Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXXVI   Die Verbannung

Es war der letzte Dienst gewesen, den Doktor Grätz seinen Kameraden noch hatte erweisen können, als er sich um die Auslieferung und Bergung der Asche von Martin bemühte. Der Tod dieses aufrechten und tapferen Menschen war ihm sehr nahe gegangen. Er hatte sich in den Nachgedanken jenen Frühmorgen wieder vorstellen müssen, als die Mordkolonne Beilke das Haus Martins verwüstet und einen Unschuldigen einbezogen hatte in die Zerstörung. Das Schicksal war hier grauenhaft hart gewesen an Mutter, Vater und den Kindern. Die Kinder lebten allerdings noch, aber von welchen Erschütterungen bedrängt und gequält! Und wenn sie es einmal erfahren werden, welchen schrecklichen Tod ihre Eltern starben . . . gehirnlose Tiere, die sich darüber hinwegsetzen können und vom Volk noch begehren, daß es sich heimisch fühle in dieser Luft, wo es allerenden sich bergehoch häuft von Leichen und die Hyänen sich mästen.

Und doch war es nicht dieser Fall Martin allein, der an den Nerven des Doktor Grätz herumzerrte und mit einem dumpfen Druck den Hinterkopf umklammerte, ohne Pause, Tag und Nacht. Seit ein paar Wochen schon lief er mit diesen schmerzhaften Beklemmungen herum, für die er, als Mediziner, keine Erklärung fand, kein Mittel zur Beseitigung wußte, nur die Betäubung durch giftige Drogen. Es schwebte etwas in der Luft. Es knisterten Ströme, die auf die empfindsamsten Stellen der Nerven abgestimmt waren. Es konnte nur ihn persönlich betreffen, was sich mit diesen Verstimmungen anzeigte. Mindestens aber ging es um beträchtliche Schwankungen in der Lebensbahn von Personen, die ihm verwandtschaftlich nahestanden, Menschen, mit denen sein Blut eine unmittelbare Verbindung hatte.

Er telefonierte an einem Frühmorgen, nach durchwachter Nacht, mit Robert Steg. Dort wußte man nichts Ungewöhnliches zu melden. Nur daß ein Brief von Holland gekommen war, von Johanna und Etzien. 487 Sie schrieben, daß die Gewöhnung zueinander eine ganz vollkommene geworden sei. Und daß sie jetzt in dem gemeinsamen Hausstand so leben würden, als wäre es nie anders gewesen. Nur die Gedanken, abends, bei der Lampe, hätten manchmal eine Reiselust nach der Heimat. Weil das Leben in der Fremde immer noch so zu empfinden war, als lebe man gleich verwaisten Kindern in einem großen Haus mit hohen Mauern herum.

Und Doktor Grätz mußte von Anni berichten, von seiner Frau. Und er mußte sagen, daß diese Waisenfremdheit sich auch in den Stimmungen von Anni oft bemerkbar machte. Obwohl die Arbeit am Kinderhospital ihr kaum Zeit ließ, an das alles zurückzudenken, was sie hat hierlassen müssen auf der Flucht aus dem Vaterland in die Fremde. Und vielleicht wäre sie, trotz hoher Gefahr, nicht aufgebrochen, wenn Alma sich nicht sofort entschlossen hätte, mitzureisen nach dem gastlichen Schweden. Sie hing an Alma wie eine Schwester. Mit Alma konnte sie sich bis zum letzten aussprechen. Und jetzt, im dauernden Umgang mit Alma, fühle sie sich nicht mutterseelenallein.

Robert Steg lud den Doktor für das nächste Wochenende ein. Der Doktor versprach zu kommen. Er glaubte, daß ihn diese Ablenkung ein wenig beruhigen würde. Seit man ihm die Ausübung der Praxis verboten hatte, war ihm schon oft der Gedanke gekommen, in die Emigration zu gehn, Anni nach. Man würde ihm in Schweden keinerlei Schwierigkeiten machen; es war ihm, von den dortigen Freunden, sogar dringend nahegelegt worden, sich um eine bestimmte staatliche Position zu bewerben. Fürsprecher hätte er genug gefunden. Er vermochte es aber nicht, sich von den Kameraden zu lösen. Ob sie ihn wirklich so notwendig brauchten, wie man es ihm oft erklärt hatte, das war ihm noch nicht ganz klar geworden. Er wußte aber, daß alles, was eine zielbewußte Opposition werden sollte, noch mitten im Aufbau steckte und daß er, wo es nur anging, mithalf.

