Paul Zech
Deutschland, dein Tänzer ist der Tod
Paul Zech

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IX   Mordkolonne Beilke

Der Nebel hing von den Bäumen bis zur Erde herunter. Zwei Reihen Ulmen und dazwischen eingeklemmt das schmale, graue Band der Chaussee Berlin-Karow-Buch. Die Felder lagen tiefer, schienen schwärzer und verwischten ohne Grenze in ein feuchtes, dunkles Nichts. Die Lichter der Beamtensiedlung Falkenhorst waren weit hinten als ein schwerelos herumschwimmender Fleck angedeutet. Ein ortsunkundiger Mann hätte jetzt dort kaum eine menschliche Behausung vermutet. Es lastete ringsum eine absolute Stille. Vor zehn Minuten war das letzte Gefährt über die Chaussee gerollt, der Lieferwagen einer Käsegroßhandlung.

Martin hatte, oben vom Baum herunter, das Auto nur an der ungewöhnlichen Form erkannt. Das helle Blau der Lackierung und die protzige Schrift in dicken, halbmeterhohen Goldbuchstaben blieben wesenlos in dem wäßrigen Dunst des aufsteigenden Nebels stecken.

Der uralte Birnbaum jenseits der Straße, in dessen oberster Gabelung Martin schon über eine Stunde hockte, überragte die Wipfel der Ulmen. Das Einzelhaus, hundert Schritte von hier entfernt, war als ein großer schwarzer Würfel deutlich erkennbar. Am Sockel dieses Würfels flimmerten zwei gelbe Punkte, und in diese Lichtzeichen hinein bohrte Martin seine Augen, als wolle er die Vorgänge beobachten, die sich hinter den Fenstern abspielten. Was aber hätte sich jetzt noch in den beiden Stuben ereignen können? Die SA-Kolonne, die das Haus von unten bis oben durchsucht hatte, war längst über alle Berge. Sechs Mann, Karabiner umgehängt, hatte Martin aussteigen sehen. Und sechs Mann waren aus dem Hause auch wieder herausgekommen. Keiner mehr und keiner weniger. Und einer von ihnen hatte ein großes Paket getragen, und es schien so, als hätte er schwer daran schleppen müssen. Es konnten wohl nur Bücher gewesen sein, Bände, die nichts anderes enthielten als Goethe, Schiller, Kleist und Nietzsche, ein paar Romane von Balzac, Zola, Dostojewski, Hamsun und Wilhelm Raabe. Das aber, worauf es der 102 Bande angekommen war, das wird sie nicht entdeckt haben. Vielleicht haben sie die schweren eichenen Möbel gar nicht einmal von der Stelle gerückt, den Fußboden nicht aufgerissen, die Wände nicht abgeklopft. Und aus Emmi konnten sie erst recht nichts herausholen.

Nur gut, daß man die Kinder in der vorigen Woche schon zu den Schwiegereltern gegeben hat. Es war für die armen Würmer schon Gift genug gewesen, daß sie diese Unruhe in den letzten Tagen und Nächten erleben mußten. Die Exzesse einer Haussuchung hatte man ihnen also doch noch ersparen können. Ein vernünftiger Gedanke von Emmi, daß sie Hannes und Grete kurzerhand ausquartiert hatte.

Weshalb Emmi aber jetzt immer noch zögert, das vereinbarte Lichtsignal zu geben? grübelte Martin weiter. Und er sagte sich, vielleicht schon zum dritten Mal in diesen Augenblicken: Sechs Mann SA sind auf das Haus zugegangen, und alle sechs haben das Haus doch wieder verlassen. Das konnte ich genau verfolgen, denn vor einer Stunde klebte der Nebel noch nicht so dicht in der Luft. Mitgenommen hat die Bande nur das Bücherpaket, aber nicht Emmi, die also doch noch im Haus sein muß. Merkwürdig, daß sie sich nicht meldet.

Es ist keine Kleinigkeit, hier oben in der Astgabel stundenlang zu hocken. Das geht nun schon auf die dritte Stunde zu. Oder sollten die Kerle Emmi etwa gedroht haben, daß sie das Haus die ganze Nacht unter Bewachung stellen würden? Nein, auch davon wird Emmi sich nicht haben einschüchtern lassen. Sie wird bestimmt einen Weg ausknobeln, um sich davon zu überzeugen, daß draußen keine Wachen stehen.

