Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXV   Die Schnauze noch nicht voll?

Es fing schon an zu dämmern, und im Fliedergebüsch unter dem Schlafzimmer des Doktor Grätz trillerte die Grasmücke. Die Luft war feucht und dick von dem aufsteigenden Nebel. Auf den Feldern hinter dem Haus blühte der rote Klee. Es roch wie in einem Parfümerieladen. Dieser schwere, süßliche Geruch hatte den Doktor die Nacht kaum schlafen lassen. Er sah jetzt nach der Weckuhr, die auf dem Nachttisch stand: halb fünf. Zum Aufstehen noch zu früh, und zum Wiedereinschlafen fehlte die Ruhe. Er richtete sich halb auf und sah zum Fenster hinaus. Die weiße Wolke über den Bäumen schminkte sich ein zartes Rosa an. Was tun, dachte der Doktor. Nachdenken in diesem noch nicht völlig wachen Zustand, das strapaziert die Nerven. Ein Buch lesen? Man soll, selbst wenn es nur der Unterhaltungsteil der Zeitung ist, im Bett nicht lesen. Er warf den Kopf wieder zurück und schloß die Augen. In diesem Moment klingelte es an der Hintertür. Das konnte nur ein Bekannter sein. Aber wer? Und in dieser Herrgottsfrühe schon? Er knöpfte das Pyjama zu, sprang auf und ging hinaus, um nachzusehn, zuerst durch das Guckloch in der Tür. Die Person, die geklingelt hatte, stand so dicht, daß er das Gesicht nicht erkennen konnte; nur ein Stück von einem schlecht rasierten Kinn sah er und einen Hals, der einen zerknitterten, unsauberen Kragen trug. Zwei, drei Sekunden wartete er noch, bis er sich endlich entschloß, den Riegel zurückzuschieben. Draußen stand Franz Lück. Er ließ ihn eintreten und verriegelte die Tür wieder. Franz Lück streckte ihm jetzt die Hand hin, er schüttelte sie und zog den jungen Mann über den kurzen Gang nach vorn in das offizielle Sprechzimmer: »Für alle Fälle, Franz!«

»Versteh!« lachte Franz Lück und bat um ein Glas Wasser.

Doktor Grätz holte es ihm aus dem Filter in der Küche und sagte: »Jetzt sehe ich erst, wie erhitzt Sie sind. Trinken Sie nur Schluck um Schluck, das Wasser ist eiskalt.« 317 Franz aber trank das Glas trotzdem in einem Zuge leer, stellte es auf die blanke Metallplatte des Tisches, der neben ihm stand, und sagte: »Entschuldigen Sie, daß ich vor Tag hier eingebrochen bin, ich habe Sie wahrscheinlich aus dem besten Schlaf gerissen. Ich muß aber um halb sechs wieder am Bahnhof sein und einen der ersten Züge nehmen, die sind für unsereinen noch am sichersten. Gekommen bin ich diese Nacht mit dem letzten. Ich habe ein paar Stunden im Wald herumgelegen, bis es anfing, kalt und hell zu werden.«

»Nichts zu entschuldigen, Franz; ich war bereits wach. An einen solchen Besuch hatte ich allerdings nicht gedacht. Was ist passiert?«

»Uns . . . nichts. Man schlängelt sich ja immer noch so durch. Man könnte ein bißchen wilder sein, aber mit dem Kopf durch die Wand zu rennen, das hat ja keinen Zweck.«

»Nein, Franz, das paßt ja auch gar nicht zu unserer Sache. Und wenn es manchen Leuten nicht schnell genug geht mit der Beseitigung des braunen Spuks, dann haben sie überhaupt noch gar nicht begriffen, was eigentlich gespielt wird in Deutschland und wer zu diesem Spiel den Takt schlägt und die Tempi angibt. Daß Sie, mein Lieber, einer der Ruhigsten sind, das wissen wir. Und daß Sie von Ihrer Ruhe manchem noch ein gutes Stück abgeben, freut mich ganz besonders. Also . . . was bringen Sie?«

