Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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XXVI   Der Fischzug

Die Funktürme von Zeesen waren zwar noch nicht in die Stratosphäre hinaufgewachsen, um womöglich auch dort noch mit Lobsprüchen, deren Wellenlänge und Energie auf den Mars, die Venus, den Saturn und die noch ferneren Bezirke der Spiralnebel abgestimmt waren, Propaganda für die an Gott heranreichende Einmaligkeit des Dritten Reiches zu machen. Aber seit einigen Wochen schon lag eine Spezialwache von fünfzig SS-Soldaten in den Wellblechbaracken des Maschinenhauses. Sie kämmten mit schußbereiten Karabinern das ganze Gelände ab. Tag und Nacht flitzten sie auf Fahrrädern über die entlegensten Landstraßen oder stakten durch die Wiesen und Kiefernschonungen. Auf der Chaussee hielten sie jedes Auto, jeden Lieferwagen an und untersuchten sogar das Geschirr der Pferde, die von den Äckern kamen. Wonach sie suchten, das ließ sich aus ihrem Gebaren nicht erkennen. Sie nahmen jedes bedruckte Stück Papier mit, das sie in den Marktkiepen der Bauersfrauen fanden. Sie beschlagnahmten alles, was wie eine Büchse aussah und sich an Ort und Stelle nicht öffnen ließ.

Es ging in den Ortschaften rund um Zeesen das Gerücht, daß ein Bombenanschlag auf die Station geplant sei. Davon hörte auch der Stadtrat und war sehr betroffen. Er hatte den Gedanken, mit ein »paar Apfelsinen« die Geschwätzigkeit der Nachrichtenstelle abzudrosseln, weiß Gott wie lange schon aufgegeben. Doktor Grätz war der einzige Mensch gewesen, mit dem er über den vagen Plan gesprochen hatte. Es war überhaupt nur ein Gedankenspiel gewesen und die Details so versteckt wie die zu erratenden Dinge in einem Rebus, an dessen Lösung man ein paar Abende lang zu knabbern hat.

In die absurdesten Pläne hatte der Stadtrat sich schon hineingespielt, bloß um vor sich selber zu demonstrieren, daß er um keinen Preis Ja sagen mochte zu dem, was sich von Tag zu Tag immer deutlicher als Schwindel zu erkennen gab, als der größte und unverschämteste, auf 329 den je ein Volk, und in diesem Falle ein als intelligent geltendes, bis über die Ohren hereingefallen war.

Soweit der Stadtrat sich erinnerte und an Gespräche mit seinen proletarischen Freunden zurückdachte, war auch von der »Gruppe T« kein derartiger Anschlag geplant worden. Gewiß hatte er ihnen ein paarmal die Gefälligkeit erwiesen und die »Apfelsinen« gefüllt. Deren Verwendung aber geschah in einem anderen Bezirk und diente Zwecken, die mehr Abwehr als Angriff bedeuteten.

Und als er eines Tages wieder den Ingenieur sprach, der sein Neffe war und den er quasi als seinen Sohn betrachtete, sagte der junge Mann zu ihm: »Die Leute um Göring fangen schon an, am hellichten Tage Gespenster zu sehen. Sie verbreiten Meldungen, daß man wiederholt das Surren fremder Flugzeuge über Berlin gehört habe. Sie wollen sogar wissen, daß in einer der letzten mondlosen Nächte ein bemannter Fallschirm unweit des Kiefernforstes von Schenkendorf niedergegangen sei. Es sei demnach, so heißt es in den Kreisen der SS, als erwiesen anzusehn, daß die Bolschewiki es auf die Vernichtung der ihnen höchst unbequemen Funkstation abgesehen haben. Das Flugzeug-Gespenst wird sich jetzt wohl bald als ein neuer Trick entpuppen, der die Welt wieder vor eine vollendete Tatsache stellt. In diese sogar schon ziemlich weit vorbereiteten Tatsachen habe ich kürzlich Einblick nehmen können. Das Dritte Reich wird bald eine Luftflotte haben. Es sind aber nicht allein die paar hundert kriegsmäßig ausgerüsteten Bombengeschwader, die mit einem Male da sein werden; man baut unterirdische Flughäfen, und drei der wichtigsten sollen schon fix und fertig sein. Wahrscheinlich will man auch hier solch ein Ding anlegen. Unweit Schenkendorf sind über fünfhundert Arbeitsdienstler mit Erdarbeiten beschäftigt. An das Gelände kommt kein ziviler Mensch heran. Es wird aber soviel Zement und Eisen herangefahren, als habe man die Absicht, eine neue große Stadt, ausgerechnet in dieser abgelegenen Gegend, zu bauen. Um die Geheimarbeiten zu sichern, eben nur deshalb hat man das SS-Kommando hier untergebracht.«