Martin verfolgte mit weit aufgerissenen Augen den Streifen der Chaussee, und in jedes Geräusch hinein hing er seine Ohren. Auf etwa vierhundert Meter Entfernung nahm er jetzt das schleifende Hingleiten eines Fahrrades wahr. So spät noch ein Kolonist aus der Stadt? Er preßte den Kopf durch das tropfende Gitterwerk der Zweige und wartete, bis der Scheinwerfer der Laterne den Nebel zerstach. Endlich sah er auch die Umrisse der Gestalt; nichts Uniformiertes, es war überhaupt kein Mann, sondern eine Frau oder ein Mädchen. Das Rad bog auch nicht zur Kolonie ab, es fuhr vielmehr geradeaus nach Buch. Und von der entgegengesetzten Seite kam, in einer gemütlichen Gangart, ein Pferdegespann. Der Reiter auf dem Gaul links pfiff vor sich hin. In diesen Zeiten ein verfängliches Lied: »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit . . .« Vielleicht wußte der Mann gar nicht, was es mit diesem Lied alles auf sich haben kann, wenn es die Braunen hören. Er pfiff es aber noch, als der weiche Hufschlag 103 der Pferde die einzig wahrnehmbare Bewegung war auf der menschenleeren Chaussee.

Martin sah nach der mit Leuchtziffern versehenen Armbanduhr: dreiviertel elf. Eine grauenhaft peinigende Situation, dieses Warten auf ein Signal! Und auf das noch alles, was sich im Hause inzwischen zugetragen haben mag.

Er überlegte: Ich werde noch zehn Minuten warten, und wenn Emmi bis dahin das Signal nicht gegeben hat, dann steige ich einfach hinunter; ganz egal!

Aber . . . Nein, es kann doch nichts Schlimmes passiert sein; Emmi hätte bestimmt geschrien, würde einer von den braunen Hunden handgreiflich geworden sein. Ich habe das Stimmengewirr vor der Tür deutlich gehört, und wenn Emmi wirklich geschrien haben sollte, das wäre mir entgangen? Unmöglich! Ich habe den Wind gehört, der im Spalier herumknarrte, die Stalltür ist auf und zu gegangen, wahrscheinlich hat sich der Knebel gelockert, die Ziegel auf dem Dach haben geklappert, ich will Sonntag doch mal auf die Leiter klettern und nachsehen, was da eigentlich los ist, das Dach ist doch ganz neu.

Vielleicht hat Emmi in der Aufregung vergessen, daß sie sich bemerkbar machen sollte, sobald die Luft wieder rein ist. Im Haus ist sie bestimmt, denn sonst würde ja das Licht nicht brennen.

Übrigens ist es hochanständig von Hillmann gewesen, daß er uns rechtzeitig gewarnt hat. Er hätte auch absausen können, ohne uns ein Wort zu sagen, als in der Kolonie die dicke Luft anfing. Man kann heute nicht mehr alles so genau nehmen mit der Freundschaft. Es kostet oft das Leben, wenn man seinen Kameraden gegenüber Pflichten erfüllt. Heute hat Hillmann sicher an sich ganz zuletzt gedacht. Das scheint mir wenigstens so, denn sonst wäre er nicht den umständlichen Weg zu uns heruntergelaufen. Und dann im Eiltempo nach der Stadt. Dort untertauchen. Gut so. Aber wie wird man jetzt die Verbindung zu ihm aufnehmen können? Wahrscheinlich arbeitet er schon längst in einer illegalen Gruppe. Und auf die Dauer kann ich mich doch auch nicht verkriechen und abwarten. Und hier nur mit dem Abziehapparat arbeiten . . . die paar Zettel . . . Ja . . . Hillmann, wir brauchen dich! Du läßt dich nicht so leicht verwirren . . . halte dich nur nicht allzuweit ab vom Schuß!

Martin spürte dumpf, daß in seinem rechten Bein kein Leben mehr war. Der Ast hatte die große Ader abgeklemmt. Er zog das Bein aus der Gabel heraus, stützte beide Arme auf den oberen dicken Ast und 104 schlenkerte das Bein hin und her. Der zu Tau geronnene Nebel fiel in großen Tropfen zur Erde.

Endlich zirkulierte wieder das Blut in dem fast abgestorbenen Bein. Es kribbelte unter der Haut, als bohre ein Schwarm von Würmern in den Gefäßen herum. Schließlich funktionierten auch wieder die Muskeln und Sehnen. Die Massage hatte geholfen. Es war aber eine gute halbe Stunde darüber vergangen. Die Lichtpunkte in dem schwarzen Block des Hauses schienen sich inzwischen vergrößert zu haben. Manchmal sah es so aus, als drehten sich große Feuerräder.

Nach einer Weile erst merkte Martin, daß es seine Augen waren, die aus dem nur schwach herüberscheinenden Licht diese rotierenden Figuren machten. Er drückte die Augen zu und den Kopf tief zwischen die Schultern, als würde in diesem Moment von oben her ein Schlag heruntersausen. Ein wahnsinniger Reflex der Nerven . . . dieses Gefühl eines Schlages und dieses Zurückzucken! Wie dieses Warten doch zermürbte, nicht nur die Nerven, auch schon die gröberen Funktionen des Körpers.