»Wir haben da bei unserer Arbeit in Wildau, bei den Schwartzkopf-Leuten, einen Mann getroffen, den Sie kennen. Ob er für uns arbeitet, weiß man noch nicht genau; jedenfalls nicht gegen uns. Er scheint aber auf eigene Faust allerlei zu treiben, was den Nazis nicht angenehm ist. Außerdem weiß der Mann manches von uns. Und in der vorigen Woche, als die Geheimen hinter uns her waren, in Grünau, und es für uns kein anderes Ausweichen mehr gab, als auf gut Glück mit ein paar Kreuz- und Querhaken in irgendein Siedlungshaus zu flüchten, das uns leer zu sein schien, da war es doch nicht leer. Da war dieser Mann drin, dem gehört es auch. Drei Worte haben genügt, ihn zu unterrichten. Er steckte uns in ein Loch, das hätten die Geheimen nie und nimmer entdeckt, auch wenn sie Tag und Nacht gesucht haben würden.

Diesen Mann habe ich nun gestern abend wieder besucht. Er hockt seit zwei Tagen auf einem alten Feldstuhl mit einer schrecklich verbrannten Hand. Er tut, was er kann, er hat Lehm herumgepackt, aber das wird wohl nicht das Richtige sein. Zu einem Arzt, meinte er, dürfe er nicht gehn. Wovon die Brandwunde herrührt, das wollte er mir nicht sagen. Es muß ihm aber doch geholfen werden. Er kann doch nicht so 318 liegenbleiben und womöglich verrecken. Es ist niemand bei ihm, und das Haus steht ziemlich allein. Ich habe von der Lage und Umgebung eine Skizze gemacht. Und ich denke, wenn Sie hinfahren würden . . . große Gefahr ist nicht dabei.«

»Sie sagten, Franz, ich kenne den Mann?«

»Ja . . . Sie kennen ihn.«

»Woher wollen Sie wissen, daß ich ihn kenne? Sprach er etwa von mir, oder brachten Sie die Rede darauf?«

»Nein, nicht er, nicht ich habe Ihren Namen erwähnt. Es ist nämlich der frühere Stadtrat . . . der vom Schloß, verstehn Sie?«

»Vom Schloß, der . . .«

»Ja . . . so sieht er aber nicht mehr aus, eher schon so wie wir.«

»Gut, Franz, daß Sie gekommen sind. Wann, glauben Sie, müßte man fahren?«

»Am sichersten wäre es wohl um die Mittagsstunde, dann sieht man weit und breit keinen Menschen.« Er reichte dem Doktor das Blatt. Es war darin der Bahnhof eingezeichnet und mit Pfeilzeichen versehen die Wege bis zum Siedlungshaus.

»Ja, Franz, das ist deutlich, nicht zu verfehlen. Aber . . . was ich noch sagen wollte: als die Geheimen hinter euch her waren, sind sie in das Haus eingedrungen?«

»Nein, der Stadtrat hatte beobachtet. Sie haben den Wald, der ein paar hundert Meter westlich vom Haus liegt, abgesucht, und es sind auch Schüsse gefallen. Wahrscheinlich sind dabei ein paar unschuldige Penner zum Deibel gegangen.«

»Wann habt ihr das Haus verlassen?«

»Erst am Abend darauf.«

»Gut Franz, ich werde fahren. Und Sie müssen sich jetzt auch beeilen, wenn Sie den ersten Zug noch erwischen wollen. Brauchen Sie etwas? Haben Sie Hunger? Warten Sie, ich gebe Ihnen ein Frühstück mit.«

Er ging in die Küche, packte ein halbes Brot und ein Stück Käse in einen großen Papierbeutel und rief vom Flur aus Franz Lück. Er führte ihn durch den Garten, öffnete das Tor, das von zwei dicken Holundersträuchen flankiert war, und zeigte auf den schmalen, kaum erkennbaren Fußsteg durch das Kleefeld. »Diesen Weg, Franz, gehen Sie zu Ende. Sie kommen dann auf einen Fahrweg, auf dem bleiben Sie bis zur zweiten Biegung rechts, und dann sehen Sie auch schon das Stationsgebäude. Kommen Sie wieder einmal zu unserem Doktor Steg?«

»Wenn nicht abgesagt wird, diesen Sonntag.« 319

»Recht so, ich werde gegen Abend auch dort sein. Und grüßen Sie Hillmann. Und dem Schuster, wenn Sie ihn sehen, sagen Sie: er möchte etwas leiser sein. Man hört seine Stimme heraus.«

Franz Lück griff weit aus. Der Tau spritzte hoch. Eine Kette Hühner schoß flach über das Kraut und sauste nach der Kiefernschonung.