»Du meinst: man muß jetzt hier mit einer dicken Luft rechnen?«

»Ich bin erstaunt, daß du sie noch nicht verspürt hast. Ich roch die Sache schon, als ich das letzte Mal hier war.«

»Gewiß, man sieht und hört allerhand. Aber . . .«

»Man hat dich mit einer Haussuchung noch nicht beglückt, wolltest du sagen?«

»Gott, bei mir können sie ruhig schnüffeln kommen. Bei meinen 330 Nachbarn stehe ich in keinem bösen Verdacht. Außerdem halten mich die Leute, von denen nicht ein einziger ein unbedingter Anhänger des neuen Systems ist, für ein wenig mitgenommen von dem ersten großen Schrecken. Ja . . . und von meinen Beziehungen zu den Leuten von Schwartzkopf haben sie nicht den geringsten Schimmer. Denn was ich mit denen abzuwickeln habe, das wird hier nicht sichtbar.«

»Ich möchte trotzdem raten, Onkel, du hältst dich für ein paar Wochen zurück. So lange wenigstens, bis der Arbeitsdienst den unterirdischen Stall gebaut hat.«

»Gut, Junge. Ich werde mir die Sache überschlafen. Mittwoch nachmittag bin ich im Lesesaal der Staatsbibliothek. So zwischen drei und fünf. Wenn du zur selben Zeit dort sein könntest, vielleicht sehen wir dann die Sache klarer.«

»Wenn es dir nichts ausmacht, dann treffen wir uns besser in der Konditorei Kranzler. Im Lesesaal könnten nämlich Leute sein, denen ich keine Gelegenheit geben möchte, meine Existenz festzustellen.«

»Wie du willst. Also dann um vier bei Kranzler.«

Und als der Stadtrat am Bahnhof, wo die Unterredung stattgefunden hatte, schon ein Stück wieder hinter sich hatte und in den schmalen Feldweg einbog, der bis zu seinem Haus führte, überdachte er die Mitteilungen seines Neffen. Vieles schien ihm zutreffend. Es deckte sich mit seinen eigenen Beobachtungen. Nur hatte er dem, was ihm begegnet war, keinen besonderen Wert beigemessen. Jetzt aber, wo man ihn sozusagen mit der Nase darauf gestoßen hatte, sah er die Dinge doch anders an. Und plötzlich flog es ihn an, auch darüber einmal gründlich nachzudenken, ob es nicht richtiger wäre, man gäbe dieses Haus hier auf. Er hatte es nur für zwei Jahre gemietet, damals, als er sich von Alma trennte und die andere Frau, zu der er jahrelang die intimsten Beziehungen unterhalten hatte, endlich heiratete. In sechs Wochen war der Stichtag, zu kündigen; andernfalls lief der Vertrag zwei Jahre weiter. Was sollte er jetzt auch mit diesem Haus? Das Herumkratzen im Garten hatte ihm zwar einen Spaß gemacht und ihn von der mehr als rauhen Gegenwart abgelenkt. Außerdem lief man hier keine Gefahr, mit früheren Bekannten zusammenzustoßen und sich bis aufs Blut ausfragen zu lassen.

Aber nun . . . ohne Frau . . . alleine hier . . . da wird es wohl doch das Beste sein, man gibt den Kram auf und mietet sich, irgendwo am Rande der Stadt, ein oder zwei möblierte Zimmer.