Mit einem Male fiel ihm wieder ein, was Hillmann in der vorigen Woche gesagt hatte: ›Der Beilke stellt uns nach. Er hat es uns nicht vergessen, daß wir ihn damals aus der Siedlung hinausgeworfen haben. Du solltest deine Frau und deine Kinder in Sicherheit bringen. Ich habe es mit den Meinen bereits getan. Ich stehe jetzt ganz für mich allein und gefährde niemand. Die Frau, wenn sie für den Kampf nicht geeignet ist, muß herausbleiben. Die Front ist kein Aufenthalt für Familien.‹

Wäre Emmi doch gleich mit den Kindern mitgegangen! Nein, sie wollte alles besser wissen. Und gemeint hatte sie sogar noch, der Beilke wäre nicht der Schweinehund, für den wir Männer ihn hielten . . . Wenn sie doch bloß recht behalten würde!

Er hatte sich jetzt wieder soweit gesammelt, daß er den Abstieg riskieren konnte. Zwei dünne Äste brachen ab. Und als er endlich festen Boden unter den Füßen verspürte, zuckte er zusammen und erschrak.

Und er stand noch eine ganze Weile und hielt sich mit beiden Händen am Stamm fest. Dann quälte er sich aus dem Lehm heraus, kroch durch den Garten bis zum Damm der Chaussee hinaus und ruhte sich aus. Das heftige Atmen und der Druck in den Schläfen lähmten für Sekunden das Weiterdenken, und das starke Sausen in den Ohren nahm auch für eine Weile keine Geräusche von außen auf.

Martin erregte sich: Wenn Emmi jetzt das Signal gegeben hat, dann habe ich es natürlich glatt überhört in meiner Unruhe. Und Emmi wird dastehn und sich ängstigen und nicht begreifen können, weshalb 105 ich nicht längst schon wieder zurück bin. Und sie wird mir sagen: Es ist vorbei für heute mit der Gefahr. Morgen haben wir den ganzen Tag Zeit, zu überlegen, wie man sich dieses Nichtstun vom Leibe halten kann, und wo und wie man gebraucht wird, anderen Bedrängten beizustehen.

Illegale Arbeit . . . so wird es in Zukunft sein; denn daß man plötzlich aufhören wird mit der Verfolgung und jedem seine Arbeitsstelle wieder zurückgibt . . . wer könnte daran denken?!

Er sah sich auf der Chaussee nach links und rechts um. So weit er aber sehen konnte, war keine Spur von einer fremden Bewegung zu entdecken. Von der anderen Seite der Kolonie herüber pfiff eine Lokomotive. Ein Rangierzug setzte sich in Bewegung. Und jetzt überlegte Martin kurz: Soll ich den geraden Weg nehmen? Oder ist es richtiger, wenn ich quer über das Feld gehe?

Er stapfte über den nassen Sturzacker. Erst zehn Meter vor dem Zaun seines Grundstücks schlug er einen Haken und schritt auf den Vordereingang zu. Die beiden Fenster der Wohnstube waren nun deutlich als rechteckig in das Mauerwerk eingeschnittene Lichtflecke sichtbar. Hinter den Vorhängen aber war auch nicht die Spur eines sich bewegenden Schattens zu erkennen. Das Tor zum Garten stand sperrangelweit offen. Emmi mußte das Haus also doch nicht verlassen haben, als die braune Bande endlich abgezogen war. Das Flötensignal hatte sie vom Fenster aus geben wollen.

Merkwürdig, auch die Haustür stand einen handbreiten Spalt offen. Und der Hund? Weshalb schlug Peter nicht an?

Wahrscheinlich, brummte Martin, wird Emmi den Hund, als die Burschen an der Gartenpforte gerüttelt hatten, im Keller hinten eingesperrt und dann vergessen haben, ihn wieder herauszulassen. Aber jetzt müßte er sich doch melden, der dumme Kerl! Er kann meine Schritte doch nicht überhört haben? Schleiche ich denn so, leiser und vorsichtiger noch als ein Dieb? Oder sollten die Braunen den Hund womöglich abgeknallt haben, weil er sie vielleicht angefaucht hat? Und weil sie sogar von einem Hund noch verlangen, daß er stramm steht und die Pfote hebt? Nein, ein Schuß ist die ganze Zeit über nicht gefallen, dieses verfluchte Geräusch wäre mir bestimmt nicht entgangen.

Aber jetzt wieder dieses schreckliche Gehämmer im Hals. Mein Gott, wo hat man bloß seine Ruhegelassen?! Von oben bis unten . . . total durchgedreht ist man.

