewöhnlichen und doch wissenden Gesichtern. Sie hatten den schreienden und um sich schlagenden Hornung weggeschleppt.

Stunden waren vergangen. Halja lag mehr als sie saß in dem liefen Sessel und sah mit stummem, starrem Blick auf die blutigen Glasscherben auf dem Marmortisch. Auch Jordan betrachtete diese Scherben, aber er dachte dabei an andere Glasscherben – an die Glasscherben, die er in Hornungs Zimmer gefunden hatte und die sich jetzt, in Papier gewickelt, in seiner Tasche befanden. Sie waren nicht blutig, aber Jordan wußte, daß ihre Bedeutung eine viel schlimmere war als die dieser harmlosen blutbefleckten Scherben auf dem Tisch vor ihm.

Halja hatte endlich die Augen geschlossen. Noch eine Viertelstunde verging, dann verrieten ihre tiefen Atemzüge, daß sie eingeschlafen war. Jordan stand leise auf, holte aus dem Vorzimmer seinen Mantel und deckte ihn vorsichtig über sie. Dann drehte er das elektrische Licht ab und setzte sich unweit von Halja in einen Sessel. So saß er stumm im Dunkeln neben ihr, stundenlang, und wachte über ihren Schlaf.

Es war schon hell, als das Klingeln des Fernsprechers ihn aus seinem halb bewußtlosen und doch nur schlafähnlichen Zustand riß. Er stand auf, griff nach dem Hörer.

Ein Arzt der Nervenheilanstalt meldete sich.

»Hier spricht Jordan«, sagte der Fabrikbesitzer leise, aber dann bemerkte er, daß Halja erwacht war, und sprach lauter: »Ja, ich bin ein Freund des Hauses ... Sie können mir ruhig alles sagen.« »Wir stehen vor einem Rätsel«, hörte er die etwas eintönige Stimme des Arztes. »Es handelt sich zweifellos um jählings zum Durchbruch gekommenen Wahnsinn. Man hätte ja später die Ursachen nachprüfen können. Aber – das ist das Merkwürdige – vor einer halben Stunde ist der Kranke verschieden. Wie gesagt: ein Rätsel. Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß unsererseits nichts unterlassen wurde, um ...«

»Ich danke Ihnen«, sagte Jordan und hängte ein. »Wie steht es?« fragte Halja angstvoll.

Er sagte ihr gleich die Wahrheit:

»Er hat ausgelitten.«

Dieses verbrauchte Wort, bei dem sich schon fast niemand mehr etwas denkt, brachte sie zum Weinen.

»Es war vielleicht besser so«, meinte er zögernd.

»Nichts ist schrecklicher als lebendig tot sein.« »Sie meinen, er war wahnsinnig geworden?«

»Das steht fest.«

»Ich bin schuld«, flüsterte sie und weinte wieder.

»Ich und auch Sie ... Er hat es nicht ertragen ...«

»Hören Sie mal, Mrs. Hornung«, sagte er streng und stellte sich vor sie hin. »Sie sind eine so vernünftige Frau, daß ich nicht glaube, Sie sagten das mit Ueberlegung. Ihr Gatte hatte sich da in Geschäfte eingelassen, die so hohe Anforderungen an seine Nerven stellten, daß er zusammenbrach. Sie wissen sehr gut, daß sein Gefühl für. Sie – wenn er es in gewissem Sinne überhaupt gehabt hat – nie so stark war, daß infolgedessen sein Verstand auch nur gefährdet hätte sein können.« Sie schwieg lange, aber dann sagte sie tonlos, und es klang verzweifelt:

»Sie mögen recht haben – mit dem Verstand. Das Gefühl aber wird mich immer anklagen. Nie werde ich dieses schreckliche Schuldbewußtsein loswerden.«

Vom Fernsprecher erscholl wieder ein Rufzeichen. »Wer spricht?« erkundigte sich Jordan. »Jenkins? Was ist denn? Ja, ich selbst, Jordan ist am Fernsprecher.«

»Mr. Jordan«, meldete Jenkins. »Heute um drei Uhr kommt ein Vertreter des Staates zu uns. Wer es sein wird, wissen wir noch nicht. Mit diesem Vertreter müssen Sie verhandeln. Davon hängt es ab, ob wir die Staatsaufträge bekommen oder nicht.«

»Wie sind die Aussichten?«

»Schlecht Man gab mir zu verstehen, daß, wenn wir den Arbeiter gefunden hätten, dann natürlich ... und so weiter. Aber die Burns Agentur meldet die Ergebnislosigkeit aller Nachforschungen. Trotzdem müssen wir alles versuchen, um die Aufträge zu bekommen, denn ohne sie sind wir sofort fertig.«

Jordan sprach plötzlich von etwas anderem:

»Haben Sie die Frühblätter schon durchgelesen?«

»Ja.«

»Was melden sie über Hornung?«

»Sie bringen nur einen kurzen Vermerk über eine plötzlich ausgebrochene Nervenkrankheit.«

»Ich dachte es mir.«

»Steht es schlimmer?«

»Nicht, soweit es uns betrifft, denke ich. Also gut, Jenkins. Ich werde um drei Uhr da sein. Auf Wiedersehen.«

Jordan hängte ein und ging langsam auf Halja zu. Er setzte sich neben sie, beugte sich vor und zog ein unordentlich zusammengefaltetes Papier aus der Tasche.

»Sehen Sie mal her«, sagte er finster.

Staunend betrachtete sie die Glasscherben, die sich in dem Papier befanden.