Zu einem klaren Resultat kam er jedoch noch nicht. Die Dinge und 331 Geschehnisse in der Landschaft lenkten ihn ab. Bald war es ein Pfauenauge, das vor ihm herflog, bald fegte ein Hase über den Kartoffelacker. Im Weißdorn trillerte die Grasmücke. In den Tümpeln veranstalteten die Frösche ein Wettgebrumm. In der klaren, wie aus blankem Glas gegossenen Luft über den Seen drehte sich der Bussard in einer Spirale bis in die Unsichtbarkeit hinauf. Manchmal schien es dem Stadtrat so, als schwebe er so leicht wie der Hühnerhabicht dahin, den er jetzt über dem Kleefeld entdeckte. Er meinte zu schweben und hörte doch die festen Schritte auf dem zu Stein verkrusteten Lehm. Dort, wo bei den drei Kiefern der Weg sich teilte und der Bach zu einem Teich sich verbreitete, stieß der Stadtrat ganz unverhofft mit dem Nachbar Korten zusammen.

Korten, ein frühzeitig in Pension gegangener Oberstudienrat, kam vom Teich herauf, wo er den Versuch gemacht hatte, ein paar Fische anbeißen zu lassen. Der Versuch hatte vier Stunden gedauert, und die Fische waren auch über die Würmer hergefallen, dem Angelhaken aber ausgewichen. Darüber war der sonst sehr nervöse Mann zwar nicht in eine üble Laune geraten. Jedoch stellte er Betrachtungen an, inwieweit diese für gehirnlos gehaltenen Fische mindestens jenen Menschen überlegen sind, die blindlings zuschnappen, wenn ein bestimmter Geruch ihnen die Nase kitzelt. Er hätte einem Fremden gegenüber allerdings nicht gewagt, sich zu erklären, wie er auf diesen sonderbaren Vergleich gekommen war und was er mit diesem bestimmten Geruch meinte. Für ihn jedenfalls stand es fest, daß die nationalen und sozialpolitischen Argumente der Hitlerei ein scharf riechender Köder waren, nach dem die meisten Zeitgenossen blindlings geschnappt hatten und jetzt an der Angel festsaßen. Weil sie von dem Geruch sich einen Sack voll privater Vorteile versprochen hatten; der Arbeitslose eine gut bezahlte und dauernde Lohnarbeit, der Krämer einen von morgens bis abends vollen Laden und die dementsprechende Kasse, der Beamte die Versetzung in eine höhere Gehaltsklasse, der Bauer Rekordpreise für Schweine und Kartoffeln und der Abenteurer, meist war es ein Kriegsprimaner und Baltikum-Kämpfer, das feudale Schloß, das er bislang vergeblich auf dem Mond gesucht hatte. Für diese Art von Leuten war der ausgeworfene Köder auch berechnet. Auf diese Leute baute man, mit diesen Leuten glaubte man marschieren zu können bis über die Rhône nach Westen und bis über den Dnjepr nach Osten. Von wem die Idee dieses nur vorgetäuschten nationalen Sozialismus eigentlich ausgegangen war und wer den Dirigenten des Fischzuges spielte . . . darüber sollte man einmal 332 gründliche Untersuchungen anstellen. Sicher war dieser niederstirnige Hitler nur ein in Lohn und Brot gesetzter Drillvogt und Anreißer, den stärkere Kräfte kommandierten und Gewalt über ihn hatten.

Wer vermöchte daran zu glauben, dachte der Studienrat weiter, daß diese Bewegung ein geistiger Umschwung sei, so urplötzlich aus den Tiefständen einer Zeit aufgetaucht wie die lutherische Reformation und die Französische Revolution? Und wie die Propagandisten der Swastika behaupten, von einer Auswirkung auf alle Gebiete menschlichen Tun und Trachtens, die diese beiden großen Umbrüche bei weitem noch übertreffen würde . . .?

Was in Wahrheit hinter dem Aufruhr, der sich vaterländisch drapiert, steckt und was der Dirigent in Wirklichkeit sich dabei denkt, wenn er das Feuerwerk der programmatischen Erklärungen abbrennen läßt, das ist gewiß nicht das Phänomen Deutschland, das wieder einmal erwacht sein soll, obwohl für jedermann, der klare Augen im Kopf hat, die Luft schwarz ist von Raben.