Er blieb auf der zweiten Treppenstufe stehn, holte tief Atem und rief: »Emmi! Em . . . mi! Em . . . mi!« 106

Es kam keine Antwort, obwohl er mindestens eine Minute gewartet hatte, daß Emmi sich melde. Schließlich gab er sich einen Schwung, riß die Tür auf und stand auf der kleinen Diele. Und sofort schlug es ihm entgegen, das, was er nicht als Realität . . . nur ganz tief im Unterbewußtsein, erwartet hatte . . . diese Unordnung, dieser sonderbare, den Atem beklemmende Geruch.

Die geschnitzte Urgroßvater-Truhe klaffte offen ohne Deckel. Die Wäschestücke lagen auf der Erde herum, und auf den weißen Kinderhemden waren die Trampelspuren von genagelten Stiefeln sichtbar. Kein Bild mehr hing an der Wand. In Scherben und Fetzen lag es in einer Ecke durch- und aufeinander.

Martin griff sich an die Stirn, strich die Haut glatt, fuhr sich durch das Haar und war eine ganze Weile unschlüssig, ob er zuerst in die Küche gehen sollte oder in das Wohnzimmer. Es war keine vorwärtsdrängende Kraft in seinen Gedanken. Ein schwerer Druck lähmte die Blutzufuhr nach dem Gehirn. Endlich drückte er die Klinke der Küchentür, ohne daß ein klarer und fester Wille dazu in ihm gewesen wäre.

Auf dem Herd brannte eine Gasflamme unter dem Wasserkessel; die Emaille war abgesprungen, das Eisen glühte blutrot. Er drehte den Gashahn zu. Auf dem Tisch stand die Teigschüssel mit Mehl. Ein Ei war vom Tisch heruntergerollt und lag zerbrochen auf der Erde. In der Anrichte waren alle Schubfächer aufgerissen. Umgestürzt der Kohlenkasten. Das trockene Holz aus dem Herdloch herausgezerrt und in der ganzen Küche zerstreut.

Minutenlang starrte Martin auf das grauenhafte Durcheinander. Von seinem Gehirn wich langsam der Druck. Die Gedanken ordneten sich. Er griff nach einem Topf, ließ ihn voll Wasser laufen und stürzte den Inhalt in einem Zuge hinunter. Und als er dann mit einem festen Entschluß die Tür zur Wohnstube öffnete, da war nicht das leiseste Zittern mehr in seiner Hand. Und es würgte ihm auch nicht mehr in der Kehle, als er die Zerstörung hier sah: Tisch und Stühle durcheinander geworfen. Das Sofa an vier Stellen aufgeschnitten und die Polsterung herausgewühlt. Die Scheiben des Bücherschranks zerschlagen, die Bände davor auf der Erde. Die Wanduhr zertreten. Das Geschirr aus dem Büfett in einen Müllhaufen verwandelt. Der Silberkasten leer, dieses Generationen hindurch behütete kostbare Erbstück aus der Familie seiner Frau. Von allen Wänden die Tapeten heruntergerissen. Das Klavier umgestürzt, die Saiten quollen heraus: ein wirres Knäuel von Drähten mit den weißen, wie Fingerknochen aussehenden Hölzern des Hammerwerks. 107

Hier haben nicht kriminelle, räuberische Menschen gehaust, hier haben plötzlich von den Ketten losgelassene Tiere mit Eckzähnen, Hörnern und Krallen gewütet und das braune Gift sinnlosester Zerstörung fließen lassen. Hier haben höllenhafte Ungeheuer ihre barbarische Wildheit an einem wehrlosen Objekt demonstriert. Hier grinst die zu einem Ungeheuer verzerrte Fratze der Swastika.

»Emmi! Emmi! Emmi!«

Es war Martin nicht mehr möglich, laut zu rufen. Es war nur ein Gekrächze, und der heisere Ton rasselte noch eine ganze Weile in seinen Ohren. Er schob mit der Fußspitze den großen leeren Rahmen, der hinter Glas eine signierte Radierung der Käthe Kollwitz gehalten hatte, beiseite: das letzte Weihnachtsgeschenk für Emmi von den Kollegen Hillmann und Tegetmeyer. Wie hatte Emmi sich damals über dieses Bild gefreut!

Mit hängendem Kopf stieg Martin die Treppe zur Schlafkammer hinauf. Jetzt war er schon auf alles gefaßt. Und es warf ihn auch nicht um, als er die zerschnittenen Betten sah, den umgestürzten und demolierten Kleiderschrank. Den großen Kothaufen und die Nässe in der Kinderbettstelle. Die Hausapotheke zertreten und Puder, Tee, Watte, Bandagen und Flüssigkeiten mit den Bettfedern vermengt.