Es stieß ihm bitter auf, daß man sich jetzt erst, nach drei Jahren, auf einer breiteren Ebene zusammengefunden und eingesehen hatte, daß es sich nicht um das Wohl und Wehe einer einzelnen Partei handeln dürfe, sondern um Deutschland, um seine endliche Errettung aus den Klauen der Würger, die mit verschwommenen Hirngespinsten das Volk abzulenken trachteten von den Totentänzen. Der Irrsinn spielte auf. Bald wird er auf dem letzten Loch der beinernen Flöte pfeifen. Bald wird die Totenruhe vollkommen sein über einem unermeßlichen Gräberfeld.

Wer sich jetzt nicht rührt, wer sich nicht umsieht nach Händen, die 488 einander ihr Verstehen reichen, auf den fällt vor dem Ewigen Gericht nicht weniger Schuld als auf die enthirnten Kreaturen, die blindlings eine Menschenmauer umrennen, dahinter sie ihr Reich vermuten; ein Reich, das nie gewesen ist und auch nie werden kann, weil darin nicht Menschen siedeln können, weil dort nur Raum ist für Würmer, die das Licht scheuen.

Es ist nicht die Zeit, Gefühlen nachzujagen. Es ist nicht die Stunde, die Hände in den Schoß zu legen. Der Morgen fängt an zu grauen. Wer will jetzt schon, bevor er sein Tagewerk vollendet hat, an den Feierabend denken? Wir haben erst begonnen, es liegt noch alles vor uns.

Solche Überlegungen bewogen Doktor Grätz zu bleiben. Woran er mit dem Herzen hing, das wußte er wohlgeborgen. Alle anderen aber, denen er sein Gehirn schuldete, lebten noch in dieser Unsicherheit und Unruhe: Was wird mit uns?

Es waren jetzt schon viele wieder da, denen es ihrer politischen Vergangenheit nach zustand, das Ungeordnete zu ordnen und der sich bildenden Ordnung den Weg zu ebnen. Aber auch sie waren doch nur Menschen, und ihren Kräften setzte das Menschenmaß Grenzen. Sie waren Kämpfer in der vordersten Front. Ihr Leben bewegte sich von einem Atemzug zum anderen, nicht viel weiter.

Er aber fühlte sich nicht als aktiver Kämpfer, sondern nur als Pfleger, als einer von jenen menschlich gebliebenen Menschen, die um der Menschlichkeit willen, die den Opfern gebührte, dem Grauenhaften der naziotischen Brutalität die letzte Grausigkeit nahmen.

Zu einer anderen, von Depressionen weniger heimgesuchten Stunde würde er vielleicht bis in das innerste Mark hinein erschrocken gewesen sein, in diesem Augenblick, als es an der Haustür klingelte und Schmidt vor ihm stand. Oberregierungsrat Schmidt, der seit einem halben Jahr vom Polizeipräsidium zur »Gestapo« hinübergewechselt war. Er begrüßte diesen Beamten, als würde er ihn erwartet haben. Nein, er war nicht eine Sekunde lang erschrocken. Und er bemerkte auch nicht einmal, daß draußen im Wagen niemand weiter saß als der Chauffeur. Und daß Schmidt ganz allein vor ihm stand.

Als sie sich im Arbeitszimmer gegenübersaßen und Schmidt fragte: »Sind wir ungestört und allein?«, da erst wurde es ihm vollkommen klar, welche Amtsperson dieser Schmidt darstellte, der jetzt vor ihm saß und ihn ansah und am ganzen Körper voller Erregung war. Die Erregung war da, obwohl er sich krampfhaft bemühte, sie zu verbergen.