Von der Weimarer Republik hatte der Studienrat nie etwas gehalten. Aber er pfiff auch jetzt nicht die abgeleierte Melodie nach: Die Deutschen werden erst in ein paar Jahrhunderten reif sein für wahre Demokratie. Er glaubte vielmehr, daß die republikanische Staatsform dem urtümlichen Charakter der Deutschen zuwiderlaufe. Man kann, das war seine felsenfeste Meinung, ein Volk nicht dazu erziehen, sich charakterlich in sein Gegenteil zu verwandeln, so, wie man einen Vogel nicht abrichten kann, wie ein Fisch im Wasser zu schwimmen, oder einen Hasen so lange unter Druck und Zwang setzen, bis er wie ein Eichhörnchen von Ast zu Ast springt.

In seinen jungen Jahren hatte Korten dem Kreis um Stefan George angehört und in den »Blättern für die Kunst« auch das Bruchstück eines dramatischen Gedichtes veröffentlicht, worin ein »edler Sproß aus einem alten welfischen Geschlecht, im Kampf um des Rheines beiderseitige Ufer, die letzte, die für alle Zeiten entscheidende Schlacht gewinnt und durch Volkes Stimme zum Kaiser erwählt wird.« Es war ein Weihe-Spiel; der Meister hatte es belobt und ihm den unvergänglichen Wert einer Prophetie beigemessen.

An das verschollene Jugendgedicht hatte der Studienrat in diesen Tagen wieder denken müssen. Es schien ihm so, als würde sich das im Gedicht unbewußt Ausgesagte jetzt erfüllen. Die Zeit war überreif, in einem großen Krieg zu zerplatzen. Und es kann, nach diesem allem, was seit des großen Bismarck Tod mit Deutschland geschehen war, wohl 333 doch nur ein Kaiser der Retter sein, der das Volk aus der Verwirrung erlöst und ihm das Hohe Haus baut, das seinem Wesen gemäß ist.

Mit diesen Gedanken war der Studienrat auch wieder beschäftigt, als er den Stadtrat plötzlich vor sich sah. Er konnte ihm nicht mehr ausweichen. Er nahm die Hand an, die ihm der Stadtrat reichte, und erzählte von dem erfolglosen Spiel mit der Angelrute. Und sagte, er wäre schließlich ja auch nicht fischen gegangen, um ein paar Dinger als Fleischersatz für den Mittagstisch herauszuholen, sondern weil es die Meinung des Arztes sei, daß nichts anderes die Nerven so beruhige, kein Medikament, keine gymnastische Übung, als gerade dieses simple Auswerfen der Angelschnur und das Warten auf den Fisch, der anbeißt.

»Ich weiß zwar nicht, ob ich Nerven habe«, antwortete der Stadtrat, »mein Arzt allerdings meinte: ich hätte Nerven, sehr empfindliche sogar. Und um Gemütsstörungen und ähnliche Zustände zu vermeiden, soll ich im Garten fleißig graben, säen, pflanzen, Unkraut jäten und dann fröhlich ernten. Das sei bedeutend heilkräftiger und meinem Charakter zuträglicher als eine Zehntausendmark-Kur in einem feudalen Sanatorium. Vielleicht hat er recht; denn neulich las ich in einer der neuen amtlichen Zeitungen: es habe die provinziale Gesundheitsbehörde, die für die Insassen der Konzentrationslager im Moor verantwortlich ist, den Nachweis erbracht, daß von den über neunzig Prozent als schwer nervenkrank eingelieferten Häftlingen heute, nach einer durchschnittlichen Kur von anderthalb Jahren, niemand mehr an den alten, die Allgemeinheit schädigenden, Gebrechen leide, daß vielmehr eine derartige Umschichtung im Blut der Häftlinge sich vollzogen habe, wie sie noch in keiner Heilanstalt beobachtet werden konnte. Aus moralisch Minderwertigen seien, dank der neuen Methode, Menschen geworden, denen man über kurz oder lang eventuell auch das Staatsbürgerrecht werde verleihen können. Höheren Orts plane man, auf Grund dieser günstigen Ergebnisse, in kürzester Frist zwölf neue Lager einzurichten. Sie sehen hieraus, Herr Nachbar, daß Ihres Arztes Heilmethode wohl doch nicht jene letzte Form erreicht hat, mit der die Lagerkommandanten wahrhaft aufsehenerregende Erfolge erzielt haben.«