Martin suchte den Boden und den Keller ab nach Emmi. Er wühlte in dem Scherbenhaufen und in dem Wirrwarr der Betten herum nach Emmi. Er stellte das auf den Kopf gestellte Haus noch einmal auf den Kopf und suchte nach Emmi. Er fand keine Spur von Emmi. Er entdeckte aber unter der umgestürzten Truhe den Kadaver des Hundes; die Hirnschale aufgeschlagen von einem wuchtigen Hieb mit einem Eisen.

Er setzte sich auf die Treppenstufen zum Keller und stützte den Kopf in beide Hände. Er hatte das Gefühl, als wäre sein Körper von oben bis unten auseinandergesägt. Zwei Hälften, vom Krampf der Schmerzen so lange noch zusammengehalten, bis endlich die Agonie kommt. Bis alles stumm ist, blind und nicht mehr hier.

Die Luft rieb sich an den durcheinanderwirbelnden Gedanken, und es bildete sich auf der ganzen Haut des Körpers eine Art von elektrischer Spannung, ein Fieber, das Frost und Hitze zugleich war. In seinem Mund war eine brandige Trockenheit. Der Körper schien ihm mit der Zeit ausgedörrt wie ein dauernd der Sonne ausgesetzter hölzerner Pfosten. Es tanzten Feuerkreise vor seinen Augen, obwohl er die Lider fest zusammengepreßt hatte. Er wartete auf den Augenblick, der aus allem eine einzige Flamme machte. Und nach der letzten Zuckung und dem Rauch 108 das weiße, nichtige Häufchen Asche, weiß wie bei toten Augen. Und es erschienen ihm alle die Sterbenden wieder, in deren brechenden Augen er hineingesehen hatte und sie leise zugedrückt.

Es fing draußen schon an zu dämmern, als Martin sich endlich erheben konnte. Das Zeug klebte ihm naß am Leibe, voller Frost und voller Ekel vor den scheußlichen Gerüchen.

Er schritt über die Diele und sperrte die Tür zum Hof auf. Die frische Morgenluft beschlug sein Gesicht. Die Gedanken ordneten sich wieder. Die Krise schien vorüber zu sein.

Er sah den Ziegenstall, die Tür klaffte weit offen. Beide Tiere hatten sich losgerissen und standen schweißbedeckt in der äußersten Ecke unter der Hühnerleiter. Und als Martin sich nach den Trögen hinbewegte, da entdeckte er endlich Emmi. Von einem eisernen Haken, der die Raufe hielt, hing sie herunter. Starr. Eiskalt. Das Gesicht so entsetzlich verzerrt, daß Martin sich abwenden und auf der Stelle erbrechen mußte.

Der Schock dauerte aber nur Sekunden. Martin drehte sich wieder herum, berührte die verkralle und erstarrte Hand Emmis mit seinen Lippen, trieb die Ziegen hinaus, verschloß die Tür mit dem Holzknebel und machte sich auf den Weg zur Kolonie.

Es war kurz vor sechs Uhr. Die Landstraße war schon belebt von Leuten, die in die Stadt zur Arbeit fahren wollten. Martin merkte nicht, daß er oft gegrüßt wurde und daß man ihm kopfschüttelnd nachsah. Er schwankte wie ein Betrunkener, er war barhäuptig, die Kleidung hing ihm unordentlich am Körper herum und war von unten bis oben voller Schmutz. In seinen Gedanken bohrte nur die eine Frage: ob der Doktor Grätz wohl noch zu Hause sein mochte und nicht womöglich schon hinausgefahren war zur Anstalt. Er wußte: Doktor Grätz hatte sich nicht gleichschalten lassen. Er durfte seinen Dienst in der Anstalt noch versehn. Wahrscheinlich hatte man noch keinen passenden Ersatz für ihn, und man wird ihn so leicht und einfach auch nicht bekommen. Und der Dezernent im Ministerium mußte ihm wohl ein gutes Zeugnis ausgestellt haben. Aber wie lange noch würde er ihn halten können?

Das überlegte Martin, und vieles andere noch wirbelte in seinem Kopf herum, als er auf das Haus von Doktor Grätz zuschritt.