»Wir sind absolut unter uns, Ferdinand. Das Hausmädchen habe ich 489 vor einigen Tagen entlassen. Und die Freunde betreten mein Haus nicht bei Tage. Vielleicht weißt du es sogar, wer diese Freunde sind.«

»Die Besucher, die nachts zu dir kommen, Valentin, die gerade zwingen mich einzugreifen.«

»Ich rechnete jede Nacht mit dem Eingreifen. Obgleich ich nicht daran dachte, daß auch du einmal kommen könntest.«

»Gewiß . . . ich hätte der Störer der Geheimversammlungen sein können und dich verhaften. Ich müßte es sogar, jetzt. Die Anweisung, im geeigneten Moment zuzugreifen, liegt vor.«

»Ich bin vorbereitet.«

»Ich war aber auf diese entschiedene Ruhe nicht gefaßt. Und ich müßte eigentlich fragen: Welche Vorstellungen hast du überhaupt von den Vorgängen, die sich abspielen, wenn du in die Gewalt der Geheimen Staatspolizei geraten bist?«

»Die Antwort darauf hat mir einer deiner Beamten vorweggenommen. Ein Mann, der im Rang eines Polizeikommissars steht, aber die Sprache eines verkommenen Viehtreibers spricht, wenn ein Viehtreiber überhaupt so verkommen sein kann wie dieser oberste Beamte. Ich weiß nicht, ob dir die Tonart von Amts wegen geläufig ist. Aber sie ist schon eingegangen in die Geschichte dieser Zeiten. Und es gibt kein Mittel, sie wieder auszuradieren. Es klebt zuviel Blut daran. Es wird der schwärzeste Fleck sein in der Geschichte Deutschlands; dieses Vaterlands, das ich nicht minder liebe als du, wahrhaftiger aber als jene, die das Wort Deutschland unnützlich im Munde führen und den Begriff von etwas Entsetzlichem daraus gemacht haben.«

»Bitte, wiederhole ruhig, was an dieser Antwort dich so erregt hat.«

»Der Mann sagte: ›Hier seid ihr unter die Barbaren gekommen. Hier werdet ihr geschlagen, daß ihr die Wände hochgeht. Und was ihr nicht freiwillig aussagen wollt, das schlagen wir euch aus dem Arsch heraus, Blut sollt ihr kotzen!‹ Ist das nun die übergekochte Volksseele, die so spricht? Oder ist das die Umgangsform der Führerschaft unter sich, wenn sie sich gegenseitig die begangenen und vertuschten Verbrechen an den Kopf werfen? Der eine wie der andere, von denen die wenigsten das Recht besitzen, sich als Deutsche aufzuspielen.«

»Es ist möglich, daß dies von den unteren Organen in den Vernehmungszimmern geäußert wird. Ich habe keine Sekunde Zeit, in die Gewölbe hinunterzusteigen. Es gehört auch nicht zu meinem Ressort, aber dein Fall gehört in mein Ressort, ich bearbeite die Sache, ohne daß noch ein Zweiter hinzugezogen wurde. Das hat mir den Weg hierher überhaupt 490 erst möglich gemacht. Wir haben heute Dienstag. Donnerstagmittag, Punkt zwölf Uhr, mußt du außer Landes sein.«

»Von wem befohlen?«

»Erwogen ist die Verhaftung.«

»Und du, allein aus deinem heraus, wandelst sie für mich um in Flucht?«

»Daß du fliehen mußt, daran dachte ich, als ich mich beim Studium der Akten erinnerte, daß du mich vor der Pistole bewahrt hast. Vielleicht weißt du es gar nicht mehr. Heidelberg hat für dich sicher freundlichere Erinnerungen. Du hast mich dem Leben wieder zurückgegeben. Ich will jetzt den Ausgleich schaffen, lange genug habe ich darauf gewartet.«

»Was blüht mir, wenn du den Ausgleich nicht schaffst und mich verhaftest, was deines Amtes ist?«

»Das Volksgericht, Valentin! Und weil es ein sehr schwerer Fall ist, höchstwahrscheinlich das Ende unter dem Handbeil.«

»Das habt ihr allerdings heute sehr schnell zur Hand. Also gut. Du gibst mir Frist bis donnerstagmittag zwölf Uhr?«