»Ja . . . wenn man dazu etwas sagen möchte, speziell zu den Auslassungen der provinzialen Gesundheitsbehörde . . . ich glaube, das ergäbe eine politische Unterhaltung. Und ich muß wohl annehmen, man wünscht sie nicht.«

»Wer wünscht sie nicht? Sie, Herr Nachbar?«

»Eigentlich braucht man unbefugte Zuhörer hier ja nicht zu 334 befürchten, zumal, wenn wir in unterhaltendem Ton uns über Dinge auslassen, die schwere Probleme sind. Schwer . . . das ist schon wieder zuviel gesagt. Aber Sie werden wohl verstehn, wie ich es meine, ohne daß ich mich konkret ausdrücke. Was Sie vorhin zitierten, das stand in der Zeitung?«

»Fettgedruckt. Fetter als sonst die Telegramme von der Ausbreitung des nationalen Gedankens bei den deutschen Brüdern in Übersee. Oder die Inhaftierung eines katholischen Priesters, dem vorgeworfen wird, daß er ein halbes Hundert Knaben hinterlistig mißbraucht habe.«

»Ich möchte vorweg bemerken, daß ich unter Politik-Treiben nicht die üblichen Wirtshausgespräche verstehe. Von denen hat seit dem Kriegsausgang die jeweilige Regierung in den vierzehn Jahren sich mehr oder minder leiten lassen und auch die dementsprechenden Resultate erzielt. Wir aber wollen doch, denke ich, uns in einem weniger vulgären Raum bewegen.«

»Ich habe mit der Wiedergabe des Berichtes der Gesundheitsbehörde doch nur eine Tatsache angeführt, verehrter Herr Nachbar.«

»Ich habe auch dieses Kapitel der sogenannten Tatsachen längst zum Altpapier geworfen. Denn das, was uns schon von diesen Müller, Stresemann und Brüning als Tatsachen aufgetischt wurde, war in keinem Fall etwas anderes, als die mehr oder minder geschickt verschnörkelte Arabeske einer Tatsache.«

»Und heute?«

»Heute? Ja, ich glaube, die Tatsachen sind handfester geworden. Vor allem jene, die den Nachdenklichen treffen.«

»Na also!«

»Wie meinen?«

»Ich sprach von jenen handgreiflichen Tatsachen. Und ich wollte damit bewirken, daß man darüber nachdenkt.«

»Was Sie meinen, das sind Erscheinungen, worüber Menschen, die humanistisch denken, leicht in ein Schamerröten kommen können. Ich habe solcherlei, worüber man erröten müßte, nicht auf dem Gewissen. Ich mißbillige diese Dinge. Aber darüber reden . . . hören Sie, das führt zu nichts.«

»Das Mißbilligen ist eine Stellungnahme. Gegen wen . . . ja, deutlicher darf man nicht werden.«

»Meinen Sie, daß ich mich damit schon verraten habe?«

»Sie haben sich damit schon zur Opposition geschlagen, daß Sie Ihr Grundstück mit dem kleinsten Format der nationalen Fahne versehen 335 haben, während unsere Nachbarn von jedem Baum eine Fahne von drei und vier Quadratmeter Tuch herunterhängen ließen.«

»Das ist Ihnen also aufgefallen, daß ich eine Kinderfahne für genügend hielt? Ich könnte mich allerdings damit entschuldigen, daß meine Pension knapp das Existenzminimum erreicht.«

»Der Wochenlohn eines Arbeiters in Wildau liegt sechzig Prozent unter dem Existenzminimum, und doch zwingt man gerade diese Leute, sich Fahnen anzuschaffen und aus den Fenstern herauszuhängen, deren Kosten mehr als einen halben Wochenlohn ausmachen.«