Doktor Grätz wartete, bis der junge Mann den Fahrweg erreicht hatte. Dann ging er ins Haus zurück, wusch und rasierte sich, und draußen auf der Veranda schrieb er ein paar Briefe, die er in der Stadt aufgeben wollte.

Der halbe Vormittag verlief, ohne daß ein Patient sich hätte sehen lassen. Um zehn kam die Haushälterin. Sie machte dem Doktor schnell ein kräftiges Frühstück. Als sie auftrug, sagte er zu ihr: »Ich muß in die Stadt, sollte jemand kommen, dann richten Sie aus, daß ich zwischen sieben und neun heute abend Sprechstunde abhalten werde. Bin ich aber um diese Zeit noch nicht zurück, dann möchten die Leute morgen vormittag wiederkommen, oder wenn schwere Fälle vorliegen, die Adresse zurücklassen.«

Er fuhr mit dem Elf-Uhr-Zug, stieg Gesundbrunnen aus, erledigte die Post und nahm jetzt die Bahn Richtung Grünau. Dort stieg er wieder um und setzte sich in den Personenzug nach Görlitz, der in Wusterhausen aber eine Minute hielt. Die Gegend um Wusterhausen, bis in die Duberow hinein, war ihm bekannt. Er hielt sich nicht genau an die von Franz Lück gefertigte Skizze. Er ging über eine schon hoch im Gras stehende Wiese und dann an einem Kornfeld vorüber. Seitwärts bohrten sich die Zeesener Funktürme wie riesige Bohnenstangen in den von Gewitterwolken beflogenen Himmel.

Er schritt an dem Haus, das genau an der Stelle stand, die Franz Lück bezeichnet hatte, vorüber, warf einen raschen Blick in den Vorgarten, machte noch einen Abstecher querfeldein, bis er an einen von gekröpften Weiden gesäumten Bach kam. Ein Ringelwurm, dieses schmale Wasser, das fast bis zum Gartenzaun des Siedlungshauses sich hinaufschob. Auf dem schmalen Steg neben dem Bach pirschte Doktor Grätz sich wieder an das Haus heran, es stand mitten in einem mit alten Obstbäumen bewachsenen Garten. Der Zaun hatte hier hinten ein Tor, es war unverschlossen. Den breiten Kiesweg flankierten Johannisbeersträucher, ungepflegt und von Brennesseln umwuchert. Die Hühner kratzten auf den Beeten herum, und eine Katze hockte in der Gabelung eines Kirschbaumes und belauerte die Jungdrossel, die in der äußersten Spitze hockte und zirpte. 320

In einer Laube aus japanischen Kletterwinden, ein Stück links vom Haus, sah der Doktor einen Mann hocken. Das Gesicht hob sich aus dem Gerank noch sehr undeutlich heraus, doch schien es ihm jetzt schon sicher, daß dort der Stadtrat saß und in das Leere hineinstierte. Er hatte das Näherkommen des Doktors nicht bemerkt oder tat so, als wolle er es nicht bemerken. Der Doktor blieb kurz vor dem Eingang der Laube stehn. Er sah, daß der Stadtrat sich den Bart hatte wachsen lassen und anstatt eines Kneifers jetzt eine dunkelgeränderte Hornbrille trug.

Gerade wollte Doktor Grätz sich bemerkbar machen, da hob der Stadtrat auch schon den Kopf, bog ihn herum und sagte: »Ja . . . mein Lieber, so sieht man sich wieder. Sonderbare Zeiten, wie?«

»Sie haben mich erwartet?«

»Ich sah Sie kommen, oben an dem Dreh schon, wo die drei Kiefern stehn. Und wen anders hätten Sie hier besuchen können?«

Doktor Grätz trat jetzt ganz nahe heran, schüttelte dem Stadtrat die gesunde Hand und griff auch schon nach der anderen, die in einem wulstigen, ungeschickt gemachten Verband steckte. Er löste die Binde, bröckelte den Lehm herunter und untersuchte die Wunde, die heftig eiterte. »Sieht böse aus, aber nicht lebensgefährlich. Ich werde ein paar kleine Schnitte machen.«

»Wenn Sie glauben, daß noch etwas zu retten ist . . . ich halte still. Ich halte jetzt den dritten Tag schon still. Die Zeit hat man ja dazu. Bloß die Zigarre, die hat mir ein bißchen gefehlt.«