»Es kommt auf die Sekunde an, Valentin!«

»Es bleibt mir Zeit genug, mich zu entscheiden. Ich weiß aber noch nicht, ob ich in den Ausgleich, der dir vorschwebt, einwillige. Oder ob ich dir das Beil in die Hand gebe.«

»Nicht ich das Beil, Valentin. Ein anderer. Denn ich würde deinen Fall sofort aus der Hand geben, wenn du donnerstagmittag noch im Lande bist.«

»So ernst nimmst du den Ausgleich, Ferdinand?«

»Ich will nicht sagen, daß ich den Weg, den du in den letzten Jahren gegangen bist, nicht begreife oder dein Handeln womöglich gar verabscheue. Ich verstehe dich sehr gut. Sonst säße ich ganz gewiß nicht hier vor dir, so wie jetzt.«

»Du dienst nicht mit Fanatismus der neuen Sache? Dem Staat, dessen Wächter du deiner Position nach bist?«

»Ich habe mich zu bewähren, verstehst du?«

»Das läßt sich unter Umständen erklären.«

»Ich sammle auch Material.«

»Gegen wen?«

»Für später.«

»Damit glaubten viele sich entschuldigen zu können, die vorzogen zu bleiben. Die es sogar als eine höhere Pflicht ansahen, so und nicht anders 491 für die Wiederherstellung der Freiheit zu wirken, im Gegensatz zu denen, die die Flucht vorzogen und das Volk im Stich ließen. Es würde mich beruhigen, wenn ich die absolute Gewißheit hätte, daß du mit Fleiß und Absicht dich bereit hältst für das Spätere . . . das nach diesem kommen muß.«

»Ich bin für Ordnung, aber nicht für Irrsinn. Beides muß ich als Irrsinn bezeichnen . . . das, was aus Weimar wurde auf dem Wege nach Moskau . . . und jetzt diesen Morast mit einem doppelten Boden.«

»Dann sieh ja zu, daß du nicht in die Falle tappst, die man dir stellen wird, heute oder morgen.«

»Ich habe im Ausweichen eine gewisse Übung bekommen.«

»Was hält dich dann noch hier in diesem Land, Ferdinand? Man kann zween Herren nicht dienen, ohne einen moralischen Knacks dabei abzubekommen.«

»Darüber werden wir uns einmal im weiteren unterhalten, wenn du jenseits der Grenze bist und wir uns dort treffen. Ich bin häufig in Schweden . . . versteh mich recht: nicht privat.«

»Du kombinierst. Aber ich will offen sein: wenn ich gehn werde, kann nur Schweden das Land sein, wo ich um Gastrecht bitten werde.«

»Du gehst . . . Valentin!«

»Und meine Arbeit?«

»Tausend für einen.«

»Und doch verfolgt ihr den einen?«

»Jede Gewalt ist besorgt um ihren Fortbestand, und es könnte gerade der eine sein, der diesen Fortbestand gefährdet. So lautet die Instruktion. Und das ist die Denkart all derer, die der Gewalt ihr Da-Sein verdanken.«

»Also nicht das Gewissen . . .? Es ist alles schon morsch bei euch, Ferdinand. Die Fundamente faulen weg. Der braune Anstrich blättert ab. Die Nächte kommen und gehn ohne Schlaf.«

»Nicht bei mir.«

»Ich soll also annehmen, du stehst dort, wo die befohlene Gewalt vollzogen wird, allein? In einer sonderbaren Selbsttäuschung scheinst du zu leben.«

»Das ist nicht so gewiß, Valentin, wie es dir scheinen mag.«

»Es leben zu viele davon, die nachher betteln müssen.«

»Das ist euer größter Irrtum. Und die blinden politischen Hühner in der Emigration bewegen sich in einer womöglich noch größeren Wirrnis. Das kann ich dir heute sagen, weil du übermorgen nicht mehr hier bist und abermals Fehlschlüsse ziehen könntest.« 492

»Du nimmst als sicher an, daß ich gehe?«

»Wenn ich dir aber erkläre, daß du nicht allein der Staatsgewalt in die Finger fällst . . . auch dann stünde es bei dir, fest zu bleiben?«