»Man wird mich nicht zwingen können, über meine Verhältnisse leben zu müssen.«

»Die Mehrausgaben für den Staat werden von der Pension abgezogen, damit die Verhältnisse nicht gestört werden.«

»Was eigentlich wollen Sie mit Ihren Anreizungen von mir wissen? Ich bin unpolitisch, so lange wenigstens, bis die Gesinnung allgemein da ist, zu der ich mich bekenne. Noch schwelt sie unten, aber sie wird spontan emporbrechen und wie eine Donnerwolke am Himmel stehn.«

»Daß solch eine Gesinnung sich bilden kann, denn schließlich bilden sich ja auch die Donnerwolken, ehe sie eine Erscheinung sind, setzt immerhin eine gewisse Gedankenfreiheit voraus.«

»Ich bin durchaus für die Freiheit. Für eine sehr weitgespannte sogar. Und die hat uns nicht einmal die Demokratie verschaffen können.«

»Hören Sie, es gab schon zu allen Zeiten Menschen, die eine sehr weitgehende Freiheit zu genießen wünschten, ohne sich aber dafür zu rühren. Und die auch wähnten, daß es auf eine Demokratie gar nicht ankomme. Aber dann, als es bereits zu spät war, erkannten sie mit einem Male, was sie verloren hatten, nämlich mit der Demokratie auch die Freiheit. Solche, sagen wir milde: unpolitische Menschen gibt es heute gerade unter den Intellektuellen in einer beträchtlichen Anzahl. Und diese Menschen . . . tue recht und scheue niemand . . . wiegen sich nun in der Illusion, daß gegenwärtig von einer Gefahr gar nicht die Rede sein könne, höchstens von einem Übel, das aber sehr schnell verschorfen wird.«

Korten starrte den Stadtrat an, als ob es eine viel einfachere Erklärung für die Sache und deren hintergründige Geschehnisse geben müsse. Und erst nach einer langen Pause fragte er: »Glauben Sie wirklich, daß alles, was wir jetzt über uns ergehen lassen müssen an Umschichtungen auf allen Gebieten geistigen Lebens, das Bekenntnis zum evangelischen Christentum einbegriffen, erst ein Anfang ist? Nicht schon die Ratlosigkeit eines Zuendeseins mit aller Weisheit?« 336

»Hätten Sie sich die Mühe gegeben, einmal darüber nachzudenken, was uns von diesen neuen Leuten in Aussicht gestellt worden ist und was sie inzwischen, Buchstaben für Buchstaben möchte man sagen, auch realisiert haben, dann dürften Sie sich über Anfang und Ende nicht mehr im unklaren sein.«

»Wenn ich Sie recht verstanden habe, Herr Nachbar, meinen Sie: man müsse das Negative, will sagen: das für uns Negative, genau betrachten und Schlüsse für das Zukünftige daraus ziehn?«

»Ja, die Dinge, über die zu sprechen selbst Eheleute heute sich scheuen; denn es ist wohl doch schon so weit, daß man die Fetzen Gespräch im Schlaf einander behorcht und das Aufgefangene sorgfältig notiert.«

»Das ist ja Irrsinn, mein Lieber, gemeingefährlicher Irrsinn!«

»Nach dem Gesetz vom 4. Juli macht eine Ehefrau sich strafbar, wenn sie von hochverräterischen Plänen ihres Ehemannes erfährt und den Behörden nicht unverzüglich Kenntnis davon gibt.«

»Es war vor deutschen Gerichten, in grauer Vergangenheit schon, so Usus, daß Mann oder Frau, stand der eine Teil unter Anklage, auch der schwersten, die Verweigerung der Aussage zugestanden wurde.«

»Das ist nicht das gleiche; Anzeige und Aussage sind zweierlei.«

»Mögen Sie recht haben. Die Gedanken rinnen einem schon fort, ehe man sie zu Ende gedacht hat. Es gibt solche Tage, und ich glaube, ich habe heute diesen bedrückenden Tag.«

»Vielleicht hätten Sie noch eine Stunde länger angeln sollen, wenn das die Nerven so beruhigt.«