»Wenn Sie schön stillhalten, dürfen Sie nachher auch rauchen. Soo . . . und nun: haben Sie hier einen Brunnen oder eine Wasserleitung?«

»Gleich neben der Treppe zum Haus finden Sie den Brunnen. Eiskaltes, aber sauberes Wasser. Kommt aus dreißig Meter Tiefe hoch.«

Doktor Grätz öffnete den kleinen Handkoffer, nahm Flaschen und die Glasschale heraus und mischte am Brunnen ein Desinfektionswasser. Damit wusch er die Hand des Stadtrats. Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelöst. Er gab dem Stadtrat eine Injektion und beizte und schnitt an der Wunde herum. Der Stadtrat hielt still, er verzog nicht einmal den Mund, obwohl die Manipulation sehr schmerzhaft war. Dann machte der Doktor einen neuen Verband und fragte den Stadtrat: »Kümmert sich hier jemand um Sie?«

»Es kommt jeden Abend ein Mann aus Wildau und macht mir das Essen. Von diesem Mann stammt auch die Lehmpackung her. Er war früher einmal bei den Arbeitersamaritern. Hat er etwas falsch gemacht?« 321

»Er hat nichts verdorben. Aber noch einen Tag ohne Arzt, lieber Freund, und der ganze Arm wäre hin.«

»Ich denke: besser den Arm verloren als den Kopf. Den Kopf brauchen wir noch. Und wenn es wirklich eine Dummheit war, die ich da begangen habe, dann hat sie mich immerhin vor einer anderen bewahrt.«

»Ich las einmal bei unserem Freund Robert Steg den Satz: ›Eine Dummheit, die uns vor einer noch größeren bewahrt, ist keine gewesen. Daher können wir niemals sicher sein, ob eine begangene Dummheit tatsächlich eine gewesen ist.‹ Soweit Robert Steg. Vielleicht ist Ihr Fall wieder einmal eine Bestätigung dafür.«

»Sie wollen damit sagen, Doktor, es wäre immerhin eine Spur von Zweck in diesem nicht einkalkulierten Unfall vorhanden?«

»Nein, das möchte ich nicht so ausgelegt wissen. Aber Sie werden jetzt wohl das Bedürfnis haben, mir zu verraten, wovon die Verbrennung herrührt, nicht wahr?«

»Ja . . . Ihnen wird man wohl nichts weismachen können. Ich wollte eigentlich sagen: Beim Kaffeekochen ist mir der Primuskocher explodiert, und davon hat die Hand ein paar Spritzer abbekommen.«

»Das hätten Sie wahrscheinlich sagen wollen, wäre das Hospital notwendig geworden, wie? Das wäre aber grundfalsch gewesen, wenn Sie den Ärzten im Hospital diesen Bären hätten aufbinden wollen. Jetzt sind die Spuren allerdings fort, aus denen jeder Arzt sofort die Ursache der Brandwunde erfahren hätte.«

»Spiele nie mit Schießgewehr . . .?«

»Für Schießgewehre braucht man keine Pikrinsäure, mein Lieber.«

»Sie sind nicht schlecht unterrichtet.«

»Ich habe schon zweimal in meinem Leben mit Bombenschmeißern zu tun gehabt. Sie sind jetzt der dritte Fall. Und dazu muß ich sagen: auf eine sonderbare Idee sind Sie gekommen.«

»Ja . . . Doktor, was soll man tun, wenn man gar nichts mehr zu tun hat?«

»Sie glauben wohl daran, daß Bomben einen größeren Spektakel machen und gehört werden von denen, die nicht begreifen wollen, weshalb alles so still hingenommen wird vom Proletariat?«

»Ja . . . so könnte man beinahe denken, weil man den stillen Spektakel, den Sie und Ihre Leute machen, wirklich nicht hört.«

»Wir wollen uns jetzt darüber nicht streiten, was richtiger ist: der stille Spektakel, der zwar sehr langsam, aber sicher zum Ziel führt, oder der andere, der in einem hitzigen Tempo vorwärts drängt und gar kein 322 bestimmtes Ziel vor Augen sieht, nur die Panik will. Außerdem weiß ich ja gar nicht, welches Ziel Ihnen vorschwebt. Panik zu machen oder bestimmte Personen aus dem Wege zu räumen? In beiden Fällen wären Sie auf keinem taktisch richtigen Weg. Ich habe Sie anders eingeschätzt.«