»Du willst mich jetzt unter Druck setzen? Vielleicht auch hältst du mich für ganz besonders gefährlich und willst mich auf eine originelle Art loswerden? Irrtum, Valentin!«

»Ich könnte dir zwei Dutzend Namen nennen, alle die Leute, die mit dir in die Finsternis gehn.«

»Für diese zwei Dutzend, die du meinst, wird die Finsternis auch sein, wenn ich verschwinde.«

»Die Akten verschwinden mit dir!«

»Das schwörst du mir, Ferdinand?«

»In deine Hand, Valentin. So, wie ich damals schwor, von der Pistole abzulassen und das Geld anzunehmen, das du mir vorstrecken wolltest, um es den Gläubigern in den Rachen zu werfen.«

»Dann ist wohl auch nichts mehr offen, was hier noch erörtert werden könnte, oder doch?«

»Ich rufe morgen abend um acht hier an.«

»Dann werde ich entweder die Fahrkarte haben oder dir sagen: Ich bleibe!«

Der Oberregierungsrat Schmidt erhob sich und streckte die Hand aus. Sie schieden voneinander, als hätte man vom Wetter gesprochen oder von den Sonnenflecken, die, wie es neuerdings hieß, einen gewissen Einfluß auf die abnorme Witterung haben sollen.

Daran dachte Doktor Grätz, nachdem er eine Weile auf und ab gegangen war. Und er überlegte: Weshalb soll man die Sonnenfleckentheorie nicht auch auf die gehirnliche Verfassung der Menschen übertragen dürfen? Vielleicht ist dieser Massenwahnsinn, von dem Deutschland heimgesucht wird, nur damit zu erklären, daß bestimmte Kräftekreise, von deren Vorhandensein wir wohl eine Ahnung haben, ihre wirkende Gewalt aber nicht zu erkennen vermögen, das logische Denken bestimmter Gehirnserien gelähmt haben, die Erkenntnisse verschoben und das Handeln verwirrt. Erklärbar, daß nur aus dieser Verwirrung heraus die Massenpsychose sich bilden konnte; der braune Zustand, das Unverständliche und von dem gesund gebliebenen Teil des deutschen Volkes nicht für möglich Gehaltene.

Er sah noch ein paar Fachzeitschriften durch. Er fand, daß dieses Problem auch von einem Schweizer Fachwissenschaftler schon berührt worden war, von einem gewiß nicht spekulativen Gelehrten, dem es 493 einmal geglückt war, eine ganze Garnitur dieser sogenannten Führer aus nächster Nähe zu beobachten. Er sah in diesen Typen die Zellenträger des Wahns, die Krankheitserreger.

Doktor Grätz packte das ganze Material in den Lederkoffer, für alle Fälle, denn er war sich noch immer nicht schlüssig, ob er sich von diesen vier Wänden werde trennen müssen.

Und als er gegen Mitternacht auf der Zille »Anne-Marie« die entscheidende Aussprache mit den Kameraden hatte, es waren auch Hillmann gekommen und Franz Lück, der Schuster und Kathleen, da gab es nicht einen, der geraten hätte, unter diesen Umständen doch zu bleiben, wenn auch verborgen an einem anderen Ort. Es wäre niemandem eingefallen, an Fahnenflucht zu denken. Sie wußten alle, was es für Doktor Grätz bedeutete, die Arbeit hier aufzugeben. Sie erklärten aber, daß er in der Emigration sicher erfolgreicher für die Sache werde wirken können als hier in einer vollkommenen Illegalität, frei nur von einem Tag zum anderen. Dort aber unbehindert und mit gesunden, auf die Arbeit konzentrierten Nerven. Hier, in der ewigen Unsicherheit, mit halben Kräften, das Gehirn Tag und Nacht strapaziert von dem Gedanken, daß jeder Schatten, der sich bewegt, schon der Zugriff sein kann. Dort aber die nach menschlichem Ermessen vollkommene Sicherheit.

Sie machten es sich leicht mit ihren Argumenten; ihm machten sie es schwer. Was er auch vorbrachte, sie ließen es nicht mehr gelten.