»Den schlechten Tag habe ich auch von den Fischen zu spüren bekommen.«

»Ich glaube, den Fischen wird es piepegal sein, ob Hakenkreuze oder preußische Adler von den Fahnenstangen wehen. Dort unten wird wohl auch danach nicht gefragt: Jud oder Christ. Insoweit haben sie gewisse Freiheiten und Willensmöglichkeiten uns voraus. Um dieses Plus sind sie zu beneiden.«

Der Studienrat marschierte in einem Tempo vorwärts, als wolle er sich vom Stadtrat lösen, der etwas schwer auf den Beinen war und immer einen Schritt hinterher trollte. Vom Sturzacker, der den Weg teilte, stiegen in trichternden Wirbeln kleine Staubwolken hoch. Oben, am westlichen Himmel, über dem Hölzernen See, hing eine Wolke wie ein weißer Ballon. Die Schwalben pfeilten flach über die Erde hin und gerieten in jenes dunstige Zittern und Flimmern, das in kleinen Wellen die Fernen bewegte. 337

Mit einem Male blieb Korten stehn, holte umständlich ein weißes Tuch aus der Hosentasche und fuhr sich damit durch das Gesicht und über den Nacken, während der Stadtrat langsam weitergegangen war. »Warten Sie doch mal, ich komme ja schon!« rief er dem davonstakenden Stadtrat nach, und als er ihn wieder eingeholt hatte: »Wir sollten jetzt öfter gemeinsame Spaziergänge machen. Und wir brauchen ja nicht immer diesen Weg gehn, man kann es auch einmal mit dem anderen versuchen. Ich meine den zum Hölzernen See. Eine Stunde lang durch Wiesen. Dann kommt Wald, und dann haben wir wieder Wiesen. Das hohe Gras dämpft die Schritte, und ich glaube: auch das Wort.«

»Sie fühlen sich selbst hier nicht sicher?«

»Ich denke, man könnte unter Umständen in den Gesprächen etwas weitergehn, als gemeinhin erlaubt ist.«

»Sie wollen doch nicht etwa die Position des Abwartens aufgeben?«

»Wenn man Sie nicht zwangsmäßig vom Amt entfernt hätte, vielleicht dort belassen . . . und Sie wären in Ihren bisherigen Anschauungen geblieben . . . worauf hätten Sie die Taktik Ihres Tuns eingestellt, um sich für das Fernere zu erhalten?«

»Es gab eine Zeit, da war ich mir darüber schlüssig und sagte: Abwarten . . . Gewehr bei Fuß. Das war ein aus dem Schnaps heraus geborener Gedanke. Heute steht es fest: Ich wäre einer der vielen Ja-Sager geworden . . . oder in die Binsen gegangen.«

»Eine gewisse Freiheit, über die Sie jetzt verfügen . . . in der bewege ich mich doch auch. Und was meine Gedanken bewegt, Kleines oder Großes, das kann mir niemand nehmen.«

»Einfälle soll man nur haben, wenn man sie auch verwirklichen kann. So weit reicht heute die gegebene Freiheit aber nicht. Die andere, die man sich nimmt, ist mit Lebensgefahr verbunden.«

»Sie sind meiner eigentlichen Frage ausgewichen. Fürchten Sie die vorgeschlagenen Spaziergänge?«

»Wer von uns hat mehr zu fürchten?«

»Sie irren. Man hat den Marxismus, den Sie vertraten, nie für gemeingefährlich erklärt und auch gar nicht bekämpft. Denn auf Ihren Schultern trugen Sie nicht den Kopf von Bebel, sondern den von Miquel, verstehn Sie? Den des großen bürokratischen Rechners in Preußens besseren Zeiten. Und Rechenmeister, die wird man auch heute noch, vielleicht gerade heute, wie rohe Eier behandeln. Und übermorgen, wenn das Entweder-Oder vor der Tür steht, zum General-Zahlmeister des Feldheeres avancieren lassen.« 338