»Vielleicht sitzt Ihnen jener Schrecken noch im Genick, den Sie erfahren haben, als ich mich äußerte: ›Vor dieser Gesellschaft laufe ich nicht davon!‹ Oder ist es dies, daß Sie mich in einer anderen Form vorgefunden haben als in jener, von der Sie sich wahrscheinlich schon ein Bild gemacht hatten?«

»Ich bin zunächst einmal darüber erstaunt, daß ich Sie hier allein vorfinde. Und zum anderen in einer Arbeit, die gerade Ihnen ich am allerwenigsten zugetraut hätte.«

»Sprechen wir zuerst also von der Arbeit.«

»Wie Sie wollen. Mein Erstauntsein war aber keine Fragestellung. Sie sind mir in diesem Bezug keine Antwort schuldig.«

»Das will heißen: Sie haben mich auf der Gegenseite vermutet? Oder wenigstens in einer Art Vorbereitung, um die Aufnahmeprüfung zu bestehn?«

»Unsinn! Ich nahm an, nachdem ich wußte, daß man nicht gewillt war, Sie im Kommunaldienst weiter zu beschäftigen, Sie seien, dank alter guter Beziehungen, in einer Großbank oder bei einer Versicherungsgesellschaft untergekommen.«

»Dazu drängte mich allerdings ohne Atempause meine Frau.«

»Doch nicht Alma?«

»Nein. Die andere.«

»Und die Bedrängungen dieser Frau faßten Sie als eine Art Erpressung auf?«

»Ja . . . Ihr erstes und letztes Wort an einem jeglichen Tag war: ›Hast du, von dem Abwarten auf einen günstigen Wind, noch immer nicht die Schnauze voll?‹ Mit dem günstigen Wind meinte sie die Chance, die ich mir immer noch ausrechnete . . . für uns. Trotzdem ich ihr klipp und klar gesagt hatte: ich rechne mit einer langen Dauer der naziotischen Bräune. Und wir hätten ja auch die Zeit, abzuwarten. Nur dieses Warten in der Stille und in der Zurückgezogenheit von allem gesellschaftlichem Kram schien ihr auf die Dauer unerträglich. Und so bekam schließlich ich die Schnauze voll von dieser ewigen Bedrängnis, mich bei den Herrn von heute in eine empfehlende Erinnerung zu bringen. Und als sie ihrerseits derartige Versuche machte . . . mußte ich massiv werden.«

»Es ist jetzt also aus mit diesem . . . Spätsommer-Roman?« 323

»Ja . . . man soll von einer Frau nicht mehr verlangen, als ihr Gesicht einem zu lesen gibt. Ich hatte Frühlingsgedichte aus diesem Gesicht herausgelesen. Und das darf man nicht, wenn man über die Fünfzig ist und in der Gesellschaft keine Rolle mehr spielt; das heißt: nicht mehr den Kothurn darstellt, auf dem die Frau sich so drehen kann, daß andere Frauen darüber zerplatzen. Sie hat die Nazis unterschätzt und von mir sich einen falschen Begriff gemacht; wie übrigens die meisten meiner Freunde ja auch. Hatte ich überhaupt Freunde? Ich glaube: nicht einen.''

»Sie hatten Alma . . .«

»Ja . . . ich hatte . . . Was macht Alma?«

»Alma ist in Sicherheit.«

»Pardon, Doktor . . . ich habe nicht die Absicht, Wiederannäherungsversuche zu machen.«

»Ich habe sie aus anderen Gründen in Sicherheit gebracht. Sie tat die Arbeit, die Sie wahrscheinlich für eine nebensächliche ansehn gegenüber dem, was Sie tun. Aber auch diese nebensächliche Arbeit war für Alma mit Lebensgefahr verbunden. Deshalb mußte sie gehn und außerhalb der Grenzen wirken.«

»Daß Alma nicht untätig sein würde . . . war mir klar, und die andere Frau befürchtete sogar aus dieser Tätigkeit schwere Komplikationen für meine Existenz als geduldeter Pensionär.«

»Vielleicht kann man von hier aus verstehn, daß Sie jetzt in der gewagtesten Arbeit Ihr Heil suchen.«

