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XVI.

Hornung verbrachte eine fast schlaflose Nacht. Er saß an seinem Schreibtisch, grübelnd und hadernd, ein Spielball der widerstrebendsten Gefühle. Dieser Mensch, der bis jetzt wie eine eingestellte Maschine auf alle kleinen Vorkommnisse in seinem geregelten Dasein in der einzig möglichen und einzig vernünftigen Weise reagiert hatte und sich demzufolge für einen ausgesprochenen Charaktermenschen hielt, – dieser Mensch versagte in dem Augenblick, da er auf etwas stieß, das außerhalb der gewohnten Bahn lag. Doch er dachte nicht daran, die Schuld bei sich zu suchen. Jordan und Halja, der Staatsanwalt und der Schriftleiter – sie alle waren schuldig, nur er nicht.

Bald war es Zorn, der ihn übermannte, bald die Angst vor der Armut, die ihn befiel. Gleich darauf verzehrte ihn die Habgier bei dem Gedanken, wie es geworden wäre, hätte dieser Jordan das getan, was er ihm vorgeschlagen. Dann wieder schlich sich in sein Gemüt das schrecklichste aller Gefühle: die Eifersucht. Er selbst mußte Halja zu jenem Mann treiben, und dabei zitterte er bei dem Gedanken an das Alleinsein Jordans und Haljas. Schließlich überfiel ihn das Mitleid – mit sich selbst. Als sei er unbeteiligter Zuschauer, sah er sich hier sitzen, unglücklich, betrogen, verraten und verlassen – von allen Menschen und von Halja.

Die Uhr schlug die Stunden und die halben Stunden. Sie schlug immer wieder, aber er verharrte in seiner Stellung am Schreibtisch. Nur seine Gedanken irrten und kreisten umher, schossen auf eine Beute zu, die sie doch gleich wieder verließen, um einer anderen nachzujagen.

Manchmal überkam ihn ein Gefühl der Schwäche. Dann war er bereit, alles gehen zu lassen, wie es wolle. Er war sogar bereit, selbst Jordan aufzusuchen und ihn zu bitten. Aber solchen Gedanken gewährte sein verbittertes, grollendes Herz nicht lange Raum. Gleich darauf war er wieder zu allem entschlossen, zu jedem Mittel, nur um den Sieg zu erzwingen.

Die Uhr schlug vier, als er einsah, daß er auf diese Weise nie einen vernünftigen Weg finden würde. Jetzt zwang er seine Gedanken. Sie mußten seinem Willen gehorchen, mußten ihm den Weg weisen, der irgendwo da war. Ohne Zweifel war er da, nur versteckt. Man mußte ihn suchen. Das Gefühl sagte Hornung immer aufs neue, daß noch nicht alles verloren sei.

Als seien sie der langen Irrwege müde, bewegten sich seine Gedanken nun gradewegs aufs Ziel zu. Da war also ein Staatsanwalt, und da waren Börsenpapiere, die man irgendwie zwingen mußte. Ueber das beides hatte Jordan Macht. Durch ihn war es zu erreichen. Ueber Jordan hatte Halja Macht. Also war es durch sie zu erreichen. Und wer hatte Macht über Halja? Er selbst nicht, aber das Kind! Ueber das Kind aber hatte er als Vater Macht!

Bei diesem Schlußgedanken leuchtete es in Hornungs Augen auf. Das war der Weg, den er von Anfang an im Auge gehabt hatte, als er Jordan zwingen wollte. Warum nur hatte er ihn vergessen, als er sah, daß Jordan den Kampf dennoch aufnahm? Es war nach wie vor seine einzige und sehr starke Waffe gegen Jordan. Die Abhängigkeit dieser Menschen voneinander – war es nicht eine Kette von unzerreißbaren Gliedern? Und hatte nicht er selbst das letzte, das entscheidende Glied in der Hand? Oh, und er hatte schon verzagen wollen!

Ganz sachlich überlegte er, ob die Kette nicht doch ein schwaches Glied hätte. Aber er fand, sie hätte keins. Jedes Glied war durch ein starkes Gefühl an das andere geschmiedet – bis zu Jordan hinauf. Und dort war Macht und Geld das Schmiedemittel.

Hornung stand auf, ging etwas schwankenden Schrittes ein paarmal auf und ab, lächelte im Vorbeigehen seinem Spiegelbild zu, dann riß er sich Kragen und Krawatte vom Halse und warf sich angekleidet aufs Sofa. Fast augenblicklich schlief er ein.

*

Halja war sehr überrascht, ihren Mann schon um halb zehn Uhr frisch und munter am Kaffeetisch zu finden. Er begrüßte sie so freundlich, als sei nicht das Geringste vorgefallen, machte sogar einige launige Bemerkungen über ihr schlechtes Aussehen und war sichtlich bemüht, den Eindruck des gestrigen Gesprächs zu verwischen.