Jetzt war es an dem Stadtrat, die Stirnfalten hochzuziehn. Und er dachte bei sich: Vielleicht ist dieser Korten doch ein Aushorcher, und ich soll ihm die Unterlagen dafür abgeben, sich einen Orden zu verdienen bei der Gestapo. Und schon wollte er zu einem scharfen Gegenhieb ausholen, als er plötzlich bemerkte, daß man schon den Vorgarten seines Grundstücks vor sich hatte. Hier noch eine Weile mit dem Mann stehn zu bleiben, das behagte ihm nicht. Und deshalb sagte er nur kurz: »Daß ich meine Rolle noch nicht ausgespielt habe, leuchtet mir ein. Ich werde mir aber die Bühne aussuchen, auf der ich sie zu Ende spielen kann.«

»Schade, daß wir mitten im besten Zuge haben abbrechen müssen. Sie sind aber doch einverstanden damit, daß wir, sagen wir am Montag, gleich nach dem Essen, den netten Weg zum Hölzernen See hinuntergehn?«

»Sehen Sie dort die Bohnen? Sehen Sie auch das Unkraut? Ich muß wieder etwas tun, um den Arzt zufriedenzustellen. Und das wird mich wohl die ganze Woche hindurch in Anspruch nehmen.«

»Gut, verschieben wir es auf die nächste Woche. Wir haben ja Zeit, und Sie entkommen mir jetzt nicht mehr. Übrigens: ich sehe, Sie haben ja die neue Teerosen-Sorte. Darf ich mir vielleicht ein paar Augen abbrechen? Es ist nämlich jetzt die Zeit zum Okulieren. Im Garten ist das meine liebste und mir wichtigste Beschäftigung, verstehn Sie? Das Veredeln! Um das Unkraut kümmert sich die Frau.«

»Nehmen Sie sich meinetwegen einen ganzen Arm voll Augen mit. Und wenn es Ihnen Spaß macht, auch ein paar Rosen für die Unkraut-Frau.« Der Stadtrat sperrte das Tor des Gatters auf und ließ Korten eintreten. In dem Augenblick, als sich beide zu dem Rondell begaben, wo die Rosenbüsche standen, sprangen vier SS-Leute mit angeschlagenen Pistolen aus dem Treppenwinkel der Veranda, stürzten sich auf die beiden zu Steinblöcken erstarrten Männer, fesselten sie und jagten sie vor sich her, quer über die Wiese und das Kleefeld.

Als der Stadtrat wieder soweit bei Besinnung war, daß er stehenbleiben und den ihn vorwärts stoßenden Schwarzen fragen konnte: »Wollen Sie mit uns zum Bahnhof, meine Herren? Dann brauchen wir uns doch nicht so zu beeilen. Der nächste Zug fährt erst in einer Dreiviertelstunde«, bekam er einen Faustschlag gegen das Ohr, daß er ins Taumeln kam und den an ihn geketteten Korten mitriß in die Schwärze, die wie eine rasende Drehung von Himmel und Erde war.

Erst nachdem die Schwarzen die Beine nicht mehr bewegen konnten 339 und sich verschnaufen mußten, so heftig hatten sie den Stadtrat und Korten mit Fußtritten traktiert, gelang es Korten, der vielleicht um eine Wenigkeit härter war als der Stadtrat, sich wieder aufzurichten und auch dem Mitgefangenen auf die Beine zu helfen.

Dem Stadtrat hatten die Scherben der beim Sturz zerbrochenen Brille die Oberlippe aufgeschnitten. Das Blut lief ihm das Kinn herunter, als wüchse ihm ein Bart. Er ließ es laufen und prustete wie ein Pferd, das sich mit dem Wassertrinken übernommen hat.

Die Schwarzen ließen die beiden aneinandergefesselten Männer so dahinstolpern, wie sie es mit ihren zerschundenen Gliedern gerade noch vermochten. Sie dirigierten sie durch die Ortschaft, wo die Leute auf der Straße stehnblieben. Mancher schüttelte den Kopf und zerdrückte einen hochkommenden Fluch mit den Lippen. Andere wieder reckten die Arme und brüllten »Heil Hitler!« Drei Schuljungen, von denen einer eine Hakenkreuzfahne schwenkte, setzten sich an die Spitze des Zuges, sangen den Zuhältermarsch und marschierten, als täten sie es jeden Tag ein paarmal, bis zur Wache der Funkstation mit. 340

 


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