»Ach, Doktor, was wissen Sie von meiner Arbeit?«

»Soviel wenigstens, wie es mir die Brandwunde verraten hat.«

»Das ist nur eine Nebenbeschäftigung . . . Freundschaftsdienst. Außerdem ärgern mich seit Jahr und Tag diese beiden Stangen dort!« Er zeigte auf die Funktürme, die zur Hälfte schon in Wolken staken, und fuhr fort: »Es geht viel Unheil von diesen geschwätzigen Stricknadeln aus.«

»Und Sie glauben, daß eine entsprechende Menge von Pikrin mit diesem Unheil aufräumen kann? Sie stehn mit der Gruppe T in Verbindung?«

»Ich fand unter den Arbeitern, drüben in Wildau, ein paar Freunde. Und obwohl sie wissen, wer ich früher einmal war, sind meine Ratschläge ihnen nicht unwillkommen.«

»Ich freue mich jedenfalls, daß Sie den gegenwärtigen Zuständen gegenüber doch die Ruhe behalten haben. Die Sie höchstwahrscheinlich aber nicht behalten hätten, wenn man Sie in Amt und Würden gelassen, 324 Ihnen Gelegenheit gegeben hätte zu wirken, so zu wirken wie jene Leute, die im November achtzehn sich mit Aplomb auf den Boden der Tatsachen stellten.«

»Ja . . . so hätte ich gewirkt für uns, wie dieser Herr Doktor Lammers zum Beispiel und alle die anderen gegen uns. Denn die sind die eigentlichen Vorbereiter dieser totalitären, vom Militär von Anfang an so gewollten Diktatur. Ich habe das Militär auch anders angesehen als meine Parteigenossen. Ich erkannte die geschichtliche Wandlung schon im Weltkrieg, seitdem die Zweckmenschen und nicht mehr der Adel den Generalstab beherrschten . . . die Söhne des sogenannten Mittelstandes.«

»Ich erinnere mich, daß Sie früher schon darüber sprachen, öffentlich aber nicht dazu Stellung nahmen. Obwohl Ihr Wort, an der richtigen Stelle geäußert, nicht ohne Wirkung geblieben wäre.«

»Es wäre wirkungslos geblieben. Denn wer hatte damals, als es noch Zeit war, sich zu besinnen, ein Gehör für solche Dinge?«

»Ich denke: wir lassen jetzt auch dieses unfruchtbare Wenn und Aber. Um Almas willen aber möchte ich Sie bitten: Lassen Sie Ihre Hände von dem Kram, der so wenig zu Ihnen paßt wie zu einer blauen Arbeitsbluse silberne Litzen. Schließen Sie sich den Leuten näher an, die Sie neulich vor dem Beil gerettet haben. Sie haben mit dieser guten Tat den Anschluß eigentlich schon vollzogen.«

»Ich sagte Ihnen ja: Ich habe unter den Arbeitern von Schwartzkopf ein paar Freunde. Und für die fabriziere ich kleine Bomben.«

»Um so übler, wenn sie Ihnen das Eisen dazu liefern müssen. Und ich nehme an, auch noch andere Dinge. Und nun genug davon. Es kommt jetzt täglich ein Mann zu Ihnen, der den Verband erneuert. Mit dem sprechen Sie sich einmal gründlich aus. Er war früher nicht Ihr Freund. Es wird jetzt aber so sein, daß sie miteinander Freundschaft schließen.«

»Mögen Sie recht behalten. An mir allein soll es nicht scheitern, was Sie mit mir vorhaben. Und wenn Sie mit Alma in Verbindung stehn sollten, Doktor, dann erwähnen Sie bitte nichts von diesem Befund hier. Lassen Sie mich noch eine Weile tot sein.«

»Ich sehe nicht recht den Grund dafür ein; aber wenn Sie es so wollen . . . gut! Und nun komme ich zum letzten, lieber Freund: Haben Sie hier im Haus das Laboratorium?«

»Das gerade nicht, Doktor; ich fülle hier nur diese netten kleinen Apfelsinen.«

»Mit denen die Gruppe T die Funktürme umlegen will?« 325

»Nicht die Gruppe. Das ist einzig und allein meine Idee und meine ganz private Angelegenheit. Trotzdem halte ich viel von den Leuten.«