Doktor Grätz sperrte die Tür auf, noch ehe Martin geklingelt hatte. Und er frug auch nicht lange, was passiert sei. Er schloß die Tür zum Konsultorium auf und schob Martin hinein. Er rückte ihm einen bequemen Sessel hin und setzte sich gegenüber. Und eine ganze Weile sprachen nur die vier Augen miteinander. 109

Dann sagte Doktor Grätz: »Was ich tun kann, Martin, nicht nur als Arzt, soll geschehen.«

Martin schüttelte den Kopf: »Ich bin nicht gekommen, um mir ein zerschlagenes Hinterteil ausflicken zu lassen. Ich wollte Sie nur bitten, nach Emmi zu sehen. Sie sind wohl der einzige noch, glaube ich, dem man sich heute anvertrauen kann.«

»Eine Fehlgeburt, Martin? Das kann jeder andere Arzt doch auch behandeln; besser sogar. Ich nahm an, daß es sich um einen komplizierteren Fall handelt. Sie verstehen mich doch, Martin?«

»Ja, Herr Doktor, ich verstehe. Sie aber haben mich falsch verstanden. Jetzt aber . . . ich meine: um solch einen komplizierten Fall handelt es sich.«

»Sie haben gestern spätabends wohl auch diesen Besuch der Kolonne Beilke bekommen?«

»Wir sind gewarnt worden; früh genug. Emmi aber bestand darauf, daß ich mich, sobald es sicher sei mit dem Besuch, außerhalb verbergen müsse. Sie würde mit der Bande schon fertig werden. Ich wollte durchaus nicht weg. Sie war aber nicht davon abzubringen, daß ich allein verschwinden müsse. ›Geh wenigstens bis über die Chaussee‹, sagte sie, ›und versteck dich im Garten vom Budiker Spund. Warte dort. Wenn die Luft wieder rein ist, werde ich vom Fenster aus pfeifen.‹ Und als ich noch immer nicht gehen wollte, schob sie mich zur Tür hinaus. Und war direkt böse, weil ich immer noch zögerte und sie nicht alleinlassen wollte.

Auf das Pfeifen habe ich vergebens gewartet. Vier Stunden saß ich oben in einem Baum und wollte beobachten. Das verabredete Signal geschah nicht. Und dann bin ich endlich nachsehen gegangen. Und was ich vorgefunden habe nach dem Besuch dieser Kolonne . . . deswegen bin ich jetzt hier, Herr Doktor. Nur deswegen.«

»Ich habe verstanden, Martin. Armer Kerl . . . Warten Sie eine Minute, bis ich die Instrumente eingepackt habe.«

»Instrumente werden dazu wohl nicht mehr nötig sein, Herr Doktor. Nur der Totenschein mit Ihrer Unterschrift . . . und daß es jemand gesehen hat, wie eine Frau aussieht, die man in die Schlinge hineingezwungen hat.«

»Hören Sie, lieber Freund . . . solche Gesichter sah ich in dieser Nacht schon zweimal.«

»Dann werden Sie wohl nicht mehr können, sich auch noch das dritte anzusehen . . .«

»So ist das nicht gemeint gewesen, Martin! Ich werde den Schein 110 ausschreiben. Aber überlegen Sie sich das: Sie müssen nachher zur Polizei mit dem Schein.«

»Davon verspreche ich mir nichts. Gar nichts verspreche ich mir davon.«

»Möglich, daß die Polizei keinen Finger rühren wird, obwohl ihr die Täter bekannt sind. Sie wurde in dieser Nacht oft gerufen und schritt doch nicht ein. Wahrscheinlich darf sie nichts unternehmen. Darum handelt es sich jetzt aber auch nicht, ich meine in unserem Fall. Sie möchten Ihre Frau aber doch unter die Erde bringen oder ins Krematorium?«

»Und die Sache so ansehen, als wäre ihr der Strick von alleine um den Hals geflogen? Oder ich hätte womöglich dabei geholfen . . .«

»Auf der Polizei wird ein Protokoll aufgenommen werden, wenn Sie mit dem Totenschein kommen und den Tatbestand festgestellt haben wollen. Überlegen Sie sich vorher genau, was Sie angeben wollen.«

»Ich denke, das wird alles in dem Schein stehen, den Sie ausstellen?«

»Kommen Sie, Martin. Man wird sehen, was man tun kann.«

Unterwegs trafen sie mit dem Wachtmeister Müller zusammen, der gerade aus dem Haus von Pitschau kam. Auch dessen Frau hing in der Schlinge. Der Mann hatte Nachtdienst gehabt. Müller war ein alter Beamter, orts- und personenkundig. Er hatte viel Sympathien in der Kolonie. Man wußte es zwar nicht genau, es hieß aber wenigstens so, daß er in den letzten Jahren immer sozialdemokratisch gewählt habe.

Doktor Grätz hielt ihn an und fragte ihn, ob er ein paar Minuten Zeit habe.