Es war schon dämmerhell, als er wieder sein Haus betrat und erst jetzt bereit war zu fahren. Er ordnete, was sich in diesen paar Stunden noch ordnen ließ, packte die Koffer, telefonierte mit seinem Vetter Adolf Steffen, dem er das Haus und Grundstück in Verwahrung und Verwaltung gab, sprach mit Robert Steg, der sehr bestürzt war, aber dennoch riet, möglichst in dieser Nacht schon zu verschwinden. Liesa Schimmel war draußen und bot sich an, ihm beim Packen behilflich zu sein. Er fuhr in die Stadt und holte sich das Visum, das er anstandslos bekam, besorgte die Fahrkarte und was ihm sonst noch für die Reise nötig erschien.

Kurz vor acht, als er sich seinem Hause näherte, kam ihm Liesa Schimmel schon entgegen. Sie hatte über eine Stunde auf ihn gewartet. Es war ihm lieb, daß er sich noch mit jemandem von der Kameradschaft aussprechen konnte während des Ordnens und der Aufbewahrung der vielen Kleinigkeiten im Haus.

Fünf Minuten nach acht rief der Regierungsrat Schmidt von einem Automaten aus an. Doktor Grätz sagte ihm, daß er die Fahrkarte habe. 494 Sie waren die ganze Nacht in Bewegung, Liesa Schimmel machte sich wirklich sehr nützlich. Er schenkte ihr die zweite Schreibmaschine und die gesamte Tisch- und Bettwäsche. Sie schafften die Pakete in das Nachbarhaus, das dem alten Wachtmeister Müller gehörte, von wo Liesa sich das Zeug nach und nach abholen sollte.

Liesa lebte jetzt mit Franz Lück zusammen. Sie würden auch heiraten, sagte Liesa, wenn sie nicht beide jeglichen Besuch bei Behörden vermeiden müßten. Vielleicht hätten sie es in manchem tatsächlich leichter, wenn der Standesbeamte die Ehe legitimieren würde. Das Schicksal mußte aber auch so getragen werden, wie es lastete. Die Arbeit in der Organisation ging vor. Franz war oft wochenlang die Nächte nicht in der Laube. Immer unterwegs. Immer in Spannung. Immer in Tätigkeit. Jede Stunde bedeutete eine Opferung. Es ging vorwärts auf der ganzen Linie. Es waren allerorten, von der Donau bis zur See, vom Rhein bis zum Haff, Zehntausende von diesen frischen, unerschrockenen, tapferen, jungen Kämpfern am Werk. Die Jugend hatte die Führung. Fanatisch stieß sie Schritt um Schritt vor und schlug eine Bresche in den als Gebäude aufgetürmten Schutthaufen der pathologischen Lüge von einem neuen Deutschland der Freiheit und des Wohlstandes. Deckte auf die barbarische Willkür der Nehmer und Verschwender und das Unwesen, das die von allen bösen und verwerflichen Eigenschaften besessenen Bandenführer immer noch treiben durften unter dem Schutz der Bajonette und Maschinengewehre, gefördert von den hohen Militärs, angetrieben von der Großindustrie, hofiert von den Junkern und finanziert von dem größten Geldschwindel aller Zeiten.

Es war mehr als ein bloßer Trost für Doktor Grätz, daß er die Gewißheit der unermüdlichen Arbeit am Wiederaufbau Deutschlands in die Verbannung mitnehmen durfte. Der kommende Tag sagte sich schon mit deutlichen Anzeichen an. Es wird allerdings nicht morgen sein und nicht übermorgen. Die Stunde der Wiedergeburt wird dasein in einer Zeit, wo das Grauen nicht mehr überboten werden kann. Und sie wird gerade dann Menschen vorfinden, die tragischer, aber auch heroischer gelebt haben als je eine Generation deutscher Menschen seit der Reformation. Menschen, die unbestechlich geblieben sind in der Gesinnung und im Urteil. Mögen sie nun Liesa Schimmel heißen, Franz Lück, Kathleen und Hillmann: es sind nicht die vier, nicht die zehn und zwanzig, deren Namen hier laut wurden. Es sind sie alle, die versammelt sind in dem großen Kollektiv, das wir heute noch als eine illegale Gemeinschaft kennen, bald aber als das erwachte und freie Deutschland erfahren werden. 495

 


 


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