»Was soll das?«

»Das sind die dünnen Glasscherben, von denen Ihr Mann sprach«, erklärte Jordan ernst. »Nicht die Scherben hier auf dem Tisch meinte er, sondern diese. Er ahnte, was geschehen war, aber als er davon sprach, war sein Verstand schon nicht mehr klar.«

Sie sah ihn nur verständnislos und ängstlich an und sagte nichts.

»Nehmen Sie sich zusammen«, bat er. »Ich wollte es Ihnen ja nicht sagen, aber wenn Sie sich die Schuld am Geschehenen zumessen, muß ich es tun. Diese Scherben sind die Ueberreste einer Glaskugel. Und diese Glaskugel enthielt ein Gas, das unter Umständen im nächsten Kriege zur Anwendung kommen wird.«

»Was für ein Gas?« flüsterte sie erregt.

»Der Name oder die Bezeichnung des Gases sagt uns nichts. Nur auf die Wirkung kommt es an. Die Jordanwerke stellen dieses Gas nicht her, wohl aber arbeitet Gromow daran. Es handelt sich um die Erfindung einer asiatischen Macht, hinter deren Geheimnis wir unter großen Opfern kamen. Der Staat lehnte es ab, sich irgendwie mit der Herstellung dieses fürchterlichen Kriegsmittels zu befassen. Gromow aber beschloß dann, die Sache auf eigene Faust zu machen, hauptsächlich wohl, weil er rechnet, daß im Kriegsfalle der Staat seine heutigen Bedenken rasch überwinden und dann für das fertige Gas hohe Preise zahlen würde.«

»Ich verstehe nicht«, klagte sie. »Es gibt doch schon tausende der fürchterlichsten Giftgase ...«

»Sie alle sind harmlos im Vergleich mit diesem. Die meisten Gase bewirken Gesundheitsstörungen, die teils heilbar, teils durch Gasmasken abwendbar sind. Furchtbarer sind schon die farb- und geruchlosen Gase, die auf der Stelle den Tod herbeiführen. Noch entsetzlicher aber das Gas, von dem wir sprechen, das, ebenfalls farb- und geruchlos, nicht tötet ...«

»Aber es hat meinen Mann getötet.«

»Das liegt an einem Fehler in der Herstellung« sagte Jordan. »Ist das Gas vorschriftsmäßig angefertigt, so tötet es nicht, sondern raubt nur den Verstand. Und da gibt es noch zwei Arten, von denen die eine ihr Werk sofort, die andere erst nach Stunden vollbringt. Vergegenwärtigen Sie sich nun die Wirkungen im Kriege. Ein tödliches Gas kann auf der Stelle ganze Truppen vernichten. Diese Menschen sind zwar getötet, aber sie schaden weder Freund noch Feind mehr. Truppen jedoch, die plötzlich ohne jede vorherige Warnung dem Wahnsinn verfallen, stellen für ihr eigenes Land eine furchtbare Gefahr dar ...«

»Entsetzlich!« schrie sie auf, denn jetzt hatte sie begriffen. »Ich will das nicht hören. Mir graut vor den Menschen! ...«

»Wir glauben nicht, daß je ein Volk der weißen Rasse dieses Gas anwenden wird« versetzte Jordan. »Wir wären aber schlechte Soldaten, wollten wir nicht die Möglichkeit in Betracht ziehen, daß einmal das Volk einer farbigen Rasse, das keinerlei Rücksichten kennt, dieses Gas gegen uns anwendet. Was dann? Sollen wir heute drei Kreuze schlagen beim Gedanken an ein solches Vernichtungsmittel und später machtlos zusehen, wie damit unsere eigenen Söhne und auch die wehrlose Bevölkerung, also Mütter und Kinder, in den Wahnsinn getrieben werden? Nein, Halja, den zukünftigen Krieg entscheidet nicht der Mut des einzelnen Soldaten, sondern weise Vorbereitung und Voraussicht – jetzt. Dadurch gelingt es vielleicht auch, einen solchen Krieg zu verhindern. Dadurch und nicht durch endlose Verhandlungen und feierliche Beteuerungen, wobei ebensoviel überflüssige Worte gemacht werden wie überflüssiger Sekt getrunken wird.«

»Und warum hat man grade meinen Mann damit vernichtet?« fragte sie leise.

»Weil er ein gefährliches Doppelspiel trieb. Gromows Leute waren seiner nicht sicher. Sie zogen es vor, ihn zu vernichten, ehe er sie vernichtete. Welches Mittel sie dabei anwendeten, war schon mehr oder weniger nebensächlich. Das Gas, das sie wählten, hatte den Vorteil, das es nicht nachzuweisen war.«

»Wir müssen das anzeigen«, sagte sie zitternd.

»Ich tue es nicht«, widersprach er ernst. »Ich würde dadurch verraten, daß mein Land eine solche Waffe besitzt. Wollen Sie es tun? Sie sind nicht Soldat, Sie können es! Aber denken Sie daran, daß es im künftigen Krieg den Unterschied Soldaten und Nichtsoldaten nicht mehr geben wird. Sie als Frau dürfen und müssen sich schon heute für einen solchen Fall genau so als Soldat betrachten, wie ich es tue.«

Halja antwortete nicht. Sie sah ihn etwas erstaunt an. Zum ersten Mal erblickte sie in seinen Augen Begeisterung. Da begriff sie, daß dieser Mann sein Leben bis jetzt doch nicht allein der Jagd nach Reichtum und Macht gewidmet hatte. »Lassen Sie mich allein«, bat sie endlich, und er stand sofort gehorsam auf.


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