»Ja . . .«, sagte Müller, »wenn es unbedingt sein muß, wird man wohl auch Zeit haben.«

»Es handelt sich um meine Frau, Wachtmeister!« äußerte sich jetzt Martin. »Wir haben in dieser Nacht das neue Deutschland kennengelernt.«

»In dieser Nacht erst, Martin? Es gibt Leute, die sind viel früher hell geworden.«

»Von hell oder dunkel wollen wir nicht reden, Wachtmeister, obwohl mir schwarz vor Augen geworden ist. Und wenn Sie Emmi sehen werden . . .«

»Ach so . . . auch bei Ihnen?! Ja, Martin, viel Sinn wird es nicht haben, wenn ich amtlich, ›beaugenscheine‹. Die Protokolle nämlich, die schicken wir erst gar nicht mehr ab zur Staatsanwaltschaft, weil sie am nächsten Tag doch wieder zurückkommen mit dem Vermerk: es läge kein Anlaß vor, einzuschreiten.« 111 »Sie haben immerhin noch Nerven, Herr Wachtmeister. Martin aber scheint sie nicht mehr zu haben. Sie werden mir vielleicht behilflich sein müssen . . .«

»Das mit den Nerven, Herr Doktor, das wollen wir mal lassen. Seit vier Wochen habe ich keine ruhige Nacht mehr gehabt. Und Dienst: meist vierzehn, oft auch zwanzig Stunden hintereinander. Ich bin um meine Pensionierung eingekommen. Nicht wegen Überarbeitung; Gott ja, das wäre wohl noch auszuhalten gewesen. Aber das andere; und was zuviel ist, das ist eben zuviel.«

Sie gingen die Straße bis zu Martins Haus, ohne noch ein Wort miteinander zu wechseln. Die beiden Ziegen bewegten sich im Vorgarten, reckten die Hälse und blökten kläglich. Die Haustür stand weit offen.

Martin ließ den Wachtmeister und Doktor Grätz vorangehen. Sie sahen sich die Küche an und dann das Wohnzimmer. Sie stiegen die Treppe hinauf und blieben in der Schlafkammer eine Weile stehen. Und schließlich sagte Wachtmeister Müller, bloß um diese grauenhafte Stille zu unterbrechen: »Ja, Martin, anders hat es auch bei Ihrem Freund Tegetmeyer nicht ausgesehen und beim Hillmann; bei dem ist zum Glück niemand zu Hause gewesen. Zum Abschlachten waren nur die Hühner da. Beim Lehrer Granowsky aber . . . ich sage Ihnen, wie wir den und seine Frau gefunden haben . . . na, das haben Sie ja nun hinter sich, Herr Doktor. Mir hat es jedenfalls den Rest gegeben.«

»Wo haben Sie eigentlich die Kinder, Martin?« fragte Doktor Grätz.

»Dort, wo in diesen Tagen auch Emmi hinsollte, bei den Schwiegereltern.«

Doktor Grätz nahm eine kleine Röhre aus der Westentasche, öffnete sie, schüttete zwei kleine graue Kugeln heraus und gab sie Martin: »So, die schlucken Sie mal schnell hinunter.« Und als Martin ihn verdutzt ansah: »Schlucken Sie ruhig, die Dinger beißen nicht. Aber Ihre Beine zittern.«

Nach einer Weile fragte Wachtmeister Müller: »Ist die Frau im Keller? Oder auf dem Boden?«

Martin drehte sich um und wischte über die Augen. Doktor Grätz legte ihm die Hand auf die Schulter: »Sie brauchen nicht mitzukommen. Das mache ich mit dem Wachtmeister schon alleine ab.«

Martin gab sich einen Ruck: »Im Stall. Und das Abschneiden will ich besorgen. So viel Kraft habe ich noch, dieses schreckliche Gesicht wieder vor mir zu sehen. Und es soll klebenbleiben in meinem 112 Gehirnkasten, so lange, bis oben alles auseinanderplatzt, bei mir oder bei den anderen.«

»Wir wollen hoffen, bei den anderen!« brummte der Wachtmeister.

Martin führte sie über den Hof in den Stall und zeigte nach der Ecke. Und mit der anderen Hand hielt er sich am Türrahmen fest und biß sich die Lippen blutig.

Wachtmeister Müller stieß ihn an: »Nee . . . Martin, das lassen Sie gefälligst uns mal alleine abmachen. Wir sind sozusagen Gerichtspersonen, auch wenn das heute nicht das geringste auf sich hat. Später vielleicht. Wenn Sie uns jetzt aber ein Bettuch holen wollten oder eine Wolldecke, ganz egal was Sie da finden . . .«

Und als Martin zurückkam, lag Emmi schon auf dem Gartentisch, ein weißes Taschentuch auf dem Gesicht. Der Wachtmeister nahm Martin das Laken aus der Hand. Und Doktor Grätz schob ihn ein Stück mit sich nach vorn. Unter dem Nußbaum blieben sie stehen.

»Nun, Herr Doktor . . . hat sie sich selber den Strick um den Hals gelegt?« fragte Martin, und seine Zähne schlugen aufeinander.