»Die Gruppe T in allen Ehren. Es sind alles junge und sehr bewegliche Leute. Sie aber laufen keine hundert Meter in 10,5 Sekunden. Sie springen keine Rekorde. Sie haben zwar taudicke, aber doch schon arg ramponierte Nerven. Sie haben Fehlspekulationen hinter sich. Es ist jetzt eine gewisse Unsicherheit in Ihnen. Und diese Unsicherheit war wohl auch die Ursache, daß Sie sich die Finger verbrannten. Ich denke, es sollte Ihnen Warnung genug sein.«

»Also ein Rüffel wird mir erteilt in aller Form?«

»Ich bin nicht Vorgesetzter, wenn Sie in solchen Kategorien immer noch denken müssen.«

»Hören Sie, Doktor: ich werde das Gefühl nicht los, daß Sie mich aufgegeben haben.«

»Das könnte man beinahe eine fixe Idee nennen. Ich rechne sehr stark mit Ihrer Mitarbeit. Sie müssen aber lernen, maßzuhalten.«

»Mir liegt Kleinarbeit nicht!«

»Auf die nur kommt es jetzt an.«

»Das setzt einen unerschütterlichen Glauben an die endliche Besinnung der Masse voraus.«

»Hätte ich diesen Glauben nicht . . . ja, wie wollte ich sonst meiner Arbeit einen Sinn beimessen? Gewiß, die Masse taumelt noch in der schweren Betäubung, in die sie das jahrelange Geschrei von der trottelhaften Unfähigkeit jeglicher Demokratie und von der Vortrefflichkeit der neuen Herrschaft versetzt hat. Sie sah in dem wirtschaftlichen Zusammenbruch auch einen Zerfall der Freiheit. Man versprach ihr die Wiedergeburt der Freiheit. Und das nahm sie, von allen guten Geistern verlassen, für bare Münze. Sie hörte von fern das Klappern der Münze und hielt die Hände auf. Und jetzt erst beginnt es zu dämmern, daß an den aufgereckten Händen eine Kette klirrt. Jetzt schütteln sie diese an die Unfreiheit geketteten Hände. Und was in Selbstgesprächen von ihren Lippen ausgeht . . . sehen Sie: daraus wollen wir das Wort machen, das wieder belebt und ein Antrieb wird. – Freiheit . . .! Wen verlangt es jetzt nicht nach einem tiefen Atemzug in einer wieder gereinigten Luft menschlicher Freiheit?«

»Ich fürchte nur, Doktor, daß die Verwirrung so entsetzlich gewesen ist, daß nur der ganz große Schrecken die Menschen aufrütteln kann zu einem Erwachen.«

»Sie meinen: es könne nur der Krieg sein, der aufrüttelt. Der Krieg, auf 326 den alle hoffen, die nichts von der Wirkung unserer Arbeit halten, die das Volk längst aufgegeben haben und in die leere Luft hinein spekulieren. Auf die zufällige Form des Scherbenhaufens, der übrigbleiben wird.«

»Ja . . . der Krieg, Doktor, auf den Deutschland mit Riesenschritten sich hinbewegt; weil er zu der Entwicklung gehört, die das Land durchmachen muß, und der nicht abzuwenden ist, auch wenn das Volk ihn nicht will. Aber die, die das Volk in der Gewalt haben, die müssen den Krieg wollen, um sich so oder so in Sicherheit zu bringen.«

»Das Volk will den Krieg nicht, nein. Deshalb müssen wir auch diesen Willen so stark machen, daß es den Kriegstreibern schon schwarz vor Augen wird, ehe sie losschlagen.«

»Das setzt immerhin voraus, Doktor, daß alle, die vordem einander die Schädel sich einschlugen, weil niemand dem anderen ein Bruder sein wollte, sich endlich zusammenschließen und das Geschrei um einen falsch ausgelegten Programmpunkt nicht mehr zu einem Entweder-Oder machen. Und daß diese Wandlung so geschehen könnte . . . daran glauben Sie? Sie haben nie mit Parteidogmatikern zu tun gehabt, Sie haben sich nie von einem Analphabeten übers Maul fahren zu lassen brauchen. Sie haben es nicht mit ansehn müssen, wie man aus Prinzipien einen gottserbärmlichen Schacher machte, wenn ein Augenblickserfolg damit verbunden war.«