»Ein unverhoffter Urlaub ist auch was wert«, sagte er nach einer Weile, mit bestem Appetit ein Ei verspeisend. »Den ganzen lieben Tag nichts zu tun! Wie herrlich haben es doch die Frauen!« »Gewiß«, stimmte sie versöhnlich zu, da sie sich freute, einem erwarteten unangenehmen Gespräch entgangen zu sein. »Vergiß aber nicht, daß wir Frauen auch Pflichten haben. Wart nur, wenn um zwölf Uhr die kleine Evelyn vom Kindergarten zurückgebracht wird ...«

»Verursacht sie viel Arbeit?« fragte er freundlich. »Eigentlich nicht. Es ist ein sehr braves Kind. Und man tut diese Arbeit doch so gern. Ihr Männer habt es im Beruf schwerer. Ich will das nicht bestreiten.«

»Noch ein Täßchen, bitte«, sagte er und reichte ihr seine Tasse. »Ja, die Kinder ... Spricht die Kleine auch manchmal von ihrem Vater, was?«

»O ja«, antwortete sie und lächelte. »Sie fragt oft: Warum hat Papa heute nicht Sonntag? Ist das nicht reizend?«

Er nickte.

»Wirklich reizend. Und jetzt hat Papa lauter Sonntage. Ha, ha ... Das finde ich noch viel reizender. Hast du Evelyn heute selbst angezogen?«

»Nein, ich hab's verschlafen. Vorgestern auch. Es ist schrecklich. Das Kind wird sich noch ganz von mir entwöhnen.« Sie schwieg plötzlich. »Du«, fuhr sie dann etwas unruhig fort, »warum sprichst du heute so viel von dem Kind? Du hast dich nie sehr darum gekümmert ...«

»Ich bin es nicht gewöhnt, meine Gefühle so zu zeigen, wie es die Frauen tun. Deswegen liebe ich unser Kind nicht weniger als du. Die ganze Nacht habe ich über die Erziehung Evelyns nachgedacht. Ich bin zu der Ansicht gelangt, daß es nicht so weitergeht.« Er schwieg und nahm eine Zeitung zur Hand. Fast sofort fand er, was er suchte: Montana-Kupfer Shares nur noch ein Zehntel ihres Wertes ... Wie kalt ließ ihn das heute! Mr. Jordan würde diese Sache schon freundlichst in Ordnung bringen.

Halja war jetzt ernstlich beunruhigt.

»Wie meinst du das?« fragte sie schnell.

»Was denn?« Er verstellte sich sehr gut.

»Wegen der Erziehung ... Was geht nicht so weiter?«

»Ach so ... Nun, alles. Du bist nicht so recht geeignet zur Erziehung eines zarten menschlichen Wesens ...«

»Richard!«

»Bitte?«

»Das sagst du einer Mutter? Der leiblichen Mutter?«

»Liebes Kind, reg dich nicht auf. Ich habe nur das Beste unseres Kindes im Auge, und du kannst mir glauben ...«

»Ja, was willst du denn?« Sie zitterte heftig, und ihre Hände falteten sich unwillkürlich zu einer flehenden Gebärde. »So quäl mich doch nicht. Sag, was willst du mit dem Kind?«

»Aus dem Hause muß es«, sagte er ruhig. »Zu anständigen Pflegeeltern, die es zu einem brauchbaren Menschen erziehen werden und ...«

Sie war aufgesprungen.

»Niemals!« rief sie. »Niemals lasse ich das zu! Hörst du: Niemals!«

»Ich dachte es mir«, sagte er. »Darum habe ich das Kind auch heute früh wegschaffen lassen, bevor ich dir meinen Entschluß mitteilte.«

Sie saß stumm da und starrte ihn entsetzt an. Ihre Hände rissen am Tischtuch, knüllten den herabhängenden Zipfel zusammen. Plötzlich griffen beide Hände nach seinem Arm.

»Richard!« flüsterte sie atemlos, und ihr Gesicht verzog sich zum Weinen. »Das ist nicht dein Ernst ... Das ... Du willst mir nur Angst machen ... Richard ... Du kannst doch nicht so grausam sein ...«

»Es ist mein Ernst«, versetzte er, aber er konnte ihr dabei nicht in die Augen sehen.

»Richard, ich bitte dich ... Ich bitte dich ... Richard! ...«

Er befreite seinen Arm aus ihrem krampfhaften Griff, stand auf und ging zum Fenster. Er fühlte sich sehr unbehaglich in seiner Rolle, aber er wußte keinen anderen Weg. Er stand am Fenster und drehte ihr den Rücken zu, als er es aussprach:

»Ich glaube, ich bat dich gestern um Geringeres, und du hattest zur Antwort nur ein Nein.«

»Ach so«, sagte sie leise. Plötzlich schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte auf.

Er sah sie an, machte eine Bewegung, als wolle er auf sie zueilen, blieb dennoch stehen. Dann hielt er es nicht aus und lief ungeschickt wie ein großer angeschossener Vogel quer durchs Zimmer und zur Tür hinaus.


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