»Zuerst mal ist eine Pistolenkugel dagewesen. Ein ganz kleines Loch sitzt da im Hinterkopf, die Haare versengt. Aber es ist sehr schnell mit ihr zu Ende gegangen. Vergewaltigt hat man sie, als sie schon ohne Bewußtsein war. Ja . . . und die Geschichte mit dem Strick . . . das ist mir nicht mehr neu. Diese infame und brutale Gemeinheit ist bei der Kolonne Beilke schon eine Gewohnheit geworden. Das besondere Erkennungszeichen sozusagen, wer diese Exekution vollzogen hat.«

»Also doch Beilkes Sturm?«

»Ich wollte nichts gesagt haben, Martin. Aber Sie müssen jetzt unter allen Umständen verschwinden.«

»Und Emmi!«

»Wird alles von uns besorgt, verlassen Sie sich darauf.«

»Das kann ich von Ihnen nicht verlangen.«

»Es sind auch noch ein paar andere Helfer da.«

»Jetzt wird jeder mit sich selber genug zu tun haben, Herr Doktor.«

»Das glauben Sie in diesem Augenblick nur. Vielleicht schon morgen wissen Sie mehr.«

»Ich verstehe, wo Sie mich hinhaben wollen . . . natürlich . . . da gehöre ich ja auch hin.«

Sie machten noch ein paar Schritte zum Zaun hin. Das Gesicht von Martin hatte eine grüne Färbung angenommen. Er schob die Hände in 113 die Hosentaschen und ballte sie, und die Nägel schnitten tief ins Fleisch. Sein Gehirn war wieder eine vernebelte Welt voller Gespenster. Was er hätte tun sollen, entwich ihm. Alles war leer, und dahinter klaffte ein Abgrund.

Was Doktor Grätz jetzt aber sagte, das schreckte ihn wieder auf: »Ich werde dafür sorgen, Martin, daß ein paar Frauen das Haus in Ordnung bringen. Den Schlüssel wird Frau Ruhnke aufbewahren. Und die wird sich auch um das Viehzeug und den Garten kümmern. Bleiben Sie wenigstens vier Wochen lang weg. Und schicken Sie mir zuerst einen Mittelsmann. Durch den gebe ich Ihnen Bescheid, was weiter zu geschehen hat.«

»Vorerst wegbleiben, das wollte ich ohnehin. Aber vielleicht könnten meine Schwiegereltern ins Haus ziehen mit den Kindern. Wenn Sie das noch veranlassen könnten. Heinrich Wernicke heißt mein Schwiegervater. In Zerpernick. Pensionierter Lehrer.«

»Den Lehrer Wernicke kenne ich. Mit dem Herziehen warten wir besser aber noch ein paar Wochen.«

»Was haben die armen Würmer von Kindern damit zu tun, daß man ihre Mutter kaltgemacht hat?«

»Ich glaube, daß ich Ihnen die Gründe nicht erst lange zu erklären brauche, weshalb es noch zu früh ist, die Kinder herkommen zu lassen. Sie sind vogelfrei!«

»Die Kinder?«

»Nein, Martin, die Kinder einstweilen noch nicht; aber Sie!«

»Ein Deutscher in seinem Vaterland vogelfrei . . . Mein Gott, daß man das nicht alles sofort begreift! Natürlich, ich bin jetzt vogelfrei, jedem ausgeliefert, der ein braunes Hemd anhat und am Gürtel eine Pistole hängen.«

»Darüber sollen Sie unterwegs und in den nächsten Tagen gründlich nachdenken.«

»Ist schon in Ordnung; erledigt!«

Er reichte Doktor Grätz die Hand: »Also dann vielen Dank, Herr Doktor . . . für alles!«

Sie standen Auge in Auge. Der Wachtmeister hustete. Auf der Chaussee sauste ein Panzerauto vorüber, auf die Rückwand war ein großes rotes Hakenkreuz gemalt und darunter ein Totenkopf. Der aufgewirbelte Staub verwischte für ein paar Sekunden die Spur.

»Betrachten Sie alles, was man jetzt auf der Stelle tun müßte, als nur aufgeschoben, Martin. Denken Sie dabei hier an den Baum, unter dem 114 wir jetzt stehen. Die Blätter kommen und gehen. Unsere Zeit, die vorzeitig abgeblättert ist, wird auch einmal wiederkommen.«

Mit einem jähen Ruck drehte Martin sich um, warf dem Wachtmeister noch einen kurzen Blick zu und ging durch die Gartenpforte quer über das Feld. Aus einem Sumpfloch schoß krächzend das Rabenzeug hoch, umkreiste Martin und flog eine Weile vor ihm her. 115

 


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