»Auf das allmähliche Hineinreifen der Masse in eine wahrhafte Volksfront baue ich. Das ist kein Wunschtraum mehr. Das verspüre ich, wie wenn ein Kranker fühlt, ehe es der Arzt merkt, daß Wandlungen geschehen in seinem Blut. Dafür arbeite ich. Und alle, die in dieser Arbeit Opfer bringen mußten, haben sie nicht umsonst gebracht.«

»Würden Sie mir das vor einem Jahr gesagt haben, Doktor . . . vielleicht hätte ich Sie laut ausgelacht. Aber ich habe mich wohl doch zu lange in meinen eigenen Gedanken herumgetrieben und den Wind von einer anderen Seite her erwartet.«

»Von der Seite, deren Argumente Ihnen die Hand zermalmten . . .«

»Die Hand wird heilen. Und wenn sie wieder fest zupacken kann . . . Doktor, wir sprechen uns noch!«

Und als Doktor Grätz längst schon wieder in der Bahn saß und darüber nachdachte, ob es nicht doch richtiger wäre, anstatt Hillmann die Liesa Schimmel täglich hinausfahren zu lassen, um bei diesem in eine fatale Unordnung hineingeratenen Mann nach dem Rechten zu sehen, stand der Stadtrat immer noch am Zaun und sah auf das langsam dahintreibende Wasser des schmalen Flusses durch die Wiesen. Er konnte 327 sich von dem Gedanken nicht losmachen, daß das Volk noch sehr weit von der Einsicht entfernt sei, sich auf eine neue und das Zunächstliegende umfassende Idee zu konzentrieren, und daß erst in der Beseitigung alles Trennenden und nur im engsten Zusammenschluß jene Kraft ausgelöst werden kann, die das stählerne Ungetüm der Tyrannis herunterstürzt von dem Sockel, den nichts anderes als krasseste Interessenwirtschaft ihm gebaut hat.

Und er versuchte, gegeneinander abzuwägen. Da waren zum einen die Mächte, die von dem jetzigen Zustand profitierten und den Profit zu stabilisieren trachteten: Die Schwerindustrie, die Chemie, die Großgrundbesitzer und das Militär . . . und da war zum anderen die erst noch im Werden begriffene, unterirdische, graue Macht der Beschwindelten, Betrogenen und Ausgepowerten.

Welcher in realen Räumen denkende Mensch vermöchte es über sich zu bringen, einer Macht, die unsichtbar ist und von deren Wirken nur die Fehlrechnungen sichtbar werden, die Verluste, die Armut und die Primitivität der Mittel . . . eine Chance einzuräumen, selbst wenn er mit der Idee, die in der Macht steckt und sie bewegt, sympathisiert?

Es gehört mehr dazu, als nur der unerschütterliche Glaube an das Phänomen der ausgleichenden Gerechtigkeit, um in dieser Macht so zu wirken, daß ihre Aktivität nicht lahmgelegt werden kann durch die fortlaufende Kette von »Betriebsunfällen«.

Es fiel dem Stadtrat jetzt auch ein Satz ein, den ihm einmal der Doktor Grätz an den Kopf geworfen hatte, als man sich darüber stritt, ob es taktisch richtig war, daß seinerzeit die preußische Regierung der NSDAP das öffentliche Tragen der braunen Uniformhemden verbot und dann dieses Verbot nach vier Monaten wieder aufhob, unter dem Druck einiger Generale. Er, der Stadtrat, hatte diese Geschichte für nebensächlich angesehen. Doktor Grätz aber meinte: ›Auch Sie maßregeln Nationalsozialisten, wenn Sie in den Büros für die Partei agitieren, und heben diese Maßregelungen nach zwei, drei Monaten wieder auf unter gleichzeitiger Beförderung des disziplinarisch Bestraften. Auch Sie dulden, obwohl nicht der geringste Zwang höherer Stellen vorliegt, auf wichtigsten Posten der Verwaltung fanatische Hitleristen . . .‹ In diesem Fall hat man tatsächlich nach jener üblen Tendenz gehandelt: Nu, wenn schon! Und weshalb? Manche meinen: aus Feigheit. Nein, aus jener verfluchten Bequemlichkeit heraus, die es sich noch bequemer machen wollte. Und das hat jetzt diese böse Mißernte nach sich gezogen und die Opfer auf dem Gewissen. 